Analyse und Einschätzung von Emil Bunke
„Massiver Gewinneinbruch bei Volkswagen“ titelt das deutsche Leitmedium Tagesschau am 30. Oktober 2024, und weiter: „Der kriselnde Volkswagen-Konzern hat im dritten Quartal einen herben Gewinneinbruch erlitten. Weniger Fahrzeugverkäufe sowie der angestoßene Kapazitäts- und Stellenabbau im Konzern sorgten für eine Milliardenbelastung. Die Werte fielen schwächer aus als von Analysten ohnehin befürchtet. Der Konzerngewinn sackte nach Steuern um 64 Prozent auf 1,58 Milliarden Euro ab – unter anderem, weil es für VW auch im wichtigen Markt China schlecht läuft.“1
Damit stellt sich die ARD hinter die Erzählung des Konzerns selbst und liefert so die Rechtfertigung für die massiven Angriffe des weltweit größten Automobilherstellers gegen seine Beschäftigten. Ein nüchterner Blick auf die Kennzahlen von Volkswagen in den letzten zehn Jahren zeigt, dass massive Gewinne gemacht und an die Aktionäre ausgeschüttet worden und Volkswagen sich jetzt – berechtigt und durch das Management selbst verursacht – um die Vorherrschaft auf dem Automobilmarkt sorgt. Von massiven Gewinneinbrüchen oder eine Krise des Konzerns kann jedoch noch nicht gesprochen werden. Vielmehr von einem Angriff auf die Beschäftigten, um den Konzernbossen weitere Milliarden in den kommenden Jahren zu ermöglichen. Das Kräfteverhältnis unter den weltweit agierenden Monopolen verschiebt sich zu Ungunsten der deutschen Konzerne. Auch wenn VW dieses Jahr noch Rekorddividenden an Aktionäre und Spitzengehälter an ihre Manager zahlt und schwarze Zahlen schreibt, ist der Gewinn dennoch im Vergleich zum Vorjahr gesunken und die Prognosen sehen nicht gut aus. Es handelt sich also vermutlich um eine anbahnende Krise bei VW und dem deutschen Kapital insgesamt, um diese zu verhindern, will Volkswagen bei den Löhnen und nicht bei den Dividenden oder Managergehältern kürzen. Es geht also um einen klassischen Verteilungskampf, der sich durch die internationale Lage deutlich zugespitzt hat und auch weiter zuspitzen wird. Ob die IG Metall hiermit richtig umgeht und was der Angriff für klassenkämpferische Gewerkschaftsmitglieder bedeuten sollte, lest ihr im Fazit.
Entwicklung der wirtschaftlichen Lage bei Volkswagen in den letzten Jahren
Die Jahre 2022 und 2023 waren für Volkswagen Rekordjahre und das bekamen auch die Aktionäre zu spüren, indem der Konzern Rekorddividenden im Milliardenbereich an sie ausschüttete. Auch die VW-Manager machen sich die Taschen ordentlich voll. Oliver Blume (VW-Chef) führt die Liste der am besten bezahlten DAX-Manager an, 10,3 Millionen Euro hat er sich allein dieses Jahr in die eigene Tasche gesteckt.2 Die Gewinnrücklagen, die mittlerweile knapp 150 Mrd. Euro betragen, musste Volkswagen dafür nicht einmal antasten. Der im Jahr 2023 abgeschöpfte Mehrwert hat hierfür ausgereicht.3 Die aktuell 684.000 von VW ausgebeuteten Beschäftigten – die die Milliarden erarbeitet haben – hatten von den beiden Rekordjahren allerdings herzlich wenig. Für die 170.000 tarifvertraglich abgesicherten Beschäftigten und die an den Flächentarifvertrag angelehnten Beschäftigten in Deutschland lässt sich dies beziffern: Ihr Reallohn sank aufgrund schlechter Tarifabschlüsse leicht und das, obwohl sie deutlich bessergestellt sind als ihre 500.000 Kolleginnen und Kollegen ohne Tarifvertrag im In- und Ausland. Im Januar 2022 bekamen die Tarifbeschäftigten 2,3 Prozent mehr Entgelt, während die Preise dank Inflation 7,8 Prozent nach oben gingen. Im Juni 2023 folgen 5,2 Prozent Entgeltsteigerungen, während die Preise abermals um 5,9 Prozent gestiegen waren. Die 3.000 Euro Inflationsausgleichsprämie waren auch schnell für gestiegene Sprit-, Heiz- und Lebensmittelkosten ausgegeben.
