Aktuelles von Tristan Roth
In Zeiten von Krisen und Kriegen beginnt die Bourgeoisie mit dem Faschismus zu kokettieren – denn wenn die regulären Machtmittel des bürgerlichen Staats versagen, dient ihr der Faschismus als Instrument zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung. Universitäten können als Frühwarnsysteme für faschistische Tendenzen verstanden werden, da sich gesellschaftliche Entwicklungen und ideologische Strömungen oft frühzeitig im Bereich der Wissenschaft und Bildung manifestieren. In der Weimarer Republik waren sie Brutstätten nationalistischer und völkischer Ideologien. Der akademische Betrieb passte sich teils proaktiv, teils opportunistisch an den aufkommenden Faschismus an. In Tübingen übte man sich in vorauseilendem Gehorsam. 1933 rühmte die Eberhard-Karls-Universität sich dann damit, als erste Hochschule „judenfrei“ zu sein; fortan spielte sie eine führende Rolle bei den Bestrebungen, die Politik der Nazis „wissenschaftlich“ zu legitimieren. Die Universität war Ort der Ideologieproduktion und Teil der faschistischen Propagandamaschinerie.
Bereits 2023 sorgten Tübinger Wissenschaftler mit einem antikommunistischen Angriff auf Clara Zetkin für Schlagzeilen und Protest. Im April und Mai 2024 war mit „Unissued Diplomas“ an der Universität Tübingen eine Ausstellung zu sehen, die unter anderem einen Soldaten ehrte, der Mitglied in zwei faschistischen Kampfverbänden war – diese Ausstellung wurde auch an zahlreichen anderen deutschen Hochschulen sowie international präsentiert, ohne dass es irgendwo zu nennenswertem Protest oder gar kritischen Presseberichten gekommen wäre. Im Dezember 2024 präsentierte die Universität nun eine antikommunistische Plakatausstellung, der die marxistische Tageszeitung junge Welt (jW) „lupenreine Nazipropaganda“ attestiert. Wieder wurde ein faschistischer Soldat als „Held“ glorifiziert. Dies stellt den vorläufigen Höhepunkt einer mit schnellen Schritten fortschreitenden Ideologisierung des akademischen Betriebs dar. Das Beispiel Tübingen zeigt: Die Zeichen stehen nicht nur auf Krieg – auch der Faschismus soll wieder salonfähig gemacht werden.
Wissenschaft im Dienst der Herrschenden
Dass Wissenschaftler sich in den Dienst der Herrschenden stellen und imperialistische Kriege oder Kriegsvorbereitungen intellektuell verbrämen, ist beileibe nichts Neues. In ihrem Referat Zur Intellektuellenfrage (1924) sagte Clara Zetkin über den Ersten Weltkrieg: „Wenn es neben den Großbourgeois, neben den reformistischen Sozialverrätern Leute gibt, die von oben bis unten mit dem Blut des vierjährigen Mordens bedeckt sind, so sind es die Intellektuellen.“ Auch heute stellen sich die deutschen Hochschulen wieder reihenweise in den „Dienst der Außenpolitik“, in Köln etwa rechtfertigte die Universität ganz im Sinne der „deutschen Staatsräson“ die Massaker der IDF und erkannte der Philosophin Nancy Fraser eine Professur ab. Bundesweit finden Angriffe auf die sogenannten Zivilklauseln statt, in Bayern hat ein „Gesetz zur Förderung der Bundeswehr“ die Beschränkung der Forschung auf zivile Nutzungen nicht nur verboten – Universitäten sind dort nun sogar verpflichtet, mit dem Militär zusammenzuarbeiten.
Am 27. Februar 2022 verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz die „Zeitenwende“. Einen Tag später erklärte die Universität Tübingen ihre „Solidarität mit der Ukraine“. Im April ließ sie verlautbaren, man wolle dies auch „über die Grenzen der Universität hinaustragen und das Bewusstsein der lokalen Bevölkerung zu notwendigen Unterstützungsmaßnahmen für die Ukraine stärken“. Mit dem Osteuropa-Institut fand sich auch schnell das geeignete Instrument dafür. Dessen Direktor Klaus Gestwa wird seither nicht müde, für die Eskalation des Krieges mit Russland zu trommeln. Kritik an der deutschen Regierung, der NATO und dem Westen kommt in seiner Stahlgewitter-Rhetorik nur insofern vor, als dass er lamentiert, es würden zu wenig Waffen geliefert werden. Die „Zeitenwende“ müsse „nicht nur proklamiert“, sondern nun auch „konsequent umgesetzt“ werden, verkündete er im Februar 2023 im Rahmen eines YouTube-Videos der Universität Tübingen, die dieses als „Thesencheck“ zum Ukraine-Krieg verkaufte. In Wahrheit handelt es sich bei dem Video, das inzwischen auch die Bundeszentrale für politische Bildung auf ihre Website übernommen hat, um ein völlig einseitiges und damit unwissenschaftliches Stück NATO-Propaganda.
