Stellungnahme der Zentralen Leitung der KO vom 29. Mai 2023
Vor genau 30 Jahren wurden bei einem faschistischen Brandanschlag in Solingen fünf türkeistämmige Bewohnerinnen eines Hauses getötet, 17 weitere Menschen erlitten zum Teil lebensgefährliche und bleibende Verletzungen. Der Mordanschlag von Solingen steht in einer Reihe von rassistischen und faschistischen Pogromen infolge der Konterrevolution und zeigt die Kontinuität des Rassismus in der westdeutschen Gesellschaft und dem Staatsapparat. Der Rassismus war ein notwendiger Spaltungs- und Unterdrückungsmechanismus, mit dem die koloniale Ausbeutung und Unterdrückung gerechtfertigt und aufrechterhalten wurde. Nur eine klassenlose Gesellschaft kann derartige menschenfeindliche Ideologien endgültig beseitigen.
In der Nacht auf den 29. Mai 1993, brannte das Mehrfamilienwohnhaus der türkeistämmigen Familie Genç in der Unteren Wernerstraße 81 der bergischen Stadt Solingen. Der Brand forderte die Leben von Gürsün İnce (*4. Oktober 1965), Hatice Genç (*20. November 1974), Gülüstan Öztürk (*14. April 1981), Hülya Genç (*12. Februar 1984) und Saime Genç (*12. August 1988). Schnell war klar: es handelte sich um Brandstiftung durch deutsche Faschisten. Bereits wenige Tage nach der Tat wurden die vier damals 16- bis 23-jährigen Täter aus Solinger Neonazi-Strukturen festgenommen. Der Grund für ihre Taten: Rassismus. Nachdem die Täter laut eigener Aussage wegen zu starker Trunkenheit und Streit mit anderen anwesenden Gästen, welche die Täter für Türken hielten, von einem Polterabend geworfen wurden, sannen sie auf Rache, zogen zum Haus der Familie Genç und setzten dieses in Brand. Die Täter wurden wegen Mordes zu 15- bzw. 10-jährigen Haftstrafen verurteilt und sind heute wieder auf freiem Fuß – zwei von ihnen wurden bereits vorzeitig wegen vermeintlich „guter Führung“ vorzeitig entlassen.
Der Brandanschlag von Solingen führte zu teils entsetzten, teils abwehrenden Reaktionen in der Öffentlichkeit. Die Solinger Stadtpolitik bestritt zunächst, dass es sich um Solinger Täter gehandelt haben könne, Solingen sei schließlich eine „liberale, weltoffene Stadt“ und es müsse erst geklärt werden, „ob diese Täter überhaupt Solinger sind“. Dabei kam der Solinger Anschlag nicht von ungefähr – er reihte sich ein und war der traurige Höhepunkt einer ganzen Reihe von Anschlägen und Pogromen. Ebenso wie die Pogrome in Hoyerswerda und Rostock oder der Anschlag von Mölln fand auch der Brandanschlag von Solingen seinen Nährboden in der rassistischen Stimmung in Teilen der Öffentlichkeit und Presse, welche die Täter – bei allen größeren Aktionen waren westdeutsche Neonazis federführend beteiligt – ermutigte, selbst Hand anzulegen. Nach der Niederlage des Sozialismus in der Konterrevolution 1989-1991 kam es zu verschiedenen größeren Einreisewellen in die BRD – die sogenannten Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion, Wirtschaftsmigrantinnen und -migranten aus Südosteuropa und Flüchtlinge vor den auch durch Deutschland verantworteten Jugoslawienkriegen. Die Springer- und Boulevardpresse begann bereits 1991 mit der Hetze gegen die Eingewanderten, die „seriöse“ bürgerliche Presse sekundierte mit Bedenken über vermeintliche und tatsächliche Probleme und die Politik nahm diese Stimmung und den angeblichen Druck von der Straße zum Anlass, im sogenannten „Asylkompromiss“ das Grundrecht auf Asyl wenige Tage vor dem Solinger Anschlag weitestgehend abzuschaffen. Doch der in weiten Teilen des Staatsapparats und der Bevölkerung vorhandene Rassismus ist keineswegs verschwunden, sondern weiterhin Alltag. Sinnbildlich hierfür stehen die ständigen Diskussionen und weiteren Verschärfungen des Asylrechts oder auch die ständigen rassistischen Übergriffe – auch durch Staatsdiener, wie z.B. der Mord von Polizisten an Mouhamed Dramé in Dortmund.
Hierbei zeigt sich eine ideologische Kontinuität in der BRD nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese ist insofern nicht verwunderlich, da zahlreiche Altnazis und Faschisten am Aufbau des Staates beteiligt waren und in seinen Behörden und Ämtern sowie teilweise in der Regierung Positionen bezogen. Bekanntestes Beispiel hierfür ist sicherlich der Aufbau des Auslandsgeheimdienstes „Bundesnachrichtendienst (BND)“ aus der Organisation Gehlen. Diese wurde 1946 um den ehemaligen Generalmajor der Wehrmacht, Reinhard Gehlen, als gegen die Sowjetunion gerichteter Geheimdienst aufgebaut. Neben Gehlen stützte sich die Organisation auf die geballte Erfahrung von Angehörigen des ehemaligen faschistischen Militärgeheimdienstes Abteilung Fremde Heere Ost der Reichswehr/Wehrmacht. Andere Faschisten konnten der neuen Herrschaftsform Demokratie weniger abgewinnen und engagierten sich in neuen faschistischen Parteien, wie der Sozialistischen Reichspartei (1952 verboten) oder später der noch heute bestehenden Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (die 1969 4,3% der Zweitstimmen bei der Bundestagswahl errang), die oberflächlich in Opposition zum bürgerlichen System stehen.