Auch noch im Juni dieses Jahres schüttete der Konzern 4,5 Mrd. Euro an seine Aktionäre aus. Die Tarifbeschäftigten in Deutschland bekamen ab Mai 3,3 Prozent mehr Entgelt. Erstmals lag die gewerkschaftlich durchgesetzte Entgelterhöhung leicht über der durch bürgerliche Institute errechneten Inflationsrate von 2,8 Prozent4. Da die Inflationsrate nur bedingt aussagekräftig ist und das Statistische Bundesamt als staatliche Institution ein Interesse daran hat, die ausgeschriebene Inflationsrate gering zu halten, ist davon auszugehen, dass die Kaufkraft der bei VW-Arbeitenden dennoch gesunken ist.
Um die Inflationsrate zu berechnen, werden die Preisentwicklungen vom Statistischen Bundesamt – einer staatlichen Behörde – in einem fiktiven Warenkorb betrachtet.5 Aktuell umfasst er rund 700 Produkte und Dienstleistungen. Wie diese gewichtet werden ist allerdings kritikwürdig. Bei der jüngsten Neugewichtung im Januar 2023 wurden die Ausgaben für Wohnung, Wasser, Strom und Brennstoffe zum Beispiel nach unten gewichtet, obwohl die Preise genau in diesen Bereichen deutlich gestiegen und sie bedeutender Teil der Grundversorgung sind. Dies führte dazu, dass die Inflationsrate im gesamten Jahr 2022 durchschnittlich nur noch 6,9 Prozent und nicht mehr 7,9 Prozent betrug. Auch andere Gewichtungen im Warenkorb sind zweifelhaft. Wohnen wird mit 25,9 Prozent der Verbraucherausgaben gewichtet. Real geben Mietende allerdings im Schnitt 36 Prozent ihrer Konsumausgaben aus, um ein warmes Zuhause zu haben. Die Zahl wird durch Wohnungseigentümer stark verfälscht, da sie zwar auch Wohnausgaben haben (z.B. das Hausgeld), aber diese deutlich niedriger sind als die Miete. Deshalb zieht das den Schnitt nach unten, aber für Leute ohne Wohneigentum – also den Großteil der arbeitenden Klasse – macht Miete eben einen größeren Prozentsatz ihres Einkommens aus. Bei der Einzelbetrachtung von Preissteigerungen bestimmter lebensnotwendiger Produkte wird ersichtlich, wie die Kaufkraft der arbeitenden Klasse in Deutschland in den letzten Jahren sank. Im Juli 2024 waren Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke beispielsweise im Schnitt mehr als 32 Prozent teurer als vor vier Jahren.
In diesem Jahr stagnierte der Umsatz und der Profit wird mit ca. 18 Mrd. Euro ungefähr auf das Niveau von 2021 zurückgehen, damit aber immer noch deutlich über dem der Jahre vor Corona liegen. Schaut man sich die Zahlen der letzten zehn Jahre an, ist dies auch nichts Untypisches. Der Trend geht klar bergauf, aber die einzelnen Jahre oder gar Quartale im Vergleich sind Schwankungen unterworfen.
