Einleitung
Kapitel 1: Das Wesen des Imperialismus
1.1 Die Wesensbestimmung des Imperialismus
1.1.1 Wissenschaftstheoretische Grundlagen
1.1.2 Allgemeine Bewegungsgesetze des Kapitalismus: Von der freien Konkurrenz hin zum Monopol
1.1.3 Tendenzen des Imperialismus als Epoche des Kapitalismus
1.2: Die Wesensbestimmung des Imperialismus durch Parteien der iKB
1.2.1 Imperialismus als Eigenschaft einzelner Staaten
1.2.2 Tendenz zum Monopolkapitalismus als Tendenz in allen kapitalistischen Staaten.
Kapitel 2: Der Staat im Imperialismus
2.1. Das Staatsverständnis der KP
2.1.1 Der Allgemeine Charakter des Staates
2.1.2 Der Staat im Imperialismus
2.2 Das Staatsverständnis von Parteien der Internationalen Kommunistischen Bewegung
2.2.1 Wessen Staat?
Kapitel 3: Abhängigkeiten und das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung
3.1 Das Verständnis der KP von Abhängigkeiten und dem Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung im imperialistischen Weltsystem
3.1.1 Das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung
3.1.2 Das Verständnis von Abhängigkeiten
3.1.3 Die Bedeutung der ungleichmäßigen Entwicklung und der Abhängigkeiten in der Entwicklung des imperialistischen Weltsystems
3.2: Das Verständnis anderer Parteien von Abhängigkeit und dem Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung
3.2.1 Einschätzungen der Entwicklungsdynamik des Gesetzes der ungleichmäßigen Entwicklung
3.2.2 Struktur der Abhängigkeitsverhältnisse
3.2.3 Das Verhältnis von (Un-)abhängigkeit und Strategie
Kapitel 4: Verständnis von quantitativen und qualitativen Unterschieden in Bezug auf die Stellung eines Staates in der imperialistischen Hierarchie
4.1 Das Verständnis der KP von quantitativen und qualitative Unterschieden im Imperialistischen Weltsystem
4.1.1 Das Verständnis von Quantität und Qualität der Klassiker
4.1.2 Quantität und Qualität im imperialistischen Weltsystem
4.2 Das Verständnis von quantitativen und qualitativen Unterschieden im imperialistischen Weltsystem anderer Parteien
4.2.1 Qualitative Unterschiede im Wesen
4.2.2 Qualitative Gleichheit im Wesen
Vorbemerkung der Redaktion: Der folgende Text wurde in der damals noch bestehenden Kommunistischen Organisation (KO) 2023 von einer Kommission erarbeitet. Gemeinsam mit zahlreichen Diskussionsbeiträgen diente er als Grundlage für die Resolution „Das imperialistische Weltsystem“ des 6. Kongresses der KO, der gleichzeitig den 1. Aufbauparteitag der Kommunistischen Partei darstellte. Während in der Resolution das Imperialismusverständnis der KP in kondensierter Form kollektiv beschlossen wurde enthält dieser Dissenstext ebenso wie die früheren Diskussionsbeiträge einzelner Genossinnen und Genossen ausführlichere Darstellungen, Erläuterungen und Verweise, weshalb wir ihn hiermit nachträglich veröffentlichen.
Einleitung
Die internationale Kommunistische Bewegung ist gespalten, wie spätestens mit den gegensätzlichen Einschätzungen des offenen Krieges in der Ukraine seit Februar 2022 offensichtlich wurde. Den jeweiligen Einschätzung des Krieges in der Ukraine und den Einschätzungen aus der Kommunistischen Bewegung, wie sich Kommunisten zu diesem Krieg stellen sollten, liegen unterschiedliche Imperialismusanalysen zugrunde, die wiederum mit einem unterschiedlichen Verständnis des historischen Materialismus zusammenhängen und zu einer unterschiedlichen Strategie führen.
Die Kommunistische Organisation (KO) hatte sich 2018 gegründet mit dem Ziel eines organisierten Klärungs- und Aufbauprozess zur Gründung der bisher fehlenden Kommunistischen Partei in Deutschland. Fundierte Klarheit in den wesentlichen programmatischen Fragen der Kommunisten ist die Grundlage für Einheit und Organisation, welche letztlich Voraussetzungen sind für ein schlagkräftiges Handeln im Kampf für den Sozialismus. Unter die wichtigsten Fragen zählt dabei die Analyse der Interessen und Strategien der Bourgeoisie, also eine Analyse der Herrschaftsstruktur des kapitalistischen Systems und damit die Imperialismusanalyse, um eine Strategie für die erfolgreiche Revolution aufzustellen. Entsprechend gehört zu Klarheit und Einheit auch der Kampf gegen Revisionismus, also das Eindringen bürgerlicher Ideologie in den wissenschaftlichen Sozialismus, welches den erfolgreichen Kampf für die Revolution zersetzt. Der Kampf gegen Revisionismus ist eine ständige Aufgabe, die sich aktuell mit dem Kampf um die richtige Einschätzung des Ukrainekriegs aufgedrängt hat. Denn: der Dissens in der internationalen Kommunistischen Bewegung zur Einschätzung des Kriegs in der Ukraine, der ihr zugrundeliegenden Imperialismusanalyse und der Positionierung der Kommunisten zum Krieg, wurde im Jahr 2022 auch in der KO ausgetragen und führte zur Abspaltung der RAKO (Rechtsabspaltung der KO).
Die beiden Hauptlinien, die sich in der Kommunistischen Bewegung in Deutschland und international herausgebildet haben, können so beschrieben werden: auf der einen Seite wird das Streben Russlands und Chinas als fortschrittlich eingeschätzt und dafür plädiert dieses Streben zu unterstützen, um die Hegemonie der imperialistischen Supermacht der USA zu brechen. Auf der anderen Seite wird von einem Imperialismus ausgegangen, der (fast) alle Staaten umfasst und durch eine abgestufte internationale Hierarchie mittels asymmetrischer, aber doch gegenseitiger Abhängigkeiten gekennzeichnet ist. Somit müssen Kommunisten die jeweilige Bourgeoisie in ihrem Land bekämpfen. Diese beiden Linien werden in unterschiedlichen Ausprägungen vertreten. In ihrer grundsätzlichen Ausrichtung könnten die Imperialismusanalysen und die daraus erwachsenden strategischen Vorstellungen kaum gegensätzlicher sein. Die KO – ebenso wie in ihrer Nachfolge die KP –vertrat seit ihrer Gründung die zweite Linie, wie sie in der vierten Programmatischen These festgehalten ist. Dennoch gilt es zu verdeutlichen, warum eben jene Position die klassenkämpferische Linie darstellt, wie sie von unseren Klassikern Marx, Engels und Lenin im wissenschaftlichen Kommunismus entwickelt wurde.
Auf dem Kongress 2023 hat die KO die Klärung zur Imperialismusfrage beschlossen, um das eigene Verständnis des Imperialismus zu überprüfen und zu vertiefen. Hierin vertreten wir das Verständnis von Klärung als Einheit von Bildung und Forschung. In der ersten Hälfte des geplanten Vorhabens haben wir uns hinsichtlich der Klärung der Imperialismusfrage vornehmlich als Gesamtorganisation mit Bildung beschäftigt. Wir haben uns in verschiedenen Phasen mit den wissenschaftlichen Grundlagen, dem Wesen des Imperialismus und dem Staatsverständnis bei den Klassikern Marx, Engels und Lenin beschäftigt. Auf dieser Grundlage haben wir zunächst unser kollektives theoretisches Verständnis des Imperialismus, wie wir es in den Programmatischen Thesen darlegen, vertieft. Aufbauend auf dieser Bildung hat die KP sich zur Aufgabe gemacht, das theoretische Fundament, auf das sich die KP bezieht, festzuhalten. Entsprechend ist dieser Text unter der Leitung einer Kommission der Zentralen Leitung, die zu dem Zweck gebildet wurde, die Klärung zu organisieren, unter Einbezug zahlreicher Genossen aus der Gesamtorganisation entstanden. Außerdem bietet dieses theoretische Fundament den Ausgangspunkt für weitere empirische Forschung. Im Sinne des Verständnisses von kollektiver Klärung und dem Zusammenspiel von Forschung und Bildung wurden die Inhalte in der Gesamtorganisation diskutiert und ergänzt. Somit spiegelt das Vorgehen die organisatorische Entwicklung von kollektiver Klärung.
Der vorliegende Text hat zum Ziel, die Position der KP in ihrer theoretischen Entwicklung aus den Klassikern festzuhalten, sowie einen Überblick über die unterschiedlichen Standpunkte in der internationalen Kommunistischen Bewegung (iKB) zu schaffen, revisionistische Abweichungen zu kritisieren und die Position der KP in der iKB zu verorten. Der Text gliedert sich thematisch in vier Kapitel. Zunächst wird das Wesen des Imperialismus nach Lenin dargelegt. Die Monopol als das Wesen der Entwicklung des Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium ist die Grundlage für alle weiteren Betrachtungen zum imperialistischen Weltsystem. Im zweiten Kapitel wird der Staat im imperialistischen Stadium betrachtet als die Überbau-Formation der Entwicklung in der Basis. Im dritten Kapitel wird das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung als zentrale Gesetzmäßigkeit des Kapitalismus im imperialistischen Stadium und den damit verbundenen Abhängigkeiten dargelegt. Schließlich gehen wir im vierten Kapitel auf quantitative und qualitative Unterschiede von Staaten und Abhängigkeiten im imperialistischen Weltsystem ein.
Diese vier thematischen Schwerpunkte sind wesentlich für das Verständnis des Imperialismus und dementsprechend Gegenstand des Dissenses in der internationalen Kommunistischen Bewegung. In jedem Kapitel gehen wir auf den Dissens in der internationalen Kommunistischen Bewegung ein, nachdem das Verständnis der KP zu dem Thema dargelegt wurde. Die Darstellung des Dissenses in der iKB kann unmöglich alle Parteien und Positionen umfassen. Darum beschränken wir uns hauptsächlich auf sechs Parteien, die in der Debatte um den Krieg in der Ukraine besonders zum Vorschein getreten sind Dazu gehören die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF), die Russische Kommunistische Arbeiterpartei (RKAP) und die Deutsche Kommunistische Partei (DKP),die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE), die Kommunistische Partei der Türkei (TKP) und die Kommunistische Partei Mexikos (PCM).
Die Positionen dieser sechs Parteien werden jeweils zu den vier thematischen Schwerpunkten dargestellt und ausgehend von der theoretischen Analyse eingeordnet. In den jeweiligen Kapiteln wird nicht auf alle sechs Parteien eingegangen, da nicht alle sechs Parteien zu allen Themen ausführliche Standpunkte veröffentlicht haben. Außerdem wird in manchen Kapiteln auf weitere Parteien Bezug genommen, weil deren Standpunkte in der Debatte zu den einzelnen Themen besonders einschlägig sind oder stark in der internationalen kommunistischen Bewegung diskutiert werden. Bei der Erarbeitung der Positionen der Parteien setzen wir auf repräsentative Texte, wie das Programm und zentrale Resolutionen, aber auch auf Texte, in denen das jeweilige Verständnis besonders deutlich wird. Unser Anspruch ist keine vollständige Darlegung, sondern die Herausarbeitung der ihnen zugrundeliegenden Hauptlinien.
Kapitel 1: Das Wesen des Imperialismus
In diesem Kapitel werden zunächst das Wesen des Imperialismus und die zentralen Gesetzmäßigkeiten, als wissenschaftliche Grundlage der Imperialismusanalyse, dargestellt. Dazu wird auch ein wissenschaftstheoretischer Exkurs zur Erkenntnis des Wesens einer Sache eingefügt. Davon ausgehend widmen wir uns der Bestimmung des Wesens und den zentralen Elementen der Imperialismusanalyse anderer Parteien der iKB.