Dabei erwächst die ideologische Kontinuität des Rassismus und Faschismus nicht im luftleeren Raum. Beide haben ihre materielle Basis in der kapitalistischen Produktionsweise. Neben dem unvereinbaren Gegensatz von Kapitalisten- und Arbeiterklasse entstehen im Kapitalismus weitere Spaltungslinien. So sortieren die Staaten als ideelle Gesamtkapitalisten die Menschen in den Kategorien Staatsvolk, „erwünschte“ und „unerwünschte“ Ausländerinnen und Ausländer, um „ihrem“ Kapital durch möglichst billige und ausreichende Arbeitskräfte die bestmöglichen Verwertungsbedingungen zu garantieren. Beispielhaft sei hier der Kontrast zwischen den wenigen Jahrzehnten vor dem Asylkompromiss geschlossenen Anwerbeverträgen der BRD mit südeuropäischen Staaten und dem ehemaligen Jugoslawien genannt. Die zur Ausweitung der kapitalistischen Nachkriegsproduktion dringend benötigten „Gastarbeiter“ wurden damals zu erwünschten Ausländerinnen und Ausländern erklärt, wohingegen an den Eingewanderten aus z.T. denselben Regionen jedoch nach dem Anschluss der DDR und ihrem Arbeitskräftepotenzial kein Bedarf bestand und sie mittels des Asylkompromisses zu „unerwünschten“ Ausländerinnen und Ausländern erklärt wurden. Flankiert wird diese Praxis z.B. mit der systematischen Entwertung ausländischer Bildungsabschlüsse, so dass Kolleginnen und Kollegen mit ausländischen Wurzeln überproportional häufig in unteren Lohngruppen bzw. generell schlecht bezahlten Stellen zu finden sind – es ist eine altbekannte Praxis des Kapitals, die gesellschaftlich schwächsten Gruppen auch ökonomisch schlechter zu stellen als den Schnitt der Klasse. Zudem entwickelte sich bereits in der Frühzeit der Arbeiterbewegung aus den Spitzen und Funktionären der reformistischen Gewerkschaften und Parteien eine Arbeiteraristokratie heraus, welche ideologisch und materiell mit der Bourgeoisie verflochten ist. Diese vertreten die Politik der Sozialpartnerschaft, die grundsätzlich ihren Frieden mit der kapitalistischen Produktionsweise geschlossen hat und eine Stärkung der Arbeiterklasse nur in dem Rahmen fordert, als dass diese auch zur Stärkung des „Wirtschaftsstandorts“ BRD beiträgt. Somit betreibt die Arbeiteraristokratie denselben Nationalismus wie die Bourgeoisie und trägt damit ebenfalls zur Spaltung der internationalen Arbeiterklasse bei.
Diese Spaltung ist dabei auch gewollt, um eine allgemeine und globale Vereinigung der Arbeiterklasse zu verhindern. Diese wäre eine ernstzunehmende Gefahr für den Kapitalismus und somit sind Spaltungs- und Unterdrückungsmechanismen wie der Rassismus konstitutiv für den Fortbestand des imperialistischen Kapitalismus. Das Objekt des Rassismus ist jedoch nicht statisch, sondern wandelt sich in Abhängigkeit der politischen Konjunktur. Richtete sich der gesellschaftliche Rassismus in 1920er-/1930er-Jahren z.B. eher gegen polnische Arbeitsmigrantinnen und -migranten oder Jüdinnen und Juden, waren in den 1970er-Jahren und danach häufiger türkeistämmige Kolleginnen und Kollegen und sind in jüngster Zeit zusätzlich noch arabische und vor allem palästinensische Arbeiterinnen und Arbeiter von Rassismus betroffen. Vor dem Hintergrund des imperialistischen Kriegs in der Ukraine ist zudem eine starke Zunahme des antislawischen Rassismus zu beobachten, vor dem Hintergrund der sich anbahnenden Konfrontation zwischen den westlichen Staaten und China ist von einer Zunahme des antichinesischen Rassismus auszugehen.
Aufgrund der materiellen Grundlagen und seiner Verbindung zur internationalen politischen Konjunktur lässt sich Rassismus nicht, wie in aktuellen Debatten häufig gefordert, „dekonstruieren“ oder ausschließlich durch mehr Bildung bekämpfen. Um eine Welt ohne Rassismus aufzubauen, ist die Veränderung der gesellschaftlichen Grundlagen notwendig, um das rassistische Bewusstsein zu überwinden. Statt die Völker gegeneinander aufzuhetzen, braucht es eine Gesellschaftsordnung, für die Rassismus ausschließlich ein Hindernis der Produktivkraftentwicklung und des friedlichen Zusammenlebens darstellt und keine für das Kapital dienliche Erscheinung mehr ist.