Zeitenwende: Taktikwechsel des Kapitals von Sozialpartnerschaft zum Frontalangriff
Dass Europas größter Automobilhersteller in den kommenden Jahren massiv Personalkosten sparen will, kündigte er bereits Mitte dieses Jahres an und konkretisierte dies im letzten Monat mit mehr Details. Drei der zehn deutschen Werke sollen geschlossen, Zehntausende der aktuell 170.000 in den deutschen Stammwerken Festangestellten entlassen und bei dem Rest 10 Prozent Lohn gekürzt werden. In den kommenden beiden Jahren sollen die Löhne nicht mehr erhöht werden, was den Reallohn weiter senken würde. Die erste Ankündigung des radikalen Sparprogramms verlautbarte VW am 10. September 2024 – zeitgleich mit der Veröffentlichung der Tarifforderungen der IG Metall in der Metall- und Elektrorunde. Der Konzern hat unter anderem den seit 1994 geltenden Beschäftigungssicherungsvertrag gekündigt, der betriebsbedingte Kündigungen bis 2029 ausgeschlossen hat. Nach der Kündigung tritt eine Nachwirkung in Kraft, die bis zum 30. Juni 2025 gilt. Danach sind betriebsbedingte Kündigungen möglich. Dies muss als Frontalangriff des Kapitals nicht nur gegen die VW-Beschäftigten, sondern gegen die gesamte Branche und die DGB-Gewerkschaften generell gewertet werden. Volkswagen zeigt, dass Beschäftigungssicherungs-Tarifverträge das Papier nicht wert sind, auf dem sie stehen. Volkswagen reißt sich gerade selbst die sozialpartnerschaftliche Maske vom Gesicht und zeigt, dass ihr Wort am Verhandlungstisch nichts wert ist, wenn sie später Gewinne durch das Brechen ihres Wortes und der dazugehörigen Tarifverträge wittern. Wieso bricht Volkswagen die – bis dahin für das Unternehmen gut funktionierende – „Sozialpartnerschaft“ mit der IG Metall?
Die Tarifverträge bei Volkswagen galten als Vorzeigewerke der „Sozialpartnerschaft“. Volkswagen ließ die IG Metall ihre Organisationsgrade in den Werken über 90 Prozent ausbauen, gewerkschaftliche Vertrauensleute ihre Arbeit in der Arbeitszeit machen und bezahlte viele der Beschäftigten abgesichert durch einen Haustarifvertrag über den vergleichbaren Flächentarifverträgen. Gleichzeitig sorgte die IG Metall dafür, dass es zu keinen größeren Arbeitsniederlegungen in den VW-Werken kam und ließ zu, dass durch Leiharbeit und Werkverträge eine prekäre zweite und dritte Belegschaftsebene mit deutlich schlechteren Arbeitsbedingungen eingeführt wurde und VW so reibungslos Profit generieren und die Belegschaft spalten konnte.
Dass das Kürzungsprogramm ausgerechnet zeitgleich mit Beginn der Tarifrunde der wichtigsten Branche der Industriegewerkschaft verkündet wurde, dürfte wie bereits erwähnt kein Zufall gewesen sein. Diese Ankündigung schwächte die komplette Tarifrunde, da sie Angst schürte. Viele Gewerkschaftsmitglieder beteiligten sich aus dieser Angst heraus nicht oder nur zögerlich an den Warnstreiks und auch der IG Metall Vorstand setzte alles daran, schnell zu einem Ergebnis zu kommen. Das gerade in allen Bezirken angenommene Tarifergebnis (5,1 Prozent Entgeltsteigerung für die kommenden 25 Monate) lag weit von den geforderten sieben Prozent für 12 Monate entfernt. Wenn selbst der weltweit mächtigste Automobilriese, mit milliardenschweren Gewinnen und hohen Organisationsgraden statt sieben Prozent Entgeltsteigerungen die Löhne um ein Zehntel kürzen und gleichzeitig massiv Beschäftigte entlassen will, dann ist es die Aufgabe der Gewerkschaft aus der daraus resultierenden Angst bei den Beschäftigten Wut zu entwickeln, um den Abwehrkampf in einen Gegenangriff zu wandeln. Gelingt ihnen das nicht, werden andere deutsche Automobilkonzerne nachziehen können und müssen. Das wird eine Abwärtsspirale auslösen, da auch Zuliefererbetriebe, Logistiker uswusf. bei den Lohnkosten sparen werden.