1.1 Die Wesensbestimmung des Imperialismus
In den Programmatischen Thesen stellen wir in einem eigenen Kapitel unser Verständnis des Begriffs Imperialismus dar. Imperialismus im marxistisch-leninistischen Sinn bezeichnet keine historisch vergangene Zeit oder eine besonders aggressive Expansionspolitik. Wir halten vielmehr fest, dass sich innerhalb des Kapitalismus Tendenzen durchgesetzt haben, die den heutigen Kapitalismus markieren. Der Wesenskern des heutigen Kapitalismus ist das Monopol. Imperialistische Kriege sind ein Ausdruck dieser Epoche, aber Imperialismus als Beschreibung einer ganzen Epoche umfasst mehr. Bei der Wesensbestimmung des Imperialismus setzen wir uns damit auseinander, welche Form der Kapitalismus unserer Zeit annimmt und welche Tendenzen sich in dieser Epoche durchsetzen. Als Marxisten erklären wir die Unmöglichkeit eines dauerhaften Friedens im Imperialismus aus den ökonomischen Bewegungsgesetzen des Kapitalismus. Imperialistische Kriege sind nicht das Gegenteil von imperialistischem Frieden, sondern ergeben sich notwendig daraus. Auf diese Grundlagen, die wir in den Programmatischen Thesen festhalten, wird in diesem Kapitel vertieft eingegangen. In diesem Kapitel legen wir das Wesen des Imperialismus und seiner Bewegungsgesetze im Anschluss an die Klassiker der Kritik der politischen Ökonomie Marx, Engels und Lenin dar.
Wenn wir der Überzeugung sind, dass Imperialismus als eine Epoche des Kapitalismus verstanden werden muss, meinen wir damit zweierlei: (1) Es gibt Veränderungen, die uns von einer neuen Epoche sprechen lassen. Es kommt im Imperialismus also zu Erscheinungen, Entwicklungen und Tendenzen, die es im Kapitalismus der freien Konkurrenz so noch nicht gab. (2) Aber: Die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus haben weiter Gültigkeit. Imperialismus ist keine neue Gesellschaftsformation. Entsprechend teilt sich das folgende Kapitel in einen Abschnitt zu allgemeinen Bewegungsgesetzen des Kapitalismus und einen Abschnitt zu den besonderen Eigenschaften der imperialistischen Epoche.
1.1.1 Wissenschaftstheoretische Grundlagen
Der dialektische Materialismus ist unser Ausgangspunkt, denn er stellt eine richtige Abstraktion aus der Entwicklung der Materie dar. Deshalb ist er das Werkzeug, um die Materie selbst – in diesem Fall das Wesen des Imperialismus – richtig, also wirklichkeitsadäquat, erkennen und bestimmen zu können.
Das wissenschaftliche Herangehen des dialektischen Materialismus baut auf folgenden grundlegenden Erkenntnissen auf, die in der ersten Programmatischen These
festgehalten werden:
1. Es existiert eine objektive Welt außerhalb von unserem Bewusstsein, die wir erkennen können.
2. Das menschliche Bewusstsein ist nicht unabhängig von der Materie, sondern Produkt einer besonders organisierten Form derselben, die die Materie in sich mehr oder weniger kompliziert und richtig widerspiegelt.
3. Alles ist in ständiger Bewegung. Die Quelle dieser Bewegung ist die Selbstbewegung durch dialektische Widersprüche. Eine wissenschaftliche Entwicklungslehre muss vor allem die Quelle der Selbstbewegung der Dinge aufdecken.
4. Ein Ding kann nur in seinem Verhältnis zur Totalität richtig begriffen werden, da es Teil derselben ist. Die Dialektik erfasst als wissenschaftliche Methode also nicht die wahrnehmbaren Dinge einzeln in ihrem isolierten Dasein, sondern in ihrer Beziehung zueinander und in ihrer Beziehung zum Ganzen.
5. Alles hat eine Ursache. Die Entwicklung der Materie, sowie der Gesellschaft als Produkt derselben, vollzieht sich grundlegend anhand von Gesetzmäßigkeiten und nicht rein spontan und zufällig.
6. Neben spezifischen Gesetzen beschreibt der dialektische Materialismus drei allgemeine Gesetze, nach denen sich jede Entwicklung vollzieht
- Ursache: Einheit und Kampf der Gegensätze
- Art und Weise: Umschlagen von quantitativen Veränderungen in neue Qualitäten
- Richtung: Negation der Negation (spiralförmig tendenziell vom Niederen zum Höheren, vom Einfachen zum Komplexen)
Das Wesen einer Sache beschreibt deren grundlegenden Charakter. Hinsichtlich der Grundgesetze der Dialektik leitet sich der grundlegende Charakter einer Sache aus den Bewegungsgesetzen ab, die in ihr wirken. Also die Gegensätze, die in gegebener Qualität eine Einheit bilden – die als der Motor seiner Entwicklung gelten. Dieser Charakter ist allgemein und bezieht sich auf das Notwendige hinsichtlich der einzelnen Erscheinung.
Um hinter einer Erscheinung das Wesen von etwas zu begreifen, müssen also unter Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs über die dialektischen Widersprüche die Gesetzmäßigkeiten erkannt werden. Dabei muss in der Forschung von der chaotischen Vorstellung des Ganzen zu immer einfacheren Begriffen und Gesetzen abstrahiert werden, indem die Gegensätze, die die Entwicklung vorantreiben, identifiziert werden, um dann zu einer reichen Totalität von Bestimmungen und Beziehungen vorzudringen. Eine detaillierte Darstellung der Forschungsmethode findet sich in dem Artikel “Klarheit durch Wissenschaft” und in dem Workshop “Der wissenschaftliche Erkenntnisprozess”.
In unserer Programmatischen These zur Weltanschaulichen Grundlage schreiben wir: “Eine solche [wissenschaftliche] Herangehensweise zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht bei der Betrachtung von Erscheinungen stehen bleibt, sondern diese auf der Grundlage der ihnen innewohnenden Gesetzmäßigkeiten untersucht.”
1.1.2 Allgemeine Bewegungsgesetze des Kapitalismus: Von der freien Konkurrenz hin zum Monopol
Für die Analyse des imperialistischen Weltsystems ist es als erster Schritt notwendig, sich noch einmal die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus zu verdeutlichen. Diese Gesetzmäßigkeiten bedingen einander gegenseitig. Das heißt, sie können nicht isoliert voneinander verstanden werden. Für das Verständnis des Imperialismus sind einige dieser Gesetzmäßigkeiten besonders zentral. Eine ausführlichere Einführung kann in der Grundlagenschule der KP nachgelesen oder gehört werden.
Wertgesetz
Marx entwickelt seine Analyse der Wirklichkeit ausgehend von dem wissenschaftlichen Begriff der Ware. Er hält fest, dass jede Ware zugleich einen Gebrauchswert (wofür ist ein Ding nützlich?) und einen Tauschwert (wie viel von einem anderen Ding kann ich gegen das eine Ding tauschen?) hat. Dieser Wert wird erst im Tauschprozess als Tauschwert sichtbar, wenn wir sehen, dass z. B. ein Laib Brot genauso viel wert ist wie ein Kleidungsstück oder ein bestimmter Geldbetrag. Produkte, die für den eigenen Gebrauch hergestellt werden, sind also keine Waren. Je mehr gesellschaftlich notwendige, d.h. durchschnittliche Arbeitszeit in einem Gegenstand steckt, desto höher sein Tauschwert. Arbeit ist also die einzige Quelle von Wert. Wie auch in anderen Gesellschaftsformationen zuvor produzieren die ausgebeuteten Klassen dabei mehr Werte, als sie selbst verbrauchen. Diese Mehrwerte werden von der herrschenden Klasse abgepresst. Im Kapitalismus ist die herrschende Klasse die Bourgeoisie, die im Besitz der Produktionsmittel ist, die ausgebeutete Klasse sind die Arbeiter, die dazu gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um zu überleben.
Konkurrenzzwang führt zu Produktivkraftentwicklung
Kapitalisten agieren dabei immer in Konkurrenz zu anderen Kapitalisten. Das zwingt Kapitalisten dazu, nach effizienteren Produktionsmethoden und moderneren Technologien zu suchen, die es ermöglichen, Waren zu produzieren, in denen immer weniger Arbeit vergegenständlicht ist. Dieser ständige Trieb der Kapitalisten nach Erhöhung der Arbeitsproduktivität ist der Grund, weshalb der Kapitalismus viel massiver als alle früheren Produktionsweisen die Entfaltung der Produktivkräfte gefördert hat. Das ist das ganze Geheimnis hinter den unglaublichen Produktivitätsfortschritten, die es seit der Industriellen Revolution gegeben hat. Allerdings findet diese Entwicklung nicht zentral geplant statt. Dem Wesen des Kapitalismus entsprechend bleibt sie ungeplant und chaotisch. Kapitalistische Entwicklung ist notwendig eine ungleichmäßige Entwicklung.
Tendenzieller Fall der Profitrate
Die Entwicklung der Produktivkräfte führt dazu, dass sich die Zusammensetzung des Kapitals eines Kapitalisten verändert. Die Investition in neue Technologie und Maschinerie (konstantes Kapital) umfasst immer größere Anteile, während die Kosten für Arbeitskräfte (variables Kapital) im Vergleich sinken. Arbeiten, für die zuvor hunderte Arbeiter nötig waren, werden jetzt von einem Arbeiter mit mehreren Maschinen erledigt. Es gilt allerdings weiterhin: Arbeiter sind die einzige Quelle von Mehrwert. Eine Maschine gibt lediglich anteilsmäßig den Wert ab, der in sie verausgabt wurde, Arbeiter aber schaffen neue Werte. Ein geringerer Anteil an Arbeitern bedeutet daher auch, dass ein geringerer Teil des investierten Kapitals Mehrwert produziert. Daher geht mit der Entwicklung der Produktivkräfte gesetzmäßig der tendenzielle Fall der Profitrate einher. Um dem entgegenzuwirken, entstehen immer größere Betriebseinheiten, was wiederum die Konzentration und Zentralisation des Kapitals beschleunigt.
Konzentration und Zentralisation des Kapitals bis hin zum Monopol
Die Entwicklung der Produktivkräfte bedeutet aber auch: Ein Kapitalist muss über immer mehr Produktionsmittel verfügen, um sich im Konkurrenzkampf behaupten zu können. Hat in den Anfangsjahren der kapitalistischen Produktion eine Manufaktur mit einfachen Werkzeugen genügt, wird später in Fabriken mit großer Maschinerie produziert. Immer mehr Mehrwert muss investiert werden, damit das Kapital des Unternehmens weiter wächst. Der Umfang der Produktion und des erforderlichen Kapitals, der für die Entwicklung der Produktivkräfte notwendig ist, führt dazu, dass sich Betriebe in der Tendenz immer mehr vergrößern. Die Menge an Kapital, die ein einzelner Kapitalist unter seinem Kommando hat, wird immer größer. Es kommt zu einer Konzentration des Kapitals. Schwächere Kapitalisten können in diesem Konkurrenzkampf nicht mehr mithalten und werden vom Markt verdrängt. Es kommt zu Übernahmen oder Fusionen und damit zur Zentralisation des Kapitals. Beide Prozesse schreiten im Kapitalismus unaufhaltsam voran. Sie führen dazu, dass immer größere Bereiche der Wirtschaft von einer immer kleineren Anzahl von Unternehmen beherrscht werden. Dieser Prozess führte Ende des 19. Jahrhunderts dazu, dass riesige Konzerne entstanden, die ganze Branchen unter sich aufteilten. Aus gesetzmäßiger Konzentration und Zentralisation der Produktion entstehen also Monopole – die Zuspitzung der gesellschaftlichen Produktion bei privater Aneignung -, die im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen.
1.1.3 Tendenzen des Imperialismus als Epoche des Kapitalismus
Auf den ersten Blick könnte es erscheinen, dass freie Konkurrenz und Monopolbildung Gegensätze sind. Die dialektische Methode des historischen Materialismus zeigt jedoch deutlich, dass sich das Monopol notwendig aus der freien Konkurrenz heraus entwickelt und zum wesentlichen Merkmal des Kapitalismus wird. Die Tendenz zum Monopol wohnt dem Kapitalismus von Anfang an inne. Hier setzt Lenin an. Wie die Ware für Marx, ist für Lenin das Monopol der Ausgangspunkt in seiner Hauptschrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ (LW 22). Von diesem ausgehend entwickelt er alle weiteren Charakteristika des Imperialismus.