Die Universität Tübingen hat seit Dezember 2009 eine Zivilklausel: Lehre, Forschung und Studium sollen friedlichen Zwecken dienen, heißt es in der Präambel ihrer Grundordnung. Sie wurde dort nicht freiwillig eingefügt, sondern war ein Zugeständnis an studentische Proteste. Von Anfang an wurde die Klausel für ihre Schwammigkeit kritisiert; schon 2011 fand an der Hochschule wieder Forschung für die Bundeswehr statt.
Eklatante Doppelmoral
Das Anfang 2024 gegründete Tübinger Unikomitee für Palästina forderte in einem offenen Brief unter anderem, „dass sich die Universität konsequent für den Frieden und die Umsetzung der Zivilklausel“ einsetzen solle. Kritisiert wurden auch die Forschungskooperationen, die die Universität Tübingen mit israelischen Institutionen unterhält, die mit den israelischen Streitkräften und mit Rüstungsunternehmen zusammenarbeiten, „die in Völkermord und Kriegsverbrechen verwickelt“ seien. Die Universität positioniert sich zu dieser Kritik nicht öffentlich. Seit Oktober 2023 hat sie zum Thema nur ein einziges Statement veröffentlicht, in dem es heißt: „Die Universität Tübingen steht angesichts der furchtbaren Terrorattacken der Hamas-Bewegung fest an der Seite ihrer israelischen Partner.“ Über 80 Tübinger Universitätsangehörige, darunter Klaus Gestwa, haben einen offenen Brief unterzeichnet, in dem sie sich ausdrücklich solidarisch mit der genozidalen Kriegsführung Israels zeigen.
Auf Nachfrage schrieb die „Stabsstelle Hochschulkommunikation“, die PR-Abteilung der Universität, dazu: „Die Universität Tübingen macht ihre Kooperationen mit ausländischen Universitäten nicht davon abhängig, ob sich das jeweilige Land in einem bewaffneten Konflikt befindet“ – eine eklatante Doppelmoral, denn 2022 hieß es: „Die Universität Tübingen wird in Reaktion auf den Krieg gegen die Ukraine die Zusammenarbeit mit russischen Hochschulen und Forschungseinrichtungen bis auf Weiteres aussetzen.“
„Aufrüstung und Abschreckung“
Dreist fiel eine Antwort der „Stabsstelle Hochschulkommunikation“ auf die Frage aus, wie es denn mit der Zivilklausel konform gehen könne, dass Gestwa im Tübinger Audimax zu einer Politik der militärischen „Stärke“, zu „Aufrüstung und Abschreckung“ aufrief – so geschehen im Januar 2024 bei einer als „Podiumsdiskussion“ angekündigten Veranstaltung, bei der sich die beiden einzigen Teilnehmer Gestwa und Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) vollkommen einig waren. Die Universität antwortete, die Zivilklausel sehe vor, dass „Lehre, Forschung und Studium“ friedlichen Zwecken dienen sollen – das Event sei aber ja „weder Teil der universitären Lehre noch Teil eines Forschungsprojekts“ gewesen. Strack-Zimmermann, Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Bundestags, hatte die Gelegenheit genutzt, um „Taurus“-Raketen für die Ukraine zu fordern.