Elektromobilität: Wie der Taktikwechsel von VW die Vorherrschaft auf dem Markt sichern soll
Volkswagen ist seit Jahrzehnten unter den Top 3 der absatzstärksten Automobilherstellern weltweit. Seit ungefähr zehn Jahren wechselt sich die zugehörige Aktiengesellschaft mit dem japanischen Hersteller Toyota auf Platz 1 ab. Beide verkaufen seitdem unter verschiedenen Markennamen jeweils ca. 10 Millionen der jährlich weltweit rund 90 Millionen abgesetzten Autos. Doch seit 2020 holt der chinesische Automobilriese BYD rasant auf. Während er 2020 noch knapp 500.000 Autos verkaufen konnte, werden es in diesem Jahr bereits 4 Millionen sein. Auch Tesla hat mit ähnlichen Zahlen wie BYD 2020 gestartet und liegt dieses Jahr voraussichtlich bei 2,3 Millionen verkauften Autos. Der chinesische Markt ist dabei der bedeutendste Markt: Rund jedes vierte Auto aller weltweit produzierten Autos wird in China abgesetzt. Gleichzeitig nimmt der Anteil der verkauften Elektroautos in China in den letzten Jahren massiv zu. Während er 2020 noch bei gut 5 Prozent lag, wird heute jeder dritte Neuwagen in China durch einen Elektromotor angetrieben, was u.a. an der hohen Bevölkerungsdichte in den Städten und der sowieso schon schlechten Luft liegt, aber auch einfach daran, dass E-Autos eine geringere Fertigungstiefe haben und deshalb kostengünstiger hergestellt und verkauft werden können. Dass hierdurch ein riesengroßer Markt entstehen wird, war lange klar, das Management hat es einfach verschlafen, konkurrenzfähige E-Autos zu entwickeln. Auch bei der Digitalisierung der Autos und der Entwicklung von immer autonomer fahrenden Autos liegt VW hinten. Und diesen Fehler des Kapitals innerhalb der kapitalistischen Konkurrenz sollen nun die Beschäftigten ausbaden, während sich die Verantwortlichen weiterhin Millionengehälter zahlen.
Volkswagen schafft es bisher nicht, auf dem Elektroautomarkt mit den dort großen Playern mitzuziehen. Das meistverkaufte Auto auf dem chinesischen Markt ist aktuell der Tesla Modell Y, gefolgt von vier chinesischen E-Auto-Modellen. Erst auf Platz 8 kommt ein Volkswagen, der ausschließlich für den chinesischen Markt entwickelt und auch vor Ort produziert wird – der VW Lavida (als reiner Verbrenner und hybrid erhältlich). 2020 waren noch drei der beliebtesten sechs Neuwagen Verbrenner aus dem Hause Volkswagen.
Volkswagen hat zu spät und zu wenig in die Entwicklung von Elektroautos investiert und dabei unterschätzt, wie hoch die Profitraten in dem Sektor im Vergleich zur Herstellung vom Verbrennungsmotor sind. Elektromotoren bestehen aus ungefähr 200 Teilen, Verbrennungsmotoren aus 1.000 bis 2.000 Teilen. Erstere sind also deutlich weniger komplex, und um sie zusammenzuschrauben werden weniger Fachkräfte benötigt. Der Anteil am konstanten Kapital (Fabrikhallen, Maschinen, Rohstoffe) ist im Vergleich zum variablen Kapital (Personalkosten) in der Automobilindustrie unglaublich hoch. Da das konstante Kapital aber nur Werte überträgt, aber keine neuen Werte schaffen kann – hierzu ist nur die menschliche Arbeitskraft fähig, sinkt die durchschnittliche Profitrate des Kapitals (Profitrate = Profit /eingesetztes Kapital *100) durch immer weiteren Anstieg des konstanten Kapitals. Am Anstieg des konstanten Kapitals durch immer komplexere Maschinen ist aber für die Kapitalisten kaum etwas zu ändern. Machen sie den technischen Fortschritt nicht mit, gehen sie im Konkurrenzkampf gnadenlos