Herausbildung der Monopole
Das Monopol ist eine Abmachung/Übereinkommen, ein Verband oder eine Vereinigung von Kapitalisten, die in ihren Händen die Produktion und den Absatz eines bedeutenden Teils der Erzeugnisse eines oder mehrerer Produktionszweige konzentrieren zwecks Festsetzung hoher Warenpreise und Erzielung großer Monopolprofite (Marktbeherrschung). Zentral für die ökonomische Überlegenheit der Monopole ist, dass sie sich einen permanenten Extraprofit – in Form des Monopolprofits – aneignen können. Dies gelingt ihnen, indem sie die freie Konkurrenz aushebeln und somit den Ausgleich des Mehrwerts zum Durchschnittsprofit behindern. Der Monopolprofit entsteht dabei, indem ein Teil des Profits anderer, konkurrierender Warenproduzenten auf den Profit der Monopole übertragen wird. Die Monopole erzielen durch die planmäßige Organisierung und Ausnutzung dieser gesellschaftlichen Produktivkräfte (also nicht nur durch die Ausbeutung der „eigenen Arbeiter“ im eigenen Industriemonopol, sondern durch die Machtstellung auf dem Markt auch die der abhängigen in- und ausländischen Betriebe) eine außerordentliche Steigerung des Ausbeutungsgrades beziehungsweise der Mehrwertrate. Die Monopolprofite befähigen die Kapitalisten dazu, Teile der Arbeiterklasse zu bestechen und auf die Seite der Bourgeoisie zu ziehen.
Neue Rolle der Banken
Wir haben festgehalten, dass mit der zunehmenden Entwicklung des Kapitalismus die Masse an Kapital, über die ein Kapitalist verfügt, immer größer wird, wobei insbesondere der Anteil des konstanten Kapitals zunimmt. Das heißt, es werden immer größere Kapitalbeträge nötig, um ein Unternehmen dauerhaft konkurrenzfähig zu halten. Die Kapitalbeträge können nicht aus dem eigenen Kapitalkreislauf generiert werden, da die Konkurrenz zu schnellerer Inverstition zwingt. Aus diesem Grund sind sie gezwungen Kredite aufzunehmen. Hieraus ergibt sich die neue Rolle der Banken. Nur sie sind in der Lage, auf einen Schlag das für technische Innovationen benötigte Geld zur Verfügung zu stellen. In der Epoche des Imperialismus werden diese Kredite für Unternehmen existenziell. Damit wachsen die Banken über die Rolle als reine Zahlungsvermittler hinaus. Durch die Vergabe oder Verweigerung von Krediten können sie über Aufstieg und Niedergang eines Unternehmens entscheiden.
Entstehung des Finanzkapitals
In dem Abschnitt zu den allgemeinen Bewegungsgesetzen des Kapitalismus wurde herausgearbeitet, dass dem Kapitalismus die Tendenz zur Monopolbildung innewohnt. Diese betrifft sowohl Industriekapital als auch Bankkapital. In letzterem findet sie ihren Ausdruck in monopolistischen Finanzkonzernen, Finanzoperationen von Industriekonzernen und der Verbindungen zwischen beiden. Es kommt zu einer Verschmelzung von Bank- und Industriekapital, da das Kapital so effizienter operieren kann. Es muss also nicht mehr verschiedene Rechtsformen und Eigentümer durchlaufen. Die Verschmelzung findet ihren Ausdruck beispielsweise in der gegenseitigen Vertretung in Aufsichtsräten und Aktienbesitz. Lenin nennt das so entstandene Kapital das Finanzkapital. Auf der Basis des Finanzkapitals entsteht eine “Finanzoligarchie”. Das Finanzkapital wird im Monopolkapitalismus zum bestimmenden Kapitaltyp. Hierbei findet eine Verselbstständigung des Kapitals als Eigentum statt, also die immer mehr vorherrschende direkte Akkumulation von Kapital ohne den “Umweg” über die Mehrwertproduktion. Die Finanzoligarchie als Trägerin des Finanzkapital hat eine herausgehobene Stellung innerhalb der Bourgeoisie. Lenin spricht davon, dass alle ökonomischen und politischen Institutionen von der Finanzoligarchie abhängig sind, die es schafft, durch ein umfassendes Netz kleinere Kapitalisten und Unternehmer zu unterwerfen.
Kampf um die Neuaufteilung der Welt
Der internationale Rahmen von Produktion und Absatz der Monopole fördert die Herausbildung von international agierenden monopolistischen Kapitalistenverbänden (ein zeitlich begrenzter Zusammenschluss verschiedener Monopole), um eine möglichst erfolgreiche Kapitalverwertung im internationalen Maßstab zu organisieren. Hier wird der Zusammenhang vom tendenziellen Fall der Profitrate und Kapitalexport zentral: Je weniger entwickelt ein Land ist, desto höher ist die Profitrate. Im Konkurrenzkampf sind die Monopolisten dazu gezwungen, das Kapital in Bereichen mit einer möglichst hohen Profitrate anzulegen und hier zu produzieren. Daher rührt der unstillbare Expansionsdrang von Kapitalisten in andere Länder. Im Imperialismus gewinnt der Kapitalexport an Bedeutung gegenüber dem Warenexport. Kapitalexport lässt sich unterscheiden in produktives Kapital und Leihkapital, z.B. in Form von Krediten oder dem Kauf von Staatsschulden (wobei auch Kapital in Form von Krediten produktiv investiert werden kann). Dabei führt der Kapitalexport zu einer Produktivkraftentwicklung im Zielland des Kapitalexports, und gleichzeitig oft zu einem gewissen Grad zu einer Hemmung der Produktivkraftentwicklung im exportierenden Land. Der Drang zum internationalen Kapitalexport ist in der Epoche des Imperialismus enorm erhöht.
Die Welt ist schließlich vollständig in Einflusssphären der Monopolisten und ihrer Staaten aufgeteilt, die durch den Akkumulationszwang ständig um die Neuaufteilung ringen. Hieraus entstehen notwendig Spannungen, die sich immer wieder in imperialistischen Kriegen um die Neuaufteilung der Welt entladen. Imperialismus ist zwar mehr als nur aggressive Außenpolitik und militärische Aggression, aber diese Phänomene sind keine Abweichungen, sondern Wesenseigenschaften des Systems. Produktivkraftentwicklung und Krieg sind also lediglich zwei Erscheinungsformen ein und derselben kapitalistischen Entwicklung.
Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung
Während die einzelnen Monopole immer größere Wirtschaftsbereiche kontrollieren und über gewaltige ökonomische, politische und militärische Mittel verfügen, um ihre Marktstellung abzusichern, bleibt der chaotische Charakter, der die kapitalistische Produktion als Ganze kennzeichnet, bestehen. Es kommt also nicht zu einer geplanten, gleichmäßigen Entwicklung verschiedener Länder, durch die sich der Entwicklungsstand verschiedener Länder aneinander angleichen könnte, vielmehr setzt sich im Imperialismus das Gesetz der Ungleichmäßigkeit der Entwicklung weltweit durch. Der Imperialismus ist also ein Weltsystem, das grundsätzlich die gesamte kapitalistische Welt umfasst, allerdings in sich sehr hierarchisch strukturiert ist. So analysiert Lenin, dass um 1900 eine kleine Zahl von Ländern fast die ganze Welt unter sich aufgeteilt hat und diese als Kolonien und Halbkolonien unterdrückt. Dieser Zustand ist jedoch nicht statisch, sondern ständigen Verschiebungen unterworfen. Das komplexe Wechselspiel aus Konkurrenzkämpfen, politischen Strategien der Bourgeoisie, Auseinandersetzungen zwischen den Kapitalisten, Kriegen und Wirtschaftskrisen lässt bestimmte Länder und Regionen in der Hierarchie des imperialistischen Weltsystems aufsteigen, während andere relativ gesehen absteigen. Im Kampf um die Neuaufteilung der Welt und im Zuge des Gesetzes der ungleichmäßigen Entwicklung, stehen die Monopole in Konkurrenz zueinander im Kampf um Absatzmärkte. Diese Konkurrenz der Monopole bleibt fortbestehen, auch wenn sie sich zeitweise zur Durchsetzung ihrer Interessen in internationalen Kapitalistenverbänden vereinigen, so dass es nicht zu einem all umfassenden “Ultramonopol” kommt. Nähere Ausführungen zum Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung finden sich in Kapitel 3.
Herausbildung einer Arbeiteraristokratie
Die enormen Monopolprofite ermöglichen es Kapitalisten einige Arbeiter zu bestechen, sie von der großen Masse der Arbeiter abzuspalten und auf ihre Seite zu ziehen. Das passiert etwa dadurch, dass einem kleinen Teil der Arbeiterklasse deutlich höhere Löhne gezahlt werden. Lenin spricht davon, dass der Imperialismus “die ökonomische Möglichkeit zur Bestechung der Oberschichten des Proletariats” (LW 22, S. 286) schafft. Dieser privilegierte Teil der Arbeiterklasse wird von Lenin als Arbeiteraristokratie bezeichnet. Hier liegt ein wichtiges Einfallstor für opportunistische Vorstellungen in der Arbeiterklasse, die auch über die eigentliche Arbeiteraristokratie hinaus wirkt. Unter Arbeitern verbreitet sich die Bereitschaft, den eigenen Lebensstandard gegen und auf Kosten anderer Teile der internationalen Arbeiterklasse durchzusetzen und etwa die imperialistische Politik des eigenen Landes zu unterstützen. Hierbei ist wichtig zu betonen, dass auch die bestochenen Teile der Arbeiterklasse Teil der Arbeiterklasse bleiben. Sie werden weiterhin ausgebeutet, wenn auch unter angenehmeren Bedingungen.
Imperialismus als Fäulnis des Kapitalismus
In den grundlegenden Bewegungsgesetzen wurde dargelegt, dass dem Kapitalismus ein starker Innovationsdruck innewohnt, der zu einer enormen Entwicklung der Produktivkräfte führt. In der Epoche des Imperialismus ist der Kapitalismus allerdings überreif geworden. Das Privateigentum an Produktionsmitteln ist zum Hindernis für den weiteren gesellschaftlichen Fortschritt geworden. Das bedeutet nicht, dass der Kapitalismus in seinem monopolistischen Stadium keinen technischen Fortschritt mehr hervorbringen würde, denn im Gegenteil können die riesigen Zusammenballungen von Kapital, die den modernen Konzern konstituieren, auch riesige Summen für Forschung und Entwicklung aufbringen. Es bedeutet, dass gemessen an dem, was mit dem bereits erreichten Stand der Produktivkräfte möglich wäre, der Kapitalismus ein ineffizientes, verschwenderisches und zerstörerisches System ist. Das Monopolkapital hemmt dennoch neue Erfindungen, weil diese angesichts hoher Monopolprofite keinen entscheidenden Vorteil bringen, da das Monopol bereits eine gegenüber anderen Unternehmen bevorteilte Marktstellung hat; es führt zu immer schärferen Krisen, die mit gewaltiger Vernichtung von Produktivkräften und menschlichem Elend einhergehen; es bringt verheerende Kriege hervor und entwickelt sich heute zum Preis enormer Umweltzerstörungen. Gleichzeitig bereitet der Monopolkapitalismus aber auch den Übergang in eine andere, höhere Gesellschaftsformation vor, den Sozialismus. Mit der Entwicklung des Kapitalismus nimmt die Produktion einen immer stärker gesellschaftlichen Charakter an. Diese Vergesellschaftung der Produktion unter kapitalistischen Bedingungen besteht darin, dass alle Teile des Wirtschaftslebens voneinander abhängig sind und die Produktion zunehmend nicht mehr als Produktion des einzelnen Betriebs betrachtet werden kann, sondern als gesamtwirtschaftlicher Organismus stattfindet. Der Monopolkapitalismus führt nah an eine allgemeine Vergesellschaftung der Produktion heran, gleichzeitig bleibt jedoch der Besitz der gesellschaftlichen Produktionsmittel und auch die Aneignung der Profite privat.
Zwischenfazit
Vollzieht man die dialektische Methode bei Marx, Engels und Lenin nach, betrachtet man die Welt in ihrer Bewegung. Zentral für ein dialektisches Verständnis des Imperialismus ist daher die Analyse des Imperialismus aus den Bewegungsgesetzen des Kapitalismus selbst. Ausgehend von diesen Bewegungsgesetzen des Kapitalismus haben wir festgestellt, dass das Wesen des Imperialismus das Monopol ist. Das Monopol ist wesensbestimmend für den Imperialismus, da sich andere Merkmale aus ihm ergeben und nicht umgekehrt. Imperialismus ist kein starres Machtgefüge, sondern muss in seiner Entwicklung verstanden werden. Sowie das Wesen des Imperialismus, das Monopol, sich notwendig aus dem Kapitalismus der freien Konkurrenz entwickelt, ist auch der Imperialismus durch den Konkurrenzdruck und das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung ständigen Verschiebungen ausgesetzt. Technische Entwicklung und Kriege, Fortschritt und Zerstörung sind dabei unterschiedliche Formen derselben kapitalistischen Entwicklung.
