Stellungnahme der Zentralen Leitung der KO vom 7. Juni 2024
Innerhalb der Solidaritätsbewegung für Palästina ist immer öfter der Name einer Partei zu hören, die bisher vergleichsweise unbekannt war, die jetzt aber, zumindest im palästinasolidarischen Spektrum, einigen Zulauf erhält. Die Rede ist von der Partei MERA25, gegründet vom ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis.
Im Gegensatz zum Großteil des sonstigen Parteienspektrums bekennt sich MERA25 klar zur Solidarität mit Palästina und spricht von Apartheid und Genozid. Sie hebt sich damit beispielsweise von den rechten Standpunkten der Partei „Die Linke“ ab, die sich seit Oktober vor allem durch Verurteilungen der Hamas hervortut, hier und da mal ihre „Besorgnis“ über den Völkermord in Palästina äußert, den sie nicht so nennen will und ansonsten schweigt und die Mörder deckt. Man kann also verstehen, wieso ein Teil der Palästina-Bewegung ihre Hoffnungen in MERA25 setzt – immerhin erfordert es ja bereits Mut, in den autoritären Zuständen in Deutschland 2024 die Dinge beim Namen zu nennen und sich gegen die deutsche Beteiligung am Völkermord zu stellen.
Wofür steht MERA25?
Unsere Unterstützung verdient MERA25 trotzdem nicht. Sehen wir uns die Standpunkte der Partei etwas genauer an. Das „Grundsatzprogramm“ und „Europawahlprogramm“ der Partei sind beide ausgesprochen kurz und enthalten im Wesentlichen nur allgemeine Phrasen. Daraus ergibt sich folgendes Bild: MERA25 stellt fest, dass „diejenigen, die Macht ausüben, nämlich die Reichen, die großen Unternehmen und ihnen dienende Politiker:innen, hinter verschlossenen Türen entscheiden. Dies führt zu Entscheidungen, die dem Profit Vorrang vor den Menschen und dem Planeten geben. (…) MERA25 möchte diese Verhältnisse beenden“1. Die Lösung? Ein sogenannter „Green New Deal“ mit „massiven Investitionen in die Wirtschaft, die Energieversorgung, Mobilitätssysteme, den Bausektor und die Landwirtschaft“ sowie ein „vereintes, demokratisches Europa“2.
Den zwischenimperialistischen Krieg in der Ukraine will MERA25 zwar durch einen “sofortigen Waffenstillstand” beenden, allerdings lehnen sie Waffenlieferungen an das rechtsextreme ukrainische Regime als “letzten Ausweg” nicht grundsätzlich ab und befürworten die Sanktionen gegen Russland, die Teil der westlichen Kriegsführung sind. Sie benennen die kapitalistische Staatenkonkurrenz nicht als Ursache des Krieges und stehen letztlich trotz ihrer “moderaten” Position auf der Seite der NATO und ihrer Kriegstreiberei gegen den imperialistischen Rivalen Russland.3
Besondere Bedeutung messen sie der EU bei: „Die EU muss demokratisiert werden – oder sie wird zerfallen“. Es gehe darum, „die EU vor sich selbst zu retten“. Denn: „Das europäische Projekt aufzugeben und zu getrennten Nationen zurückzukehren, ist für uns keine Option“4. In den folgenden Abschnitten werden wir auf diese Positionen von MERA25 kritisch eingehen.
Das Hirngespinst einer „demokratischen EU“
Keine Option ist für MERA25 offensichtlich auch die Überwindung des Kapitalismus, die Schaffung einer neuen Gesellschaft, in der das arbeitende Volk die Macht hat und die Leitung der Wirtschaft in ihrem Interesse vergesellschaftet. So wie alle anderen bürgerlichen Parteien stellen sie uns vor die falsche Alternative, entweder die Europäische Union zu unterstützen, oder sich dem Nationalismus zuzuwenden. In Wirklichkeit sind die EU und das Erstarken nationalistischer Kräfte jedoch keine Gegensätze, sondern ganz im Gegenteil zwei Seiten derselben Medaille: Die EU hat durch die Abschaffung von Zöllen und die weitgehende Einebnung anderer Handelshemmnisse die Konkurrenz zwischen den Nationalstaaten innerhalb der EU gezielt verschärft – die verschärfte Standortkonkurrenz bedeutet, dass in allen Mitgliedsstaaten die Regierungen die Löhne und Renten der Arbeiterklasse angreifen, Sozialleistungen einschränken und öffentliches Eigentum privatisieren, um dem Kapital günstige Bedingungen zu bieten. Sie führt andererseits unweigerlich dazu, dass bestimmte Länder (z.B. Deutschland) auf Kosten anderer (z.B. der südeuropäischen Länder) ihre Position in der EU verbessern können. Da die Menschen spüren, dass die EU nicht in ihrem Interesse ist, sondern verantwortlich für die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen, ziehen viele von ihnen den falschen Schluss, dass nicht die Kapitalisten, sondern die Arbeiter anderer Länder ihre Feinde seien und ein kapitalistischer Nationalstaat außerhalb der EU ihre Lage verbessern würde.