unter. Sie können also nur am variablen Kapital – also an den Lohnkosten – drehen. Sie versuchen als den sinkenden Profitraten durch Lohnkürzungen entgegenzuwirken. Wie hoch Profit und konstantes Kapital von VW wirklich sind, wissen wir nicht. An den bürgerlichen Zahlen lässt sich aber ablesen, wie der Anteil des operativen Gewinns an den gesamten Einnahmen, dem Umsatz ist. Die so genannte Umsatzrendite ist für die Kapitalisten eine wichtige Kenngröße, um zu sehen, ob sie im Vergleich zu anderen Kapitalisten profitabel wirtschaften oder nicht.6
Dabei ist allerdings anzumerken, dass der operative Gewinn und der Umsatz bürgerliche Kennzahlen sind. Volkswagen: 22,5 Mrd. Euro Gewinn / 322 Mrd. Euro Umsatz *100 = 6,99%
- Tesla7: 13,8 Mrd. Euro Gewinn / 89 Mrd. Euro Umsatz *100 = 15,5%
- Toyota8: 16,7 Mrd. Euro Gewinn / 143 Mrd. Euro Umsatz * 100 = 11,68%
An saubere Daten des chinesischen Automobilmonopols BYD kommt manschwer heran, aber auch seine Umsatzrendite scheint aktuell nicht sonderlich gut zu sein. Allerdings geht es BYD aktuell auch eher darum Marktanteile zu gewinnen – mit Erfolg. Hierzu fließen auch viele staatliche Gelder. Erst im zweiten Schritt wird geschaut, wie die Umsatzrendite gesteigert werden kann. BYD9: 4 Mrd. Euro Gewinn / 79 Mrd. Euro Umsatz *100 = 5,0%
Volkswagen hat es über Jahrzehnte geschafft den Weltmarkt zu dominieren und dadurch seine Autos leicht über Wert zu verkaufen und somit Extraprofite abzuschöpfen. Bei der Entwicklung von E-Autos und vor allem der Batterietechnik, aber auch der Entwicklung vom autonomen Fahren und generell der Digitalisierung der Autos haben die VW-Manager aber den Anschluss verpasst. Aktuell holen neue Player wie Tesla und BYD rasant auf und auch Toyota erzielt bessere Werte als Volkswagen und hält sich bereits seit ein paar Jahren vor VW auf Platz 1 der meistverkauften Autos weltweit. Von den Extraprofiten konnte Volkswagen sich in Deutschland einen relativ großen Anteil gut bezahlter Fachkräfte leisten. In den aufstrebenden Automobilkonzernen ist dieser Anteil deutlich geringer. Gerade Tesla ist durch seine miserablen Arbeitsbedingungen – und dafür, dass sie hauptsächlich Ungelernte beschäftigten – bekannt. Möglich ist dies, da immer mehr Arbeit von Maschinen gemacht wird und die Arbeitsteilung so stark fortgeschritten ist, dass in der Automobilindustrie in wenigen Sekunden immer wieder die gleichen simplen Handschritte an einem Fließband gemacht werden und komplexere Arbeitsschritte kaum noch nötig sind. Hierfür braucht man keine dreijährigen Ausbildungsberufe mehr. Der Mensch ist buchstäblich Anhängsel der Maschine. Diese monotone und körperlich einseitig belastende Arbeit macht die Arbeitenden schnell physisch und psychisch kaputt. Bei einer Umfrage aus dem Herbst dieses Jahres unter den Tesla-Beschäftigten in der Gigafactory Grünheide (Brandenburg) klagten 92 Prozent der dort Arbeitenden über körperliche Beschwerden (Kopf, Nacken-, Rücken- oder Gelenkschmerzen) (https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/ig-metall-umfrage-deutsche-tesla-belegschaft-beklagt-schmerzen-und-ueberlastung/100085103.html). Aber ungelernte Arbeitskräfte gibt es mittlerweile in allen großen Metropolen wie Sand am Meer. Deshalb ist es deutlich profitabler die Menschen immer wieder auszutauschen als gut bezahlte Fachkräfte mit besseren Arbeitsbedingungen über Jahrzehnte zu beschäftigen – so wie es Volkswagen getan hat.