Wenn der Imperialismus ausgehend von der Bestimmung seines Wesens als Kapitalismus im monopolistischen Stadium in seiner Entwicklung zu verstehen ist, dann heißt das, dass er nicht primär als Eigenschaft einzelner Länder zu begreifen ist. Entsprechend ist die Frage nach dem imperialistischen Charakter einzelner Länder nicht hilfreich, um Entwicklungsdynamiken des Weltsystems zu verstehen und einordnen zu können. Entsprechend ist auch ein undynamisches Verständnis der leninschen Merkmale des Imperialismus als Analysekriterium zur Bestimmung eines Landes als imperialistisch oder nicht-imperialistisch, unwissenschaftlich.
Wie eingangs aus den Arbeiten der Klassiker Marx, Engels und Lenin entwickelt, handelt es sich beim Imperialismus um eine gesetzmäßige Entwicklung des Kapitalismus in seinem monopolistischen Stadium. Entsprechend ist eine Niederlage des US-Imperialismus keine Niederlage des Imperialismus. Hier zeigt sich deutlich, dass manche “Imperialismus” als Bezeichnung für einen kapitalistischen Staat und dessen Agieren verwenden, während der wissenschaftliche Begriff des Imperialismus die gesetzmäßige Entwicklung zur Monopolbildung und allen damit zusammenhängenden Tendenzen erfasst. Aus der gesetzmäßigen Entwicklung des Kapitalismus in seinem monopolistischen Stadium folgt, dass sich die Tendenzen des Imperialismus notwendig in der Tendenz auch in jedem anderen kapitalistischen Land durchsetzen, wenn auch in einem unterschiedlichen Tempo. Wichtiger als die Frage, ob man die Eigenschaft „imperialistisch“ zu sein nur dem größten oder den fünf größten Playern zuschreibt, ist ein Verständnis für die Entwicklungsgesetze im Imperialismus zu entwickeln. Darauf basierend muss die Strategie und Taktik der Arbeiterklasse in den verschiedenen Ländern entwickelt werden.
Vor dem Hintergrund dieser Ausführung ist auch die Aussage in unseren programmatischen Thesen zu verstehen. Wir beziehen uns auf eine zentrale Spaltungslinie in der kommunistischen Weltbewegung um die These „objektiv antiimperialistischer“ Staaten: “Nach dieser Auffassung spielten bestimmte kapitalistische Staaten eine „objektiv antiimperialistische“ und damit friedensfördernde Rolle. So wird z.B. Russland wegen seiner Interessendivergenzen mit den USA oft eine solche Rolle zugesprochen. Diese These halten wir jedoch für falsch. Länder am unteren Ende der imperialistischen Hierarchie sind nicht „objektiv antiimperialistisch“ sondern objektiv zu einem gegebenen Zeitpunkt nicht in der Lage, ihre imperialistischen Interessen durchzusetzen. Auch andere Staaten, in denen (monopol-)kapitalistische Verhältnisse bestehen, wie etwa China, können keinen antiimperialistischen Charakter annehmen. Es ist irreführend, bestimmten, relativ unterlegenen imperialistischen Polen innerhalb des Systems des Imperialismus eine prinzipielle Friedensfähigkeit oder fortschrittliche Rolle zuzuschreiben. Die fatale Konsequenz aus solchen Fehleinschätzungen ist, dass die Arbeiterklasse sich unter der Fahne fremder Interessen, nämlich des einen oder anderen imperialistischen Pols sammelt.” (Programmatische These 4) Wir halten es für wichtig, sich diese Aussage in allen Folgen klar zu machen. Egal welche Länder an der Spitze der imperialistischen Hierarchie stehen: Solange wir den Imperialismus nicht überwinden, wird es keinen Fortschritt geben, ohne dass Arbeiter dafür ausgebeutet und unterdrückt werden. Auch wenn in der aktuellen Auseinandersetzung in der internationalen kommunistischen Bewegung weniger von “objektivem Antiimperialismus” sondern eher von “temporären Interessensüberschneidungen” gesprochen wird, darf dies nicht darüber hinweg täuschen, dass es dieselbe Vorstellung in anderen Worten ist, nach der Imperialismus mit einigen wenigen Staaten gleichgesetzt wird.
1.2: Die Wesensbestimmung des Imperialismus durch Parteien der iKB
Im Wesentlichen beanspruchen alle kommunistischen Parteien und Organisationen, sich in ihrer Analyse des Imperialismus auf Lenin und seine Texte zum Charakter des Imperialismus als Epoche des Monopolkapitalismus zu beziehen. Allerdings gibt es große Unterschiede darin, wie die Analyse Lenins verstanden und auf die heutige Wirklichkeit angewandt wird. Diese großen Unterschiede in der internationalen Kommunistischen Bewegung zeigen sich besonders deutlich mit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine. Alleine mit einem Bekenntnis zu Lenin ist also noch nicht viel gesagt. Es ist notwendig, genauer zu untersuchen, was unter Imperialismus verstanden wird, sowie welche Schlussfolgerungen aus dem jeweiligen Imperialismusverständnis gezogen werden. Der Dissens in der internationalen kommunistischen Bewegung zum Wesen des Imperialismus bezieht sich hauptsächlich darauf, ob Imperialismus als gesetzmäßige Entwicklung des Kapitalismus als Weltsystem verstanden wird, ober ob Imperialismus als die Vorherrschaft einer (bestimmten) Gruppe von Ländern verstanden wird.
Im Folgenden stellen wir das grundlegende Imperialismusverständnis von verschiedenen Parteien dar. Das Imperialismusverständnis der KKE und PCM bezieht sich auf die monopolkapitalistische Entwicklung als Weltsystem und entspricht unserer Auffassung des wissenschaftlichen Verständnisses der Charakterisierung des Imperialismus nach Lenin. Das Imperialismusverständnis der KPRF, RKAP und DKP bezieht sich zunehmend auf ein Verständnis des Imperialismus als Herrschaft weniger Staaten, die anhand der Imperialismusmerkmale nach Lenin jeweils als imperialistisch charakterisiert werden.
1.2.1 Imperialismus als Eigenschaft einzelner Staaten
Ein zentraler Unterschied im Imperialismusverständnis verschiedener Parteien ist die Frage, ob sie Imperialismus in erster Linie als ein Weltsystem begreifen, in dem die von Lenin beschriebenen Tendenzen in jedem kapitalistischen Land wirken oder ob sie Imperialismus vor allem oder ausschließlich als Vorherrschaft einzelner Länder begreifen.
Letzteres wird etwa in der Analyse der KPRF deutlich. Zentral für deren Imperialismusverständnis ist ein Begriff, den es bei Lenin noch nicht gab: Der Globalismus. Dem zugrunde liegt die Annahme, dass der Imperialismus mit dem Ende der Sowjetunion in eine neue Phase und höchste Stufe des Imperialismus eingetreten sei. Wesentlich für diese Phase sei demnach die Vorherrschaft der „Globalisten“ oder des „Weltkapitals“, womit die USA und ihre Verbündeten gemeint sind. Die „Globalisten“ zielen demnach darauf, ihre Vormachtstellung gesetzlich zu verankern und eine offen supranationale Machtstruktur diktatorischer Natur zu errichten. So hält etwa der stellvertretende Vorsitzende des ZK der KPRF, Dmitri Nowikow in dem im Januar 2022 in der Jungen Welt erschienen Artikel “Imperialismus heute” als “Ziele der Schöpfer der globalistischen Weltordnung” fest: “1.Eine gesetzlich verankerte Gestaltung der Welt in Form einer »Pyramide der Unterordnung« zu erreichen. An der Spitze stehen die USA, dann folgen ihre Verbündeten und am unteren Ende die Staaten der dritten Welt. 2.Schaffung einer offenen supranationalen Machtstruktur – einer diktatorischen Macht, die Milliarden von Bewohnern des Planeten feindlich gegenübersteht” (Nowikow, 2022). Durch diese sollen die Energie- und Rohstoffquellen der Welt und das Finanzsystem unterworfen werden und die gesamte Wirtschaft des Planeten übernommen werden. Als Gegenspieler des Globalismus werden Länder genannt, „die versuchen, ihre nationalen Interessen zu verteidigen und sich der US-amerikanischen Hegemonie widersetzen“. “National denkende politische Regime“ werden explizit als Gegner des heutigen Imperialismus und der kapitalistischen Hegemonie verstanden (KPRF, 2017). Imperialismus wird also weniger als eine Entwicklungsstufe des Kapitalismus allgemein verstanden, denn als Synonym zu den als „globalistisch“ bezeichneten Staaten. Das Wesen des Imperialismus ist nach diesem Verständnis heute die Vorherrschaft westlicher Mächte.
Die Vorstellung, dass Imperialismus die Eigenschaft einzelner Staaten sei, geht in einigen Fällen mit einer unwissenschaftlichen Verwendung der fünf Merkmale des Imperialismus nach Lenin einher. Diese Merkmale werden – statt sie in ihrer Bedeutung auf Basis der wesentlichen Entwicklungsgesetze zu verstehen – mechanisch auf einzelne Staaten angewendet. Der Parteivorsitzende der DKP, Patrik Köbele, beispielsweise, weist ein Verständnis der lenin’schen Merkmale des Imperialismus auf, nach dem ein Land anhand eben dieser Merkmale als imperialistisch oder kapitalistisch zu klassifizieren sei. Er wendet diese auf Russland an, und kommt zu dem Schluss, dass der Kapitalexport gegenüber dem Warenexport in Russland nicht vorrangig sei und darum neige er “zur Position, dass es sich bei Russland um ein kapitalistisches Land handelt, das das imperialistische Stadium noch nicht erreicht hat” (Köbele, 2022).
Die KP stellt sich gegen Auffassungen wie die der KPRF, die den heutigen Imperialismus mit den westlichen Ländern an der Spitze der Hierarchie gleichsetzen. Dies ist eine unzulässige Vertauschung von Erscheinungsform und Wesen des Imperialismus, die fatale Auswirkungen auf die Strategie und Taktik der Arbeiterklasse hat. Wenn Lenin von „einer Hand voll Räubern“ spricht, dann beschreibt er sehr richtig die Erscheinungsform des Imperialismus um 1917, als er sein Werk geschrieben hat. Er beschreibt damit nicht eine Wesenseigenschaft des Imperialismus. Dass die USA heute an der Spitze des Imperialismus stehen, ist eine Erscheinungsform des heutigen Imperialismus. Dieser Fakt ist wichtig und muss in der Taktik berücksichtigt werden, aber: Er macht nicht das Wesen des Imperialismus aus. Im vorangegangen Kapitel wurde deutlich, dass das Wesen des Imperialismus aus den Entwicklungsgesetzen des Kapitalismus besteht. Der Imperialismus als weltumfassendes System ist ein Entwicklungsstadium des Kapitalismus, das global vorherrscht.