Die „Demokratisierung der EU“, die MERA25 anstrebt, ist eine alte Illusion der Sozialdemokratie. Es stimmt, dass in der Europäischen Union praktisch keinerlei Mitbestimmung der Bevölkerung vorgesehen ist – das EU-Parlament ist ein Scheinparlament, das weder die Regierung wählen noch den Haushalt der EU beschließen und damit überhaupt kaum etwas relevantes entscheiden darf. Diese „Demokratisierung“ ist allerdings unmöglich, denn sie würde die Zustimmung aller Mitgliedsstaaten erfordern – eine Zustimmung, die sie nie erhalten würde, da in all diesen Staaten das Kapital regiert, das die EU genau deswegen schätzt und unterstützt, weil es ihre Herrschaft über die Arbeiterklasse stärkt und festigt. Eine „Demokratisierung“ der EU wird es deshalb nicht geben – nicht morgen, nicht in 10 und auch nicht in 50 Jahren. Sie würde ohnehin aber nur bedeuten, das Herrschaftspersonal bestimmen zu dürfen, das die kapitalistische Ausbeutung verwaltet – eine wirkliche Mitbestimmung ist im Kapitalismus gar nicht möglich.
Eine Partei zur Rettung des Kapitalismus
Die EU ist ein imperialistisches Bündnis der kapitalistischen Staaten. Sie existiert, um dem Kapital der Mitgliedsländer, allen voran den großen Monopolkonzernen, möglichst günstige Bedingungen für ihre internationale Expansion zu bieten. Die EU „retten“ zu wollen, bedeutet, die Profite des Kapitals retten zu wollen. Es bedeutet, sich gegen die klassenbewusste Arbeiterklasse zu stellen, die ihren Kampf gegen den Kapitalismus und damit auch gegen die Europäische Union richtet, die für den Sozialismus und die Herauslösung ihres Landes aus der EU kämpft.
MERA25 sieht das Problem lediglich darin, dass Kapital und Politiker „hinter verschlossenen Türen“ entscheiden, statt in der Öffentlichkeit – das sei der Grund dafür, dass die Politik dem Kapital und nicht den einfachen Leuten dient. Das ist allerdings großer Unsinn: Die Politik dient deshalb dem Kapital, weil die Kapitalisten die herrschende Klasse sind und der bürgerliche Staat vor allem zu dem Zweck existiert, die Profite des Kapitals abzusichern. Dass diese Entscheidungen zum Teil hinter verschlossenen Türen getroffen werden, liegt sicherlich daran, dass man so leichter verschleiern kann, dass sie nicht den Interessen der breiten Masse des Volkes dienen. Die politischen Entscheidungen selbst sind andererseits aber nun auch kein Geheimnis. Das Problem ist der Inhalt dieser Politik – nämlich die Ausrichtung aller Entscheidungen der bürgerlichen Politik am Profitinteresse des Kapitals – und nicht der Mangel an „Transparenz“.
Der „Green New Deal“, den MERA25 fordert, ist offensichtlich vom „New Deal“ inspiriert, der in den USA in den 30er Jahren unter Franklin D. Roosevelt umgesetzt wurde. Dabei handelte es sich um ein groß aufgelegtes Investitionsprogramm, um die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise abzuschwächen und den Kapitalismus zu stabilisieren – denn ein wachsender Teil der Arbeiterklasse in den USA begann, sich zu radikalisieren und mit dem Sozialismus zu sympathisieren. Den gleichen Zweck hat auch der „Green New Deal“: Es geht darum, durch staatliche Investitionen dem Kapital neue Profitmöglichkeiten zu erschließen und damit die kapitalistische Ordnung selbst aufrechtzuerhalten – und jeden Gedanke daran zu vertreiben, dass etwas anderes möglich sein soll als eine Gesellschaft, in der eine kleine Minderheit auf Kosten der Mehrheit lebt.
Wer ist Yanis Varoufakis?
Varoufakis ist mit Abstand der bekannteste Politiker und das Aushängeschild der Partei. Bekannt wurde er 2015 als griechischer Finanzminister der „linken“ Syriza-Regierung von Alexis Tsipras, aus der er schließlich austrat, kurz bevor diese mit der EU und dem Internationalen Währungsfonds einen Vertrag unterzeichnete, der für die griechische Arbeiterklasse weitere massenhafte Verarmung bedeutete. Doch reicht das, um Varoufakis von jeder Verantwortung freizusprechen?