„Taurus jetzt, Taurus jetzt“, riefen auch die Teilnehmer einer Kundgebung auf dem Tübinger Marktplatz im Februar. Gestwa bedauerte dort, dass „selbstgefällige Friedensbewegte dem kriegslüsternen Kreml in die Karten spielen“ würden. Laut einem Bericht der Lokalpresse stellten sich zwei Ukrainerinnen – Schützlinge Gestwas – auf den Marktplatz und erklärten ernsthaft: „Stellen Sie sich vor, Sie leben in Deutschland unter Raketeneinschlägen, verabschieden ihre Männer und Söhne, die die Rote Armee stoppen sollen, fliehen dann westwärts. Alles unrealistisch? Das ist nur ein Land entfernt.“ Wohl eher 80 Jahre entfernt, möchte man anmerken, und fragt sich, was nach „Taurus jetzt“ als nächstes kommen wird – doch in Zeiten, in denen die Wochenzeitung Die Zeit exakt am 80. Jahrestag der „Wollt ihr den totalen Krieg?“-Rede von Joseph Goebbels ein Interview mit der Linksliberalen Eva Illouz über den Ukrainekrieg betitelte mit: „Ich wünsche mir einen totalen Sieg“, braucht einen gar nichts mehr zu wundern.
„Mut bewiesen“
Ebenfalls im Februar gab die Universität Tübingen ihr Vorhaben bekannt, Gestwa mit ihrem „Preis für Wissenschaftskommunikation“ zu ehren, der seit 2021 jährlich verliehen wird. Die Jury würdigte seinen „unermüdlichen Einsatz bei der politischen und historischen Einordung des Ukrainekonflikts“. Der Historiker habe „Mut bewiesen“ und sei „auch öffentlichem Streit und Anfeindungen nicht aus dem Weg gegangen“. Er habe „ein Millionenpublikum erreicht und so zur Meinungsbildung in Deutschland über den Krieg gegen die Ukraine maßgeblich beigetragen“.
Die Universität feiere sich selbst, verleihe „ihren eigenen Flaggschiffprojekten Preisgelder“, kritisierte die Informationsstelle Militarisierung (IMI), und organisierte eine Kundgebung am Tag der Preisverleihung, vor den Türen des Saals, in dem der Festakt stattfand. Dieser war ursprünglich als „öffentliche Feierstunde“ angekündigt worden. Als sich abzeichnete, dass es zu Protest kommen würde, wurde die Veranstaltung für die Öffentlichkeit geschlossen. Dass an den bewachten Türen des Festsaals Schilder mit der Aufschrift „Geschlossene Gesellschaft“ prangten, hielt Monique Scheer, „Prorektorin für Internationales und Diversität“ und Vorsitzende der Jury, die die Preisträger auswählt, nicht davon ab, in ihrer Begrüßungsansprache zu betonen, der „Brückenschlag in die breite Öffentlichkeit“ sei „die Grundlage“ der Preisverleihung.
„Antifaschistische“ Kriegspropaganda
Interessant ist auch die Rede, die der Preisträger selbst hielt. Darin zitierte er Hannah Arendt mit den Worten: „Eine totalitäre Ideologie siegt dann, wenn die Menschen nicht mehr zwischen Fiktion und Fakten, nicht mehr zwischen falsch und wahr unterscheiden können.“ Die Aufgabe von Wissenschaftlern bestehe darin, „diese Unterscheidbarkeit weiter zu gewährleisten“. Für sich selbst reklamierte er, „Kremlpropaganda nicht reproduziert, sondern dekonstruiert zu haben“. Das mag sein – das Problem aber ist seine völlige Einseitigkeit: Die westliche und ukrainische Kriegspropaganda „dekonstruiert“ er nicht, sondern macht sich im Gegenteil zu ihrem Sprachrohr.
In seiner Rede benutzte Gestwa auch einen beliebten Kniff, mit dem spätestens seit Joschka Fischer NATO-Kriege als „antifaschistisch“ verkauft werden: Er meinte, er habe immer gedacht, „sich für Antimilitarismus, Antiimperialismus und Antifaschismus einzusetzen hieße, auf der Seite der Überfallenen, Unterdrückten und Geschundenen zu stehen, und nicht durch eine Opfer-Täter-Umkehr noch irgendwie Verständnis für den Kriegsaggressor zu zeigen“. Er benutzt also Begriffe, die aus der linken Theorietradition stammen, um das Wiedererstarken des Militarismus ideologisch zu legitimieren und zu fördern – Chapeau! So kann man auch Linksliberale für die „Zeitenwende“ begeistern. Gut funktioniert hat in der Vergangenheit auch die Strategie, die militärischen Gegner des Westens zu neuen „Hitlern“ zu erklären. In seinem „Thesencheck“-Video erklärt Gestwa Russland immerhin zur „immer totalitärer werdenden Führerdiktatur“; Putin wolle „die gesamte Welt mit Angriffskriegen und herbeifantasierten imperialen Einflusszonen wieder in die dunkelsten Zeiten des 20. Jahrhunderts zurückbomben“.