1.2.2 Tendenz zum Monopolkapitalismus als Tendenz in allen kapitalistischen Staaten.
Von einer solchen Vorstellung grenzt sich die TKP deutlich ab. Sie betont: „Der Imperialismus kann nicht als Vorherrschaft der entwickelten kapitalistischen Länder über die unterentwickelten Länder aufgefasst werden. Außerdem kann der Imperialismus keineswegs als alleinige Beziehung oder Konflikt zwischen Zentrum und Peripherie oder zwischen entwickelten und unterentwickelten Ländern betrachtet werden“ (TKP, 2017: These 10). Imperialismus als Weltsystem wirkt sich nach diesem Verständnis auf die innere Struktur jedes kapitalistischen Landes aus. Auch für die Analyse der KKE ist das Verständnis des Imperialismus als Herrschaft des Monopolkapitals zentral, wobei sie den Begriff des Monopols nicht vorrangig auf eine spezifische Organisationsform von Unternehmen bezieht, sondern auf ein Entwicklungsstadium des Kapitals selbst. Die KKE betont, dass die leninistischen Merkmale des Imperialismus als einheitlich, d.h. nicht beliebig voneinander trennbare Merkmale für jedes Land gelten, was in das Stadium des Monopolkapitalismus übergegangen ist. Jedes monopolkapitalistische Land entwickelt in diesem Verständnis die Tendenz zu imperialistischer Politik – unabhängig von den Fähigkeiten diese Politik auch durchzusetzen (Opsimos, 2017). Kapitalistische Länder in der Epoche des Imperialismus sind dazu gezwungen entsprechend dem Expansionsdrang des Monopolkapitals zu handeln, auch wenn große Unterschiede in den Fähigkeiten der Länder bestehen, das auch umzusetzen. Allerdings findet diese Entwicklung nicht gleichmäßig statt, weder in jedem Land noch in verschiedenen Branchen und Sektoren. Ähnlich warnt die TKP davor, die imperialistische Hierarchie zu trivialisieren, in den Thesen zum Imperialismus heißt es „[d]as Phänomen der imperialistischen Hegemonie als grundlegendes Element der imperialistischen Hierarchie sollte nicht unterbewertet“ werden (TKP, 2017: These 18) Die TKP unterscheidet in ihren Thesen zum Imperialismus explizit zwischen den Begriffen „Imperialismus“ und „imperialistisches Land“. Imperialismus wird als ein hierarchisches Weltsystem von Vorherrschaft und Dominanz definiert, was alle kapitalistischen Länder umfasst. Nur die Länder an der Spitze dieser Hierarchie bezeichnet die TKP als imperialistische Länder. Als Kriterium für imperialistische Länder schlägt die TKP die tatsächliche Fähigkeit eines Landes vor, andere Länder ökonomisch, politisch, militärisch, ideologisch und kulturell zu beeinflussen und zu steuern. Sie sind entscheidend für das Funktionieren der imperialistischen Hierarchie, deshalb ist eine genaue Analyse der Hierarchie und der Stellung einzelner Länder von strategischer Bedeutung. Das imperialistische System ist nach der Analyse der TKP aber nicht auf die imperialistischen Länder zu reduzieren. Ein Land kann nach diesem Verständnis das gegenwärtige imperialistische System stören und dabei selbst Teil des imperialistisch-kapitalistischen Systems sein. Ähnlich wie die KKE betont auch die TKP, dass die Stellung eines Landes in der Hierarchie, explizit auch der USA an der Spitze, nicht dauerhaft ist. Sie schreibt explizit: „Die bisherige terminologische Präzision, mit der die Kommunistische Partei der Türkei (TKP) den Begriff “imperialistisches Land” für die USA und die prominenten EU Länder, die immer noch die gefährlichsten und aggressivsten sind, verwendet, lässt sich nicht unbegrenzt halten“ (TKP, 2017: These 31).
Während die KPRF mit den Globalisten eine „Handvoll“ Staaten als das Wesen des Imperialismus in der heutigen Zeit bestimmt, bezeichnet die KKE die konkrete Zusammensetzung der dominantesten imperialistischen Staaten als Erscheinung. Nach der KKE ist im Wesen des Imperialismus zwar enthalten, dass die ungleichmäßige Entwicklung notwendig immer eine führende Gruppe von Staaten im Weltsystem ausbildet (Opsimos, 2017). Die Erscheinungsformen dieser führenden Gruppe kann und muss sich aber im Laufe der Entwicklung ändern. Heute bilden demnach nicht genau dieselben Länder die „Handvoll“ wie zu Lenins Zeiten undImperialismus ist nicht mehr auf wenige Staaten in diesem Entwicklungsstadium zu begrenzen, was die KKE an ökonomischen, politischen und militärischen Aspekten festmacht (KKE, 2021). Die KKE macht deutlich, dass sich heute in einem großen Teil der Ländern der Welt der Monopolkapitalismus entwickelt hat. Hier sieht die KKE einen Unterschied zwischen der heutigen Erscheinungsform des Imperialismus als zur Erscheinungsform zur Zeit Lenins: Es gibt nach ihrer Analyse heute zwar weiterhin eine führende Gruppe, aber durch die stärkere politisch-wirtschaftliche Unabhängigkeit vieler Staaten ist ihr relativer Anteil an der Beute bei der Aufteilung der Welt geringer (Opsimos, 2017).
Auch die PCM verdeutlicht, dass das Wesen des Imperialismus das Monopol ist: “Infolge des unaufhaltsamen Konzentrations- und Zentralisierungsprozesses, der zur Monopolisierung der Wirtschaft führte, trat der Kapitalismus in seine höchste und letzte Phase ein, den Imperialismus” (PCM, 2017: Parteiprogramm). Weiter verdeutlicht sie, dass ein Land seinen Charakter nicht verändert, nur weil es nicht ganz oben an der Spitze der imperialistischen Hierarchie steht. Im Gegenteil: es bleibt Teil des imperialistischen Weltsystem als Land in dem der Klassenwiderspruch die Grundlage der Ökonomie bildet und die Kommunisten sich entsprechend an diesem zu orientieren haben (Torres, 2012).
Die KP teilt die Position nach der der Imperialismus als Weltsystem zu verstehen ist, das grundsätzlich die gesamte kapitalistische Welt umfasst, da das Wesen des Imperialismus das Monopol ist und die Tendenz zur Monopolbildung allen kapitalistischen Ökonomien gesetzmäßig innewohnt. Dies ist auch die Basis für die hierarchische Strukturierung des imperialistischen Weltsystems.
Kapitel 2: Der Staat im Imperialismus
2.1. Das Staatsverständnis der KP
In diesem Kapitel gehen wir auf den Charakter des Staates als Klassenstaat ein und schließen so an die dritte Programmatische These an, um die Rolle des Staates im imperialistischen Stadium des Kapitalismus genauer bestimmen zu können. Ausgehend von dieser Darlegung betrachten wir den Dissens in der iKB zur Rolle des Staates.
2.1.1 Der Allgemeine Charakter des Staates
Klassenstaat
Mit der Entstehung von Privateigentum und Klassen entwickelte sich der Staat logisch-historisch als Ausdruck der Notwendigkeit der Beherrschung der ausgebeuteten Klassen durch die ausbeutenden Klassen. Notwendig wird der Staat, um den unlösbaren Klassenwiderspruch zwischen herrschender und beherrschter Klasse abzudämpfen und um die beherrschte Klasse gewaltsam zu unterdrücken und die Klassenherrschaft der einen über die andere Klasse zu erhalten (MEW 3, S.311; LW 29, S.465). Der Staat ist dementsprechend immer ein Klassenstaat – Staat der herrschenden Klasse, also ein Werkzeug dieser zur Herrschaft über die unterdrückten Klassen. Bei oberflächlicher Betrachtung erscheint es immer wieder so, dass der Staat über den Klassen stehe und zwischen diesen neutral vermittle (MEW 8, S.197f.; MEW 21, S.165). Die Entstehung und Entwicklung des Staates inmitten der verschiedenen Klassenkämpfe zeigen aber klar, dass der Staat nur scheinbar neutral, in Wirklichkeit aber der Staat der ökonomisch herrschenden Klasse ist und sein muss. Engels schreibt hierzu: „Da der Staat entstanden ist aus dem Bedürfnis, Klassengegensätze im Zaum zu halten, da er aber gleichzeitig mitten im Konflikt dieser Klassen entstanden ist, so ist er in der Regel Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, die vermittelst seiner auch politisch herrschende Klasse wird und so neue Mittel erwirbt zur Niederhaltung und Ausbeutung der unterdrückten Klasse“ (MEW 21, S. 166f.).
Ein deutlicher Ausdruck der Klassenherrschaft ist das Gesetz, welches den Rahmen des gesellschaftlichen Lebens im Sinne der herrschenden Klasse bildet und ihre Herrschaft als gemeinsame Interessenvertretung der gesamten herrschenden Klasse konstituiert (MEW 3, S. 311). Die Herrschaftsmethoden des Staates beschränken sich aber klarerweise nicht auf die Gesetzesebene, sondern betreffen auch die Bildung, die Sozialpolitik, die Einrichtung einer öffentlichen Gewalt wie das Militär und die Polizei, deren sich der Staat zur gewaltvollen Herrschaft über die unterdrückten Klassen bedienen kann. Darüber hinaus sind die Einteilung und Beherrschung der Bevölkerung nach dem jeweiligen Staatsgebiet sowie das Entstehen eines Verwaltungsstabes zentrale Kennzeichen des Staates (MEW 21, S. 165f.).
Während das Wesen eines Staates stets das gleiche bleibt, nämlich die Diktatur der herrschenden Klasse über die beherrschten, ändert sich dessen Form je nach historischer Periode: Die Entwicklung der Produktivkräfte gerät ab einem gewissen Punkt zunehmend in Widerspruch zu den herrschenden Produktionsverhältnissen. Auf kurz oder lang werden diese Produktionsverhältnisse schließlich in einer neuen negiert – eine Umwälzung, die auch eine neue Staatsform hervorbringt (LW 29, S.471). Bisher kennt die Menschheit fünf verschiedene Gesellschaftsformationen die logisch-historisch aufeinander folgten, auch wenn sie nicht in allen Regionen der Erde durchlaufen wurden: Die Gentilgesellschaft (Urkommunismus), die Sklavenhaltergesellschaft, der Feudalismus, der Kapitalismus und der Sozialismus-Kommunismus – wobei die Staaten erst mit dem Aufkommen der Sklavenhaltergesellschaft entstanden und in der Entwicklung des Sozialismus-Kommunismus wieder absterben. Die Staaten in diesen Gesellschaftsformationen unterscheiden sich wesentlich durch die Eigentumsverhältnisse die sie gesetzlich, exekutiv und ideologisch durchsetzen und verteidigen müssen.
Basis und Überbau
Der Staat ist ein Teil des Überbaus und leitet sich wesentlich aus der gegebenen ökonomischen Basis ab, die die Gesamtheit der Produktionsverhältnisse darstellt. Basis und Überbau können also nicht getrennt voneinander betrachtet werden sondern müssen als dialektische Einheit verstanden werden (MEW 3, S.311; MEW 13, S.8f). Das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Entwicklung einer Gesellschaft ist die Ökonomie. Somit sind beispielsweise die Übergänge der einen in die andere Gesellschaftsformation im wesentlichen Ausdruck der Produktivkraftentwicklung die mit der gegebenen Produktionsweise zunehmend in Widerspruch gerät und nur als Folge davon Ausdruck staatlicher Ideen und Handlungen. Dennoch kann der Überbau bis zu einem gewissen Grad auf die ökonomische Basis zurückwirken, beispielsweise in Form von wirtschaftspolitischen Maßnahmen oder Gesetzgebung (MEW 37, S. 490ff.).
Bürgerlicher Staat
Für den Kapitalismus stellte sich die bürgerlich-parlamentarische Demokratie in der Regel als günstigste Herrschaftsform heraus, da in dieser die Bourgeoisie die politische Macht und damit den Staat fest in ihren Händen hält, während den unterdrückten Klassen, also den breiten Volksmassen, politische Beteiligung vorgespielt wird. Dennoch bleibt auch die formale Gleichstellung der Arbeiterklasse nur vorgetäuschter Natur, da der Arbeiter zwar frei im politischen Sinne und kein Sklave oder Leibeigener mehr ist, aber eben auch frei von Produktionsmitteln, Freier Arbeiter in dem Doppelsinn, wie Marx schreibt. Die doppelte Freiheit des Arbeiters hat konkret zur Folge, dass dieser zwar rechtlich mit dem Kapitalisten gleichgestellt ist, faktisch aber aufgrund des Privateigentums der Kapitalistenklasse an den Produktionsmitteln auch die politische Macht bei der Klasse der Kapitalisten konzentriert ist. Die von der bürgerlichen Ideologie angepriesene Demokratie und Gleichheit zwischen Arbeiter und Kapitalisten umfasst also nicht die Verwaltung der Produktionsmittel. Somit bestimmen die Kapitalisten grundlegend über Inhalt und Art und Weise der Produktion. Aber auch z.B. ideologisch können sie außerordentlich gestaltenden Einfluss auf die Gesellschaft nehmen, da sie die großen Verlagshäuser und andere Medieninstitute besitzen und für ihre Interessen einsetzen können.