Hinzu kommt, dass der deutsche Markt im Vergleich zu dem asiatischen oder auch brasilianischen Markt immer unbedeutender wird. In Asien und Lateinamerika gibt es billigere Arbeitskräfte und gleichzeitig einen stark wachsenden Absatzmarkt. Volkswagen wird also Werke in Deutschland schließen, um bspw. billiger in Asien für den asiatischen Markt selbst zu produzieren. In China hat der Konzern umfangreiche Pläne für Werkserweiterungen der 33 existierenden Werke und den Bau neuer Fabriken und Forschungs- und Entwicklungszentren – zur Erinnerung: in Deutschland sollen aktuell 3 der 10 Werke geschlossen werden! VW verfolgt eine Strategie, die darauf abzielt, die Produktionsmenge von Elektrofahrzeugen zu steigern, die Markteinführungszeit neuer Modelle zu verkürzen und die Kosten zu senken, um so BYD und Tesla nicht weiter aufholen zu lassen und im Idealfall Toyota wieder von Platz 1 verdrängen zu können. Die Anfang dieses Jahres verkündete „In China, für China“-Strategie mit erheblich höherer Wertschöpfung in China zielt auf stärkere lokale Markt- und Kundenorientierung ab. Deutlich gesteigerte eigene Entwicklungs- und Software-Kapazitäten und lokale Partnerschaften sind die Basis neuer Produkte mit modernsten Technologien. Ein wichtiger Bestandteil dieser Strategie ist die China Main Platform (CMP), die bis 2026 eine 40-prozentige Kostenreduzierung erreichen soll. Ein Beispiel dafür ist das neue Entwicklungs-, Innovations- und Beschaffungszentrum in Hefei, das rund 1 Milliarde Euro kosten wird.10
Kurzum: VW will bei der Jagd nach (Extra-)Profiten auf dem chinesischen Markt durch E-Autos aufholen und das wird nur funktionieren, wenn der Konzern massiv restrukturiert und zu billigeren Lohnkosten mehr und billigere E-Autos direkt in Asien herstellt. Und hier zeigen Tesla und BYD wie das gehen könnte: Beide produzieren ohne Tarifverträge und mit deutlich weniger Fachkräften. Die Angriffe auf die Beschäftigten in Deutschland haben also wenig mit der angeblich schlechten wirtschaftlichen Lage von Volkswagen insgesamt zu tun, sondern viel mehr mit dem Kampf des Konzerns um die Spitze der weltweit dominierenden Automobilmonopole und damit um die Möglichkeit, Extraprofite zu machen.
Fazit: Lehrstücke des Klassenkampfes
Letztendlich wird in dem Konflikt nur allzu deutlich, dass das Modell „Sozialpartnerschaft“ für das deutsche Kapital ausgedient hat. Die Kapitalseite hält sich nur an ihre eigenen Regeln und die von den Gewerkschaften großgeschriebene „Sozialpartnerschaft“, solange es ihnen in der Profitmaximierung nützt. Dies war so, als man viele schwer ersetzbare Fachkräfte brauchte und das Klassenbewusstsein noch stärker und die Gefahr von Streiks höher war. Heute ist das Klassenbewusstsein schwach und durch Leiharbeit, Werkverträge und Co ein breiter Niedriglohnsektor eingeführt, so dass Streiks und Fachkräftemangel selten zum Problem werden. Des Weiteren haben sich durch die Entwicklung der Produktivkräfte die Anforderungen an die Arbeit verändert und auch das ist für das Kapital vorteilhaft, weil sie einfache Arbeit leichter ersetzen können als komplexe. Gleichzeitig führen die Entwicklungen aber auch zu einem Sinken der Profitraten, um weiterhin Milliardengewinne generieren zu können, muss also immer mehr Kapital bewegt werden. Das wiederum verschärft den Kampf um die Absatzmärkte weiter. Es reicht auch nicht mehr aus, einfache Waren (Autos) zu exportieren, sondern die Bedeutung vom Kapitalexport (ganze Werke werden hier geschlossen und in anderen teile der Welt dafür neue eröffnet) nimmt weiterhin zu. Die Angriffe der VW-Kapitalisten auf ihre Belegschaften sind also Teil der weltweiten imperialistischen Zuspitzung.