Kommunismus als Ungeziefer
Hitler-Vergleiche gab es auch bei der Ausstellung „The Price of Freedom“, die im Dezember 2024 in der Tübinger Universitätsbibliothek zu sehen war: Auf den Plakaten, erstellt von ukrainischen Grafikdesign-Studenten, war etwa „Putler“ zu lesen, oder: „1939=2022“. Die problematischen Inhalte der Ausstellung gingen aber noch weit über die Verharmlosung des Hitler-Faschismus hinaus: Auf den Plakaten waren Symbole des ukrainischen Bandera-Faschismus in affirmativer, gar verherrlichender Art und Weise abgebildet; ein Soldat des rechtsradikalen „Rechten Sektors“ wurde explizit als „Held“ geehrt. Auch mehrere Plakate mit dezidiert antikommunistischen Botschaften wurden gezeigt. Für besondere Aufmerksamkeit sorgte die Abbildung einer Kakerlake mit Hammer und Sichel auf dem Rumpf. Schaben seien anpassungsfähig, nahezu „unmöglich auszurotten“ – wie der Sozialismus, erklärten die Organisatoren gegenüber der jW. „Wie Kakerlaken“ habe die Sowjetunion „Schmutz und Krankheiten“ verbreitet, meint die Künstlerin, die das Plakat entworfen hat.
Ganz ohne Kritik fand die Ausstellung nicht statt; eine linke Hochschulgruppe führte eine Flugblatt-Aktion durch, zwei Plakate wurden abgerissen. Dass die traditionell als linksliberal geltende Tübinger Lokalzeitung Schwäbisches Tagblatt die problematischen Inhalte der Plakatschau verschleierte und herunterspielte, ist wenig überraschend: In den letzten Jahren war es vor allem die linksliberale Regierung von SPD, Grünen und FDP, die die reaktionären Entwicklungen vorantrieb und auch Narrative ukrainischer Neonazis und Nationalisten offiziell übernahm. Immerhin: Aufgrund der Kritik wurde die Ausstellung vorzeitig beendet, die Universität lud zu einer „Diskussionsrunde“ ein. Die vorgebliche Diskussionsbereitschaft entpuppte sich allerdings als ideologische Offensive in Form eines Vortrags von Klaus Gestwa über „Kommunismus als imperiale Unterdrückungsideologie“. Auch hierbei handelt es sich um ein rechtes Narrativ, das von Lobby-Organisationen wie dem von ukrainischen Faschisten gegründeten „Antiimperialistischen Block der Nationen“ verbreitet wird, der Neugründung des „Antibolschewistischen Blocks der Nationen“.
Kritik an der Ausstellung wird von der Universität Tübingen zurückgewiesen. Den Verantwortlichen fiel nichts Besseres ein, als zu behaupten, es handle sich dabei um „Fake News“ und „russische Propaganda“. Blöd nur, dass sie sich dabei mit ihren ukrainischen Partnern nicht abgesprochen zu haben scheinen: Andrij Budnyk, Professor für Grafikdesign an der Nationalen Universität für Kultur und Kunst in Kiew und Kurator der Ausstellung, gab einem ukrainischen Sender kürzlich ein Interview – zusammen mit der Künstlerin, die das Plakat „Kakerlake“ entworfen hat. Die beiden nehmen kein Blatt vor den Mund: Der ukrainische Faschist und Hitler-Kollaborateur Stepan Bandera sowie der Kämpfer vom „Rechten Sektor“, der auf einem der Plakate geehrt wird, seien „nationale Helden“, auf die man stolz sein müsse. Der jW-Journalist, der diese „Helden“ als das bezeichnet hat, was sie nun einmal sind – Faschisten –, sei hingegen ein „Idiot“, eine „kommunistische Kakerlake“. Auf der Facebook-Seite der Projektkoordinatorin der Ausstellung wurde dazu aufgerufen, diesen „russischen Schädling“ zu „durchsieben“. Auch davon distanziert sich die Universität Tübingen bislang nicht.