Der Staat nimmt als Vertreter des Gesamtinteresses der Bourgeoisie die Rolle des ideellen Gesamtkapitalisten ein. Er muss eine möglichst erfolgreiche Reproduktion des nationalen Kapitals insgesamt ermöglichen, wobei er zwangsläufig auch mit Partikularinteressen einzelner Kapitalisten in Konflikt gerät. Einerseits vertritt er dafür das Interesse der gesamten Bourgeoisie gegenüber der Arbeiterklasse im Inland, andererseits wirkt er systemerhaltend, indem der Staat die Übergriffe einzelner Kapitalisten auf die Arbeiterklasse beschränkt, um beispielsweise die Arbeitsfähigkeit der Arbeiter längerfristig zu erahlten, wie am Beispiel des Verbots von Kinderarbeit deutlich wird. Engels schreibt über den ideellen Gesamtkapitalisten: „Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist.“ (MEW 20, S. 260)
Insgesamt verschleiert der bürgerliche Staat erfolgreich seinen Klassencharakter gegenüber den unterdrückten Klassen und erscheint tendenziell als klassenneutraler Vermittler zwischen Arbeitern und Kapitalisten. Er dämpft so zumindest zeitweise den offenen Klassenkampf ab und hemmt so das Heranreifen der Arbeiterklasse zu einer Klasse für sich. Dennoch kann der bürgerliche Staat beizeiten auch andere Formen als die bürgerlich-parlamentarische Demokratie annehmen: So kann er mit dem Faschismus die Form der äußersten Reaktion und dem offenen Terror gegen die unterdrückten Klassen annehmen. Trotz der Verschleierungstaktik ist auch für die unterdrückten Klassen die bürgerlich-parlamentarische Demokratie hinsichtlich der Kampfbedingungen für den Sozialismus die bessere Staatsform im Vergleich zum faschistischen Staat, da sie hier ihren politischen Kampf tendenziell am besten entfalten und offen führen kann (LW 25, S.410). Aus dieser Tatsache, darf allerdings nicht der Fehlschluss gezogen werden, dass Kommunisten nun für diese Staatsform als bessere Kampfbedingung kämpfen müssten (LW 25, S.410). Dass Kommunisten die bürgerliche Demokratie nicht gegen den Faschismus verteidigen sollten, liegt daran, dass der Übergang zwischen beiden fließend ist und der Klassencharakter beider Regierungsformen gleich ist. Beides sind Formen der bürgerlichen Herrschaft, wobei die bürgerliche Demokratie den Faschismus hervorbringt. Entsprechend muss der Kampf um die Erhaltung demokratischer Rechte und die Zurückdrängung des Faschismus untrennbar mit dem Kampf für den Sozialismus verbunden sein.
Historisch entwickelte sich in Europa der bürgerliche Staat aus dem Feudalstaat des Adels und der Kirche, getragen durch die damals noch progressiven Kräfte der Bourgeoisie. Triebkraft dieser Entwicklung war der Widerspruch zwischen Produktionsverhältnissen des feudalen Staates mit Leibeigenschaft, dem Zunftsystem und in manchen Teilen auch der Kleinstaaterei als Handelshemmnis einerseits und der Entwicklung der Produktivkräfte andererseits (MEW 17, S. 539). Diese Entwicklung gipfelte in den revolutionären Umstürzen zugunsten der Bourgeoisie vom 17. bis in das 19. Jahrhundert. Der Kapitalismus konnte sich voll entfalten als Kapitalismus der freien Konkurrenz und führte ab Ende des 18. Jahrhunderts zu einer rasanten Entwicklung der Produktivkräfte und Industrialisierung großer Teile Europas und später auch Nordamerikas. An die Entwicklung der Produktivkräfte gekoppelt gewann auch die Rolle des Staates für die Aufrechterhaltung der bürgerlichen Herrschaft an Gewicht, der innenpolitisch repressiver gegenüber der wachsenden Arbeiterklasse und außenpolitisch im Sinne einer weiteren Expansion auftrat. Durch die Entwicklung der Produktivkräfte wurde der Nationalstaat als Absatzmarkt und Raum für profitable Investitionen zu klein für das Kapital: Staat und Kapital drängten zur Expansion nach außen – das Kapital wirtschaftlich, der Staat politisch-militärisch (LW 22, S.144).
2.1.2 Der Staat im Imperialismus
Der Höhepunkt dieser Entwicklung war der Übergang in das imperialistische Stadium des Kapitalismus, den Monopolkapitalismus. In dieser neuen Phase des Kapitalismus wurden die Monopole zum wesentlichen Element, das den Charakter der Ökonomie prägte. Der Staat bleibt Vertreter des Gesamtinteresses der Kapitalistenklasse als ideeller Gesamtkapitalist. Er muss es bleiben, denn auch das nicht-monopolistische Kapital hat zusammengenommen einen gewissen Stellenwert für die nationale Kapitalakkumulation als Ganzes. Allerdings erlangen die Monopole und die Monopolbourgeoisie eine herausragende Stellung in ihrem Einfluss auf den Staat. Das liegt einerseits daran, dass ihre wirtschaftliche Bedeutung immer weiter zunimmt, da sie einen immer größeren Anteil des Kapitals unter sich konzentrieren. Andererseits erlangen sie im Gegensatz zum nicht-monopolistischen Kapital nun zunehmend die Möglichkeit unmittelbar durch personelle Verbindungen und Lobbyismus Einfluss auf den Staat zu nehmen.
Im Imperialismus verschärft sich die Konkurrenz zwischen den Monopolen und zwischen den Staaten um die Neuaufteilung der Welt. Um weiterhin Profite für die nationale Bourgeoisie und besonders die nationalen Monopole aufrechtzuerhalten und auszuweiten, bedient sich der Staat im Imperialismus im Inneren einerseits der politischen Reaktion im Sinne einer gewaltvollen Niederhaltung der Arbeiterklasse, andererseits einer Integration durch die Bildung einer Arbeiteraristokratie, die Eingliederung der Sozialdemokratie in das kapitalistische System und ihren Verrat an der Arbeiterklasse sowie im Äußeren einer gewaltsamen Konkurrenz mit den anderen imperialistischen Staaten.
Gleichzeitig muss der Staat selbst zunehmend wirtschaftliche Funktionen übernehmen, um die Profite der Monopole abzusichern. Sei es durch Subventionen, Rettungspakete oder teilweise Verstaatlichungen von Unternehmen. Die durch den tendenziellen Fall der Profitrate zunehmende Krisenhaftigkeit der Wirtschaft macht eine aktive, regulierende Rolle des Staates für das System überlebenswichtig. Der Staat als ideeller Gesamtkapitalist kann also zumindest phasenweise als Unternehmer auftreten und sich damit in Beziehung zu den ökonomischen Entwicklungen weltweit setzen (MEW 20, S.259). In seiner Funktion als ideeller Gesamtkapitalist übernimmt der Staat expansive Aufgaben als weltweiter Interessenvertreter seiner nationalen Bourgeoisie und Monopole, z.B. Diplomatie, Aufbau eines riesigen Militärapparates, Beteiligung an Kriegen usw. usf., sowie strukturelle Aufgaben, wie z.B. den Aufbau von Infrastruktur, die Organisation des Gesundheitssystems, den Aufbau eines Beamtenapparates usw. usf.
Historisch kennzeichnete die Entwicklung des Imperialismus in der Phase vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Zerschlagung der letzten Kolonialreiche Mitte des 20. Jahrhunderts die Unterwerfung ganzer Weltteile als Kolonien oder Halbkolonien. Für die imperialistischen Staaten bedeutete das die militärisch-politische Eroberung ferner Länder, um die eigenen Profitraten zu steigern und überschüssiges Kapital profitabel investieren zu können, Absatzmärkte und Ressourcen zu sichern. Für die unterdrückten Nationen und Völker bedeutete dies schärfste Ausplünderung der nationalen Ressourcen, gepaart mit kultureller und sozialer Unterdrückung, aber eben auch Entwicklung der Produktivkräfte durch den Kapitalexport aus den imperialistischen Staaten. Seit den nationalen Befreiungskämpfen Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich das Verhältnis der Staaten der Welt grundlegend geändert: Kolonien verschwanden fast vollständig von der Bildfläche, neue Staaten entstanden, die sich im Spannungsfeld zwischen imperialistischem und sozialistischem System sahen. Seit der Konterrevolution und damit der Auflösung des sozialistischen Systems sind die neu entstandenen Staaten Teil des imperialistischen Weltsystems geworden. Konkret bedeutet dies, dass sich fast alle Staaten in die wechselseitigen Abhängigkeiten der imperialistischen Hierarchie integriert haben und den Auf- und Abstiegsprozessen innerhalb des Systems unterworfen sind.
In den Programmatischen Thesen hat die KP bereits deutlich Stellung zum Staatsverständnis bezogen: Wir gehen davon aus, dass der bürgerliche Staat “die Interessen der Kapitalistenklasse als Ganzer durch[setzt], indem er ihr möglichst gute Bedingungen für die Anhäufung ihres Kapitals bietet […] Er vertritt grundsätzlich die Interessen der ganzen Bourgeoisie, insbesondere aber die Interessen der mächtigsten Teile darin.”
Der bürgerliche Staat ist Ausdruck der Unversöhnlichkeit der Klasseninteressen miteinander. Innerhalb dieses unversöhnlichen Gegensatzes setzt er die Interessen der Kapitalistenklasse als Ganzer durch, indem er ihr möglichst gute Bedingungen für die Anhäufung ihres Kapitals bietet. Deshalb ist der bürgerliche Staat nichts anderes als die politische Herrschaft der Bourgeoisie, ideeller Gesamtkapitalist. Er vertritt grundsätzlich die Interessen der ganzen Bourgeoisie, insbesondere aber die Interessen der mächtigsten Teile darin.
Dieser Klassencharakter des Staates macht es für die Arbeiterklasse (oder auch jede andere Klasse) unmöglich, ihn zu übernehmen und in ihrem Interesse zu verwenden. Die proletarische Revolution bedeutet aber auch nicht die sofortige Abschaffung des Staates. Sie ist die Zerschlagung des bürgerlichen Staates und die Errichtung eines neuen Staates der Arbeiterklasse, der Diktatur des Proletariats.
2.2 Das Staatsverständnis von Parteien der Internationalen Kommunistischen Bewegung
Innerhalb der Diskussion um die richtige Staatstheorie machen sich zwischen den Parteien in der kommunistischen Bewegung Dissense auf, die von praktischer Relevanz sind. Denn aus der unterschiedlichen Bestimmung des Charakters des Staates im Imperialismus, als hauptsächlichem Antagonisten im Klassenkampf, resultieren zwangsläufig unterschiedliche Schlussfolgerungen für die revolutionäre Strategie der Kommunisten. Hervorzuheben ist hierbei die Frage “Wessen Staat ist der Staat im Imperialismus?” Ist er weiterhin Staat des Kapitals insgesamt? Üben die Monopole eine alleinige Diktatur über ihn aus? Oder werden die Staaten sogar von internationalen Kapitalgruppen unterdrückt, die selber keine nationalstaatliche Bindung mehr haben? Daran schließt die Frage an, ob der existierende Staat zwangsläufig einen bürgerlichen Klassencharakter hat und daher in einer Revolution zerschlagen und ersetzt werden muss oder er ein relativ neutrales Instrument ist, das durch Hegemonie-Kämpfe von der Arbeiterklasse übernommen werden kann.
2.2.1 Wessen Staat?
Die Parteien, die innerhalb der IKB an der Schaffung eines revolutionären Pols arbeiten, gehen davon aus, dass der Staat im Imperialismus grundsätzlich Staat der Bourgeoisie insgesamt bleibt. Die KKE weist darauf hin, dass der Staat nicht den Interessen eines einzelnen Monopols nachgebe. Die einzige Ausnahme hierzu bezieht sich nur auf die Dominanz des Staatsmonopols in einem Sektor, falls dies dem Kapital nützlich ist. Die KKE schreibt hierzu: “Sogar der Staat der Kapitalisten selbst verhindert die totale Beherrschung eines Monopols in einem Sektor (Kartellrecht), mit der einzigen Ausnahme, dass das Staatsmonopol so lange geschützt wird, wie es die kapitalistische Entwicklung selbst benötigt (z. B. bei der Produktion und Verteilung von Elektrizität, solange es für das Privatkapital nicht rentabel war)” (KKE, 2013(b)).