Sicherlich nicht. Die Syriza-Regierung war von vornherein eine bürgerliche Regierung. Ihr Ziel war einzig und allein, die Bedingungen für neue Kredite neu zu verhandeln, um die negativen Auswirkungen der Sparpolitik auf die griechischen Unternehmen abzudämpfen. Sie genoss deshalb die Unterstützung des wichtigsten Unternehmerverbands Griechenlands SEV, bekannte sich klar zur EU und zur NATO und pflegte enge Beziehungen zu den USA. Auch mit Israel baute die Regierung Tsipras in dieser Zeit die wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit aus. Varoufakis selbst pries den damaligen US-Präsidenten Obama in höchsten Tönen: „Von Ihrer ersten unterstützenden Aussage nach unserer Wahl waren Sie ein Hauch frischer Luft für unser Volk und für uns“5. Auf die Andeutung des deutschen Finanzministers Schäuble, der die griechische Finanzpolitik mit dem Sozialismus in Verbindung brachte, reagierte Varoufakis empört, er sei ein „unerschütterlicher Europäer. Und das sind meine Parteikollegen von Syriza auch. Mit den Mitteln und Wegen der DDR haben wir so viel gemeinsam wie die CDU mit dem Pinochet-Regime: überhaupt nichts!“6.
2010 und in den folgenden Jahren hatte es in Griechenland eine starke Bewegung gegen die reaktionäre Krisenpolitik der Regierungen und der EU gegeben, die sich gegen die Entlassungen, die Lohnsenkungen, die Privatisierungen, die extremen Kürzungen im sozialen Bereich und bei den Renten zur Wehr setzte. Diese Bewegung wurde geführt von den klassenkämpferischen Gewerkschaften der PAME mit starker führender Rolle der Kommunisten. Die Syriza profitierte von dieser Bewegung wie ein Parasit, indem sie massenhaft Stimmen von ihr erhielt, aber gleichzeitig die Bewegung schwächte und demobilisierte. Die illusorische Botschaft der Syriza war, dass der schwierige und opferreiche Kampf und der Sturz des Kapitalismus nicht notwendig seien, um ein würdiges Leben zu erkämpfen, sondern man auch einfach eine Syriza-Regierung wählen könne, die die Probleme in Stellvertretung lösen würde. Damit erfüllte die Syriza genau die Rolle, die die Sozialdemokratie immer für das kapitalistische System erfüllt: Als Arzt am Krankenbett des Kapitalismus und Verteidigungsmechanismus des Systems, um die Entwicklung einer Bewegung der Arbeiterklasse zu blockieren. Varoufakis, obwohl in Wirklichkeit ein bürgerlicher VWL-Professor, inszenierte sich in seiner Lederjacke und auf seinem Motorrad als „Rebell“, der sich gegen das Establishment der EU auflehnte. Damit war er ein nützliches pseudoradikales Feigenblatt für eine Regierung, die für das Kapital die Kastanien aus dem Feuer holen sollte.
Kanalisierung der Palästina-Bewegung in kapitalismuskonforme Bahnen
Angesichts des Völkermords in Palästina und der direkten Komplizenschaft der meisten EU-Staaten hat Varoufakis die Chance für sein politisches Comeback gewittert. So wie die Syriza daran arbeitete, den Protest und die Wut der Arbeiterklasse Griechenlands in Bahnen zu lenken, die für das kapitalistische System ungefährlich waren, so versucht Varoufakis es mit seiner Partei nun aufs Neue in der Palästina-Bewegung. Damit erfüllt MERA25 für den deutschen Staat einen sehr nützlichen Zweck.
Denn die Bewegung zur Solidarität mit Palästina ist in Deutschland eine Bewegung mit großem politischem Potenzial – wir, und alle anderen die sich in der Bewegung engagieren stehen automatisch im Konflikt mit dem bürgerlichen Staat, der alles versucht, um diese Bewegung zu kriminalisieren und zu zerschlagen. Wer trotz der Hetze und der Repressionen an der Bewegung teilnimmt, zeigt eine unbeugsame und konsequente Haltung und dürfte damit tendenziell auch offen für Kapitalismuskritik und revolutionäre Positionen sein. MERA25 erfüllt die Funktion, genau das zu verhindern und die Bewegung in gemäßigten, staatstreuen und kapitalismuskonformen Bahnen zu halten – deshalb erfordert der Kampf um die Weiterentwicklung des Bewusstseins innerhalb der Bewegung, für die Herausbildung eines klaren internationalistischen, antikapitalistisch-antiimperialistischen Standpunktes, die prokapitalistischen und EU-freundlichen Positionen von MERA25 zurückzudrängen.
1 Europawahlprogramm (mera25.de/wahlprogramm-eu2024/)
2 Grundsatzprogramm. (mera25.de/programm/)
3 MERA25: Jenseits vom Wahl-O-Mat. Wir beantworten eure Fragen (https://mera25.de/jenseits-vom-wahl-o-mat/)
4 MERA25: Die EU muss demokratisiert werden – oder sie wird zerfallen. (https://mera25.de/bewegung-diem25/)
5 Yanis Varoufakis 2017: Adults in the room. My battle with Europe’s deep establishment (E-Book), The Bodley Head, London, S. 357.
6 Ebd, S. 206.