Die Jagd nach den Extraprofiten auf dem Globus wird demnach härter. Tarifverträge und Betriebsratsstrukturen gelten als hinderliche Bremsklötze, die den Kapitalverkehr verzögern. Arbeitskräfte sind gerade im Niedriglohnsektor leichter austauschbar und kämpferische Beschäftigte werden deswegen schneller entlassen und ersetzt. Die Sicherheiten, die Tarifverträge durch teilweise lange Friedenspflichten auch für das Kapital mit sich bringen, verlieren so an Bedeutung. Den Beschäftigten kann es egal sein, ob ein chinesischer Kapitalist, ein US-amerikanischer Multimilliardär oder ein deutsches Vorzeigeunternehmen die Löhne drückt und die Tarifbindung verhindert oder langsam aufkündigt. Aber die deutsche Sozialdemokratie und mit ihr auch die Gewerkschaften machen immer noch einen großen Unterschied zwischen deutschem und ausländischem Kapital. Während die IG Metall bereit war, bei dem chinesischen Schrott-Recycler SRW in Espenhain den längsten Streik der deutschen Geschichte zu führen oder ein eigenes Team an Hauptamtlichen gegen die Angriffe des US-amerikanischen Tesla-Konzerns in Grünheide zu installieren11, agiert die Industriegewerkschaft bei den aktuellen Angriffen von Volkswagen sehr zögerlich. Die IG Metall Verhandlungsführer und Betriebsräte haben so beispielsweise den Kapitalvertretern einen Tag vor dem 3. Verhandlungstermin am 21. November angeboten, bei den Beschäftigten 1,5 Mrd. Euro zu sparen, um dafür wieder den gekündigten Beschäftigungssicherungstarifvertrag in Kraft zu setzen und somit Kündigungen zu verhindern. Und das, obwohl VW ja eindringlich gezeigt hat, wie viel ihnen solche Tarifverträge wert sind, wenn es hart auf hart kommt. Die IG Metall Spitze macht also im vorauseilenden Gehorsam jetzt schon Zugeständnisse und fordert gar keine Lohnsteigerungen mehr, obwohl man die Erfahrung gesammelt hat, dass man durch solche Tarifverträge langfristig sowieso keine Kündigungen verhindern kann. Und das alles passiert noch vor dem ersten Warnstreik, der erst am 1. Dezember möglich sein wird.
Die verhandlungsbegleitenden Aktionen der gewerkschaftlichen Basis bei VW ist dabei kämpferisch und auch der Verhandlungsführer Thorsten Gröger gibt sich kampfbereit: „Sollte der Vorstand auf Maximalpositionen und Werksschließungen beharren, dann übernimmt der Vorstand von Volkswagen die Verantwortung dafür, dass wir in einen Arbeitskampf um Standorte laufen, wie es diese Republik seit Jahrzehnten nicht gesehen hat“. Aber am Verhandlungstisch weicht die IG Metall schon jetzt deutlich von ihren eigentlichen Forderungen ab, während die Kapitalseite sich noch keinen Millimeter bewegt hat. Während zu Beginn der Verhandlung noch 7 Prozent Entgeltsteigerung gefordert wurde, hat die IG Metall jetzt angeboten, das Ergebnis der großen Metall- und Elektro-Runde (5,1 Prozent Entgeltsteigerung in 25 Monaten) als Orientierung zu nehmen. ABER das Geld nicht an die Beschäftigten auszuzahlen, sondern dem Konzern für Restrukturierungen zur Verfügung zu stellen. Das kommt einer Forderung der Kapitalseite schon verdammt nahe, sie hatten gefordert, dass die Beschäftigten zwei Jahre auf neue Lohnsteigerungen verzichten sollten. Außerdem fordern sie 10 Prozent beim Entgelt zu sparen, auch hier scheint es ein Angebot von der IG Metall zu geben, indem die Arbeitszeit ohne Lohnausgleich temporär abgesenkt werden soll, um so Entlassungen zu verhindern.
Die Gewerkschaftsspitze scheint die Hoffnung in ihren „Sozialpartner“ noch nicht aufgegeben zu haben, obwohl dieser den Klassenkampf von oben gnadenlos führt. Wenn die IG Metall den Abwehrkampf dagegen nicht auch beginnt, klassenkämpferisch und gnadenlos gegen die VW-Manager zu führen, wird sie den Kampf verlieren. Mit dieser Niederlage wird eine massive Enttäuschung und Desorganisierung der IG Metall Mitglieder einhergehen. Da es aktuell außer von rechts keine alternativen Gewerkschaftsansätze gibt, könnte das AfD nahe Zentrum-Automobil ein Auffangbecken für die Enttäuschten sein, was zu einer weiteren Rechtsentwicklung der arbeitenden Klasse beitragen würde.