Demgegenüber stehen zunächst Positionen, die wesentlich an der “Stamokap”-Theorie anknüpfen und behaupten, dass die Monopole mit dem Staat vollständig verschmolzen sind und diesen beherrschen. Ein Ausdruck davon sei unter anderem, dass der Staat immer mehr als Eigentümer und somit reeller Gesamtkapitalist auftrete. So schreibt etwa die DKP in ihrem Parteiprogramm: “Die Macht der Monopole und die Macht des Staates vereinigten sich zum staatsmonopolistischen Kapitalismus” (DKP, 2006). An anderer Stelle im Programm schreibt sie explizit über eine politische (!) Herrschaft der Monopole über nicht-monopolistische Teile des Kapitals: “Auf der einen Seite steht eine kleine Gruppe von Konzernherren, Bankchefs und Multimillionären. Auf der anderen Seite steht die überwältigende Mehrheit der Arbeiter, Angestellten und Beamten, der in der Landwirtschaft Beschäftigten, der Intelligenz, der Freiberufler und auch kleine und mittlere Unternehmer, die alle der ökonomischen und politischen Herrschaft des Monopolkapitals unterworfen sind” (DKP, 2006).
Darüber hinaus spricht die DKP an anderen Stellen von der erfolgten Herausbildung eines transnationalen Kapitals, welches das Verhältnis von Staat und Kapital wiederum modelliere. Die transnationalen Konzerne seien die “stärksten, bestimmenden Kapitalgruppen” (Hager, 2017). In ihrem Programm wird vom transnationalen Kapital fernerhin als “beherrschendem” Kapital gesprochen (DKP, 2006). Dieser neue Kapitaltyp habe keine nationalstaatliche Bindung mehr und verstricke andersherum alle Staaten “in einen erbarmungslosen Konkurrenzkampf um die für die Transnationalen Konzerne profitabelsten Konditionen” (DKP, 2006). Somit sei der Staat zwar noch der Staat der (nationalstaatlich gebundenen) Monopolbourgeoisie, diese sei jedoch letztlich den Profit- und Machtinteressen der Transnationalen Konzerne unterworfen.
Eine Variante dieser Position vertritt auch die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD). Nach ihrer Analyse habe sich ein „allein herrschendes internationales Finanzkapital“ bzw. „internationale Übermonopole“ herausgebildet, die vom nationalen Monopolkapital zu unterscheiden seien. Ebenfalls seien die „internationalen Übermonopole“ dem nationalen Monopolkapital übergeordnet und würden „zunehmenden Krisenlasten“ auf dieses abwälzen. Die “Übermonopole” hätten ihre allseitige Herrschaft über die gesamte Gesellschaft, auch über andere Monopole und die nicht monopolisierten Kapitalisten, errichtet (MLPD, 2016: Parteiprogramm). Daraus ergebe sich auch ein „Widerspruch zwischen den imperialistischen Nationalstaaten und zwischen den internationalen Übermonopolen“, der einer der fünf hauptsächlichen Widersprüche des heutigen Kapitalismus sei (ibid.).
Diesen Vorstellungen von Monopolen, die beherrschend über den Nationalstaaten stehen, widersprechen die KKE und TKP. Sie betonen explizit, dass die Monopole trotz eines globalen Agierens an ihre jeweiligen Nationalstaaten gebunden sind (KKE, 2013(b); TKP, 2017). Die KKE beispielsweise führt aus, dass amerikanische Monopole trotz ihrer weltweit dominierenden wirtschaftlichen Stellung noch immer ihre Profite mehrheitlich innerhalb der USA erzielen (KKE, 2017). Außerdem macht sie deutlich, dass jeder bürgerliche Nationalstaat seine wirtschaftliche, politische und militärische Stärke einsetzt “um seine heimischen Monopolgruppen im internationalen Wettbewerb zu unterstützen. Unabhängig von seiner potenziellen multinationalen Aktionärsstruktur hat jeder Monopolkonzern Bindungen und Bezüge zu einem bestimmten bürgerlichen Staat und den entsprechenden imperialistischen Bündnissen. Letztlich hat jede Aktiengesellschaft die kapitalistische Wirtschaft eines bestimmten Staates als Basis, und auf diesem objektiven Terrain erwirbt sie das Potenzial, einen Teil ihres Kapitals zu exportieren. Der bürgerliche Nationalstaat bleibt also das grundlegende Organ, das die wirtschaftliche Vorherrschaft der Monopole, die Konzentration und Zentralisierung des Kapitals in Konkurrenz zu ähnlichen Prozessen in anderen Staaten sichert” (KKE, 2017).
Die unterschiedlichen Theorien über das Verhältnis von Kapital(-Fraktionen) und Staat im Imperialismus haben in der Regel unterschiedliche Strategie-Vorstellungen zur Folge. Etwa bei der DKP leitet sich die “antimonopolistische Strategie” wesentlich daraus ab, dass sie eine politisch-ökonomische Herrschaft der Monopole über alle Teile der Gesellschaft behaupten. Dieses Herrschaftsverhältnis müsse zunächst in einem breiten Bündnis, auch mit Teilen der nicht-monopolistischen Bourgeoisie, gelöst werden. So schreibt die DKP auch in ihrem Mannheimer Programm von 1978 von grundlegenden gemeinsamen Interessen der Arbeiterklasse mit den “gewerblichen Mittelschichten”, also der kleinen und mittleren Bourgeoisie (Parteivorstand der DKP, 1978, S.231). Dieser Kampf stellt für die DKP eine strategische Etappe dar.
Kann der Staat von der Arbeiterklasse übernommen werden?
Andersherum können die unterschiedlichen Strategievorstellungen der Parteien wiederum Aufschluss über deren Staatstheorie geben. Eine reformistische Strategie geht davon aus, dass die Arbeiterklasse den Staat Schritt für Schritt übernehmen kann. Der vorherrschende Staat sei demnach insofern klassenneutral, als dass sein Klasseninhalt von den in ihm stattfindenen Hegemoniekämpfen bestimmt wird. Vor allem über den Einzug in die Regierung könnten die Kommunisten daher den bürgerlichen Staat Schritt für Schritt mit sozialistischem Inhalt füllen.
Besonders deutlich wurden solche Vorstellungen im Mannheimer Programm der DKP festgehalten, sind aber im Wesentlichen auch im heute geltenden Parteiprogramm von 2006 weiterhin vertreten. Es gehe darum in einem “Bündnis der verschiedenen Parteien” den Bundestag vom “großkapitalistischen Einfluss” zu befreien (Parteivorstand der DKP, 1978, S.251) und damit eine Wende zum “sozialen und demokratischen Fortschritt” einzuleiten die zunächst in eine antimonopolistischen Demokratie als Übergangsphase mündet. Unter dieser Übergangsetappe versteht die DKP “eine Periode grundlegender Umgestaltungen, in der die Arbeiterklasse und die anderen demokratischen Kräfte über so viel politische Kraft und parlamentarischen Einfluss verfügen, dass sie eine ihre gemeinsamen Interessen vertretende Koalitionsregierung bilden können. Diese Regierung würde […] die Armee, die Polizei, die Justiz und den Verwaltungsapparat sowie die Massenmedien vom Einfluss neonazistischer und militaristischer Kräfte befreien und den Missbrauch der staatlichen Machtorgane gegen das Volk und die verfassungsmäßige Regierung unterbinden” (ibid., S.254). Dieser Prozess würde schließlich ohne revolutionären Bruch im Sozialismus münden können.
Eine ähnliche Vorstellung vom tendenziell klassenneutralen Staat legt die KPRF in ihrem Parteiprogramm dar. Dort beschreibt sie “drei Phasen für die friedliche Verfolgung ihrer strategischen Ziele” (KPRF, 2008) – drei Reformetappen mit denen sie den Sozialismus erreichen wollen. In einer ersten Phase versucht die KPRF zusammen mit “breiten volksdemokratischen Kräften” parlamentarische Wahlen zu gewinnen und eine “Regierung mit dem Vertrauen des Volkes” herzustellen. Auf Grundlage dieser politischen Macht im bürgerlichen Staat streben sie dann an, schrittweise Großunternehmen in Staatseigentum zu verwandeln und Mitbestimmungsmöglichkeiten für die Arbeiterklasse zu schaffen. Auch hier herrscht ein Verständnis des Staates als relativ klassenneutralem Werkzeug vor, das sowohl von der Bourgeoisie, als auch von der Arbeiterklasse für ihre Zwecke genutzt werden kann.
Demgegenüber steht die Einordnung des bürgerlichen Staates durch die KKE und PCM, die auf die Zerschlagung des bürgerlichen Staates von außen abzielt. Es werden gegen den bürgerlichen Staat Organe der Volksmacht aufgebaut, die diesen Kampf führen, gewinnen und sich schließlich selber zur proletarischen Staatsgewalt konstituieren. In ihrem Programm schreibt die KKE dazu: “Unter den Bedingungen einer revolutionären Situation kann die revolutionäre Arbeiter- und Volksfront mit all ihren Aktionsformen das Zentrum des Volksaufstandes gegen die kapitalistische Macht werden, indem sie die Vormacht in wichtigen Bereichen, wie den Industrie-, Handels- und Transportzentren, sowie in den Telekommunikations- und Energiezentren erringt. So können die Mechanismen der bürgerlichen Herrschaft außer Kraft gesetzt und deren Neutralisierung erreicht werden, so können sich der Sturz der Diktatur der Bourgeoisie und die vom Volk geschaffenen revolutionären Institutionen durchsetzen, welche die Neuorganisierung der Gesellschaft und die Errichtung der revolutionären Arbeitermacht durchführen” (KKE, 2013(a): Parteiprogramm). Die zentrale Grundannahme dieser Strategie ist, dass der bürgerliche Staat seinem ganzen Wesen nach auf die Aufrechterhaltung der bürgerlichen Herrschaft ausgerichtet ist und nicht sozialistisch reformiert werden kann.
Entsprechend unserem Imperialismusverständnis lehnen wir die Vorstellung einer absoluten Herrschaft der Monopole im Staat, wie sie zum Beispiel von der DKP vertreten wird, ab. Da die Rolle der Monopole für die nationale Kapitalakkumulation durch die Konzentration und Zentralisation des Kapitals immer entscheidender wird, werden ihre Interessen zwar auch zunehmend bestimmend für die staatliche Politik. Und auch die personellen Verflechtungen und direkten Formen der Einflussnahme der Monopole auf die Politik nehmen zu. Allerdings muss der bürgerliche Staat weiterhin als Vermittler zwischen allen “einheimischen” Kapitalgruppen die erfolgsversprechendste Strategie zur Akkumulation insgesamt durchsetzen, um eben die Kapitalakkumulation insgesamt möglichst gut voranzutreiben.
Eine antimonopolistische Strategie, wie sie etwa von der DKP vertreten wird, lehnen wir ebenfalls ab. Der theoretische Fehler dieser Strategie liegt zum einen in der Annahme, man könne Teile der Bourgeoisie und ihrer Parteien für den Kampf gegen die Monopole gewinnen und zum zweiten darin, von einer Zwischenstufe auf dem Weg zum Sozialismus auszugehen, wobei der Staat auch eine Zwischenform zwischen der Herrschaft der Bourgeoisie und der der Arbeiterklasse sein könne. Die Aussage Lenins, dass das Monopol im Imperialismus alle anderen Formen des Kapitals unterwerfen würde, ist nicht so zu verstehen, dass hier ein vergleichbarer Widerspruch wie der zwischen Arbeit und Kapital bestünde. Diese Unterwerfung kann die Form eines direkten Widerspruchs annehmen, allerdings berührt dieser den Kampf der Arbeiter nur insofern, als dass es sich um einen Konflikt darum handelt, wer sie ausbeutet. Viele der nicht-monopolistischen Unternehmen sind jedoch auch Zulieferer für Monopolunternehmen und in diesem Sinne „unterworfen“ und auf vielfache andere Weise mit ihnen verbunden, zum Beispiel als Kreditnehmer, Kunden, Aktionäre usw.usf. Es bleibt in der Strategie der DKP auch unklar, was es konkret für die Arbeiter hieße, sich in “kleinen und mittleren Unternehmen“ mit ihren Chefs gegen das Monopolkapital zu verbünden.
Kapitel 3: Abhängigkeiten und das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung
Das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung ist untrennbar mit der Entstehung von ungleichen wechselseitigen Abhängigkeiten im imperialistischen Weltsystem verbunden. Das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung beschreibt, dass sich im Kapitalismus einzelne Unternehmen, Industriezweige und Staaten als Ganze ungleich entwickeln. Dies ist auf die Anarchie der Produktion zurückzuführen. Im imperialistischen Stadium des Kapitalismus nimmt die Intensität der ungleichmäßigen Entwicklung mit der Monopolbildung zu. Mit der Monopolbildung geht auch der Drang nach profitablen Anlagen des überschüssigen Kapitals in Form von Kapitalexport in andere Länder einher. Auf dieser Grundlage bilden sich Abhängigkeiten zwischen den Staaten heraus. Das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung und das Herausbilden von Abhängigkeiten sind also eng miteinander verbunden. Im Folgenden werden sie dennoch zunächst getrennt voneinander dargestellt, um deutlich zu machen, was diese im Wesentlichen kennzeichnet. Darauf aufbauend werden sie historisch eingeordnet, um deren Bedeutung für das imperialistische Weltsystem zu bestimmen.
3.1 Das Verständnis der KP von Abhängigkeiten und dem Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung im imperialistischen Weltsystem
3.1.1 Das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung
Im ersten Kapitel wurde dargelegt, dass der Kapitalismus als Produktionsweise auf der Akkumulation von Mehrwert bei privatem Besitz der Produktionsmittel basiert, was notwendigerweise mit der Konkurrenz zwischen kapitalistischen Unternehmen einhergeht. Da die verschiedenen Marktteilnehmer im Kapitalismus in der Regel nur durch die Generierung und Erhöhung des Profits existieren und überleben können, kann die Produktion nur insofern gesellschaftliche Bedürfnisse befriedigen, als dass diese kaufkräftig und profitabel ausschöpfbar sind. Da das Privateigentum an Produktionsmitteln konkurrierende Privatinteressen hervorbringt, die relativ unabhängig entsprechend ihren individuellen Interessen agieren, ist die Produktion insgesamt zwangsläufig chaotisch. Anstatt ein gemeinsamer, bewusster und gesellschaftlicher Plan ist es im Kapitalismus das Wertgesetz, das die Verteilung von Waren bestimmt und damit indirekt die Produktion “hinter dem Rücken der Produzenten” strukturiert. Es herrscht Anarchie in der Produktion.
Der Drang zur Akkumulation von Profit geht mit ökonomischer und insgesamt mit gesellschaftlicher Entwicklung einher. Entwicklung im marxistischen Sinne erfasst den Entwicklungsgrad der Produktivkräfte, also in welcher Qualität und Quantität eine Gesellschaft mit ihrer Infrastruktur, Technologie, Produktionsmittel, Wissenschaft etc. in der Lage ist, Gebrauchswerte zu produzieren. Der Begriff der „Entwicklung“ ist im marxistischen Sinn kein moralisch wertender Begriff, sondern hält ausschließlich fest, wie weit die Produktivkräfte zu einem bestimmten Zeitpunkt entwickelt sind. Es geht darum, was, wie viel und mit welchem Zeit- und Ressourcenaufwand eine Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Lage ist zu produzieren. Gemäß dem historischen Materialismus ist diese Entwicklung der Produktivkräfte grundlegend für die Entwicklung in allen anderen Bereichen der Gesellschaft wie Philosophie, Religion, Kunst, Politik usw. Die Fortentwicklung der Produktivkräfte vom Niederen zum Höheren ist dabei eine allgemein zu beobachtende Tendenz.
Um die Epoche des Imperialismus zu verstehen, ist das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung besonders relevant. Zunächst kann es so beschrieben werden, dass die Produktivkräfte verschiedener Länder und Regionen zu einem bestimmten Zeitpunkt qualitativ unterschiedlich entwickelt sind und dass sie hinsichtlich bestimmter ökonomischer Größen quantitativ unterschiedlich stark entwickelt sind. Um den relativen Entwicklungsstand der Länder zueinander zu kennzeichnen, spricht Lenin von Stärke oder Macht – auf Basis der Entwicklung der Produktivkräfte – und betont dadurch zugleich, dass es sich im Verhältnis der Länder zueinander um ein Konkurrenzverhältnis handelt (LW 22, S.300; LW 21, S. 344).
Ausgehend davon, dass die Ökonomien einzelner Länder unterschiedlich weit entwickelt sind, zeigt Lenin, dass es für die Bourgeoisie der weiter entwickelten Länder ab einem gewissen Punkt profitabler wird, den Kapitalüberschuss in weniger entwickelte Länder zu investieren statt im Inland. Dies kann auch der Fall sein und notwendig werden, wenn der Binnenmarkt gesättigt ist. Ungleiche Entwicklung ist damit nicht nur eine Notwendigkeit im Kapitalismus, sondern auch die Voraussetzung für Kapitalexport in weniger entwickelte Länder, bzw. weniger entwickelte Industriezweige und Industriezweige mit Profitmöglichkeiten in Ländern mit ähnlichem Entwicklungsniveau (LW 22, S. 245; vgl. Kapitel 1). Dieser Kapitalexport hat mehrere Folgen: In den Ländern, in die exportiert wird, beschleunigt er in der Tendenz die kapitalistische Entwicklung. In den exportierenden Ländern wird die kapitalistische Entwicklung dadurch tendenziell gehemmt, solange die Produktivkraftentwicklung im Inland weniger profitabel ist. Er ist der Motor der weltweiten Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise (LW 22, S.247). An dieser Stelle ist wichtig zu betonen, dass die Tendenz zum Kapitalexport ein rasches Wachstum des Kapitalismus nicht ausschließt: “einzelne Industriezweige, einzelne Schichten der Bourgeoisie und einzelne Länder offenbaren in der Epoche des Imperialismus mehr oder minder stark bald die eine, bald die andere dieser Tendenzen” (LW 22, 305f.). Heute hat sich diese in fast allen Ländern durchgesetzt, aber Kapitalexport wirkt nach wie vor auf Grundlage der Profitmaximierung, sodass auch Kapital aus Ländern mit entwickelten Produktivkräften in andere ähnliche oder noch weiter entwickelte exportiert wird, sofern dies auf Grundlage der ungleichen Entwicklung der Länder profitabel ist. Über den Kapitalexport teilen die Kapitalisten(verbände) die Welt unter sich, proportional zu ihrer ökonomischen Stärke, auf. In der unterschiedlichen wirtschaftlichen Stärke als der Basis eines Landes liegt die Grundlage für politische und militärischen Stärke, worin wiederum die Grundlage für die Aufteilung der Welt in Einflusssphären liegt. Dabei ist wichtig zu betonen, dass die politische und militärische Stärke nicht einseitig determiniert rein aus der ökonomischen Stärke erwächst. Die Aufteilung der Welt unter die Kapitalistenverbände führt allerdings nicht dazu, dass sich die kapitalistische Entwicklung verschiedener kapitalistischer Länder angleicht. Lenin betont vielmehr, dass sich aufgrund der ständigen Entwicklung der Produktivkräfte die Kräfteverhältnisse verschiedener Länder zueinander ständig verschieben und die Ungleichmäßigkeit des kapitalistischen Wachstums dabei in der Tendenz zunimmt (LW 22, S. 300; LW 21, S. 344; LW 22, S.306). Das Stärkeverhältnis verschiedener Länder zueinander, und damit auch ihre Fähigkeit zum Kapitalexport und die Aufteilung der Welt, ist dabei nicht statisch, sondern in stetiger Veränderung. Dass die Ungleichmäßigkeit des kapitalistischen Wachstums allgemein immer zunimmt, bedeutet nicht, dass das Ergebnis der ungleichmäßigen Entwicklung im Sinne von immer weiter entwickelten Staaten gegen weniger entwickelte Staaten zunimmt, sondern es bedeutet, dass die weltweite kapitalistische Entwicklung nicht gleichmäßig und gleichzeitig auf ein bestimmtes Entwicklungsziel hinausläuft.
Die Aufteilung der Welt basiert also auf dem ökonomischen Kräfteverhältnis der Staaten zueinander, mit dem das politische und militärische Kräfteverhältnis einhergeht, und das sich ständig verändert. Die veränderten Kräfteverhältnisse führen damit notwendig zur ständigen Neuaufteilung der Welt, seitdem die Aufteilung der Welt territorial abgeschlossen ist. Die Neuaufteilung der Welt kann ohne Krieg vonstattengehen. Allerdings betont auch Lenin, dass kapitalistische Entwicklung notwendig mit Zerstörung und Gewalt zusammenhängt: “Es fragt sich, welches andere Mittel konnte es auf dem Boden des Kapitalismus geben außer dem Krieg, um das Mißverhältnis zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und der Akkumulation des Kapitals einerseits und der Verteilung der Kolonien und der „Einflußsphären” des Finanzkapitals anderseits zu beseitigen?” (LW 22, S.280). Im Imperialismus bekommt dieser Charakter des Kapitals aufgrund der ungleichmäßigen Entwicklung im Zusammenhang mit der Monopolisierung, dem Kapitalexport und damit der (Neu-)aufteilung der Welt, eine besondere Bedeutung. Die Konkurrenz um die Neuaufteilung der Welt aufgrund der sich ungleichmäßig entwickelnden Stärke der Staaten führt notwendig zu Kriegen, da Einflusssphären kaum kampflos an den erstarkten Konkurrenten abgegeben werden. Der Verlust einer Einflusssphäre bedeutet immer auch eine relative Schwächung gegenüber dem Konkurrenten. An dieser Stelle ist wichtig zu betonen, dass gerade aufgrund des Gesetzes der ungleichmäßigen Entwicklung imperialistische Bündnisse immer instabil sind und es nicht zu einer ultraimperialistischen Vereinigung (siehe Kapitel 3.2) kommen kann.
3.1.2 Das Verständnis von Abhängigkeiten
Aufgrund der ungleichmäßigen Entwicklung im Zusammenhang mit der Monopolbildung gewinnt der Kapitalexport an Bedeutung gegenüber dem Warenexport (siehe Kapitel 1). Monopole bzw. monopolistische Kapitalistenverbände beginnen, sowohl national als auch international, die freie Konkurrenz abzulösen. Gleichzeitig nimmt die Trennung von Eigner und Anwender des Kapitals im Imperialismus mit dem international stark verflochtenen Finanzkapital (siehe Kapitel 1) eine neue Form weltumspannenden Ausmaßes an (LW 22, S. 102f.). Dies ist wiederum die Grundlage für das Verhältnis von Staaten – in Form von Abhängigkeiten – zueinander.
Einerseits erhöht die Ausweitung der kapitalistischen Produktion und die Zunahme des Austausches den Bedarf an Rohstoffen, welcher durch die heimische Förderung nicht gedeckt werden kann. Durch die Entwicklung der Produktivkräfte beginnen die relativ weiter entwickelten Staaten, deren Ressourcenverbrauch steigt, sich Rohstoffquellen in anderen Ländern verfügbar zu machen und stehen um eben diese Rohstoffquellen in Konkurrenz zueinander.
Andererseits nimmt das Finanzkapital und damit die Trennung von Eigner und Anwender des Kapitals gerade hinsichtlich der Bedeutung des Kapitalexports eine besondere Rolle ein, da es ökonomische Abhängigkeiten in Form von Gläubigern und Schuldnern hervorbringt. Die Entwicklung vom Warenexport zum Kapitalexport geht mit einem Wechsel vom Verkäufer-Käufer Verhältnis zu einem Gläubiger-Schuldner-Verhältnis einher, welches relativ zum ersteren allgemein langandauernder ist (LW 22, S. 283). Da die ungleichmäßige Entwicklung, wie oben dargestellt, auf Ebene einzelner Unternehmen, Industriezweige und Staaten stattfindet, und da der Kapitalexport an die Stellen fließt, wo Renditen zu erwarten sind, bilden sich Gläubiger-Schuldner-Verhältnisse auf allen Ebenen ungleich heraus. Auf Grundlage der ökonomischen Abhängigkeiten von Staaten entwickeln sich dann den ökonomischen Abhängigkeiten entsprechende politische und/oder diplomatische Abhängigkeiten LW 22, S. 264; S. 267f.). Diese Abhängigkeiten können zum Beispiel durch die Androhung von Sanktionen oder militärischer Intervention abgesichert werden.
Letztlich dienen Abhängigkeitsverhältnisse der Stärkung der Bourgeoisie. Sie zieht Extraprofite aus den Kostenvorteilen gegenüber dem heimischen Standort, oder aus vorab diktierten Bedingungen (bspw. im Hinblick auf den Warenabsatz), unter denen investiert oder Kredite vergeben wurden, oder sichert sich so