Orientierung: klassenkämpferische Gewerkschaftsfront aufbauen
Das Fehlen von klassenkämpferischen internationalistischen Gewerkschaftsstrukturen wird immer deutlicher. Die internationale Vernetzung und Solidarität innerhalb der unterdrückten Klasse ist mangelhaft, aber es wird immer deutlicher, dass im imperialistischen Stadium des Kapitalismus isolierte Kämpfe kaum noch erfolgreich geführt werden können. Wenn Volkswagen in China billiger produzieren kann, dann wird es das tun. Will die IG Metall nicht ihre Daseinsberechtigung verlieren, muss sie anfangen nicht Standortnationalismus, sondern internationale Solidarität groß zu schreiben. Das könnte zum Beispiel so aussehen, dass die IG Metall zu internationalen Konferenzen Delegierte aus den 114 weltweit existierenden Volkswagen-Produktionsstätten einlädt und beginnt eine internationale Gewerkschaftsbewegung aufzubauen. Bis dahin sollten Abwehrkämpfe kompromisslos geführt werden, um die Kosten des Kapitals in die Höhe zu treiben und mit den Beschäftigten wertvolle Kampferfahrungen zu sammeln. Der aktuell eingeschlagene Weg, die Lohnkosten in Deutschland denen in China anzupassen, um konkurrenzfähig zu bleiben und Arbeitsplätze zu sichern, ist ein Weg in eine Abwärtsspirale für die Beschäftigten, bei denen nur das deutsche Kapital gewinnen kann. Kompromisslose Abwehrkämpfe können auch zu Werkschließungen führen, allerdings bringt es den Beschäftigten eh nichts zu Niedriglöhnen Autos herzustellen, die in Deutschland niemand mehr kauft und die für den chinesischen Markt immer noch zu teuer sind. In den Auseinandersetzungen werden also zwangsläufig auch größere Fragen diskutiert werden, z.B. die Frage nach alternativen Produkten und die danach, wer eigentlich entscheidet was zu welchen Konditionen produziert wird. Hier schließt sich direkt die Frage nach einem alternativen Gesellschaftssystem an, welches nicht von Konkurrenz, Krisen und Kriegen geprägt ist, sondern sich durch eine planvolle Ökonomie auszeichnet – mit einem Recht auf Arbeit – und einer wirklichen Demokratie – in der nicht Top-Manager, sondern die Beschäftigten selbst entscheiden, was und wie produziert wird.
Lasst uns den Ruf nach Gewerkschaften lauter werden lassen, die keine Illusionen in bürgerliche Staaten und angebliche Sozialpartner haben; die sich nicht von Standortlogik und Nationalismus treiben lassen und die keine Angst davor haben, auf ihre Transparente nicht nur die Forderung nach höheren Löhnen zu schreiben, sondern das ausbeuterische kapitalistische System als solches anzugreifen. Der Keim dieser Organisationen steckt zweifelsohne in den offensiveren Teilen der DGB-Gewerkschaften und klassenkämpferischen Vernetzungen innerhalb und außerhalb der DGB-gewerkschaften. Die aktuell laufenden Konflikte sind Lehrstücke für uns. Es wird Zeit, dass wir eine klassenkämpferische Gewerkschaftsfront aufbauen, um unserer Klasse die Struktur zu geben, die sie für die stattfindenden Kämpfe braucht.
Korrektur, 29.11.2024: In einer früheren Version stand an einer Stelle, dass 7 von 10 Werken geschlossen werden sollen. Richtig ist, dass mindestens 3 von 10 Werken geschlossen werden sollen.
1 Krise bei VW: Massiver Gewinneinbruch bei Volkswagen | tagesschau.de
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3 Jahresergebnis – VW Geschäftsbericht 2023
4 Winterprognose 2024: Wirtschaft in der EU wächst langsamer als erwartet, Inflation sinkt schneller – Europäische Kommission
5 Verbraucherpreisindex und Inflationsrate – Statistisches Bundesamt
6 Umsatzrendite: Definition, Berechnung Und Bedeutung
7 https://www.elektroauto-news.net/news/teslas-2023-stark-langsamer-unprofitabler
8 https://www.toyota-media.at/blog/unternehmen/artikel/toyota-hat-betriebsergebnis-und-nettogewinn-mehr-als-verdoppelt/text
9 https://www.deraktionaer.de/artikel/mobilitaet-oel-energie/byd-gewinn-waechst-deutlich-doch-der-preiskampf-hinterlaesst-spuren-20348945.html
10 Volkswagen Group geht in die Offensive: Konzern stärkt in China Technologiekompetenz und senkt Kosten | Volkswagen Group
11 Metall- und Elektroindustrie: E-Autos, Schrott und die IG Metall, Tageszeitung junge Welt, 27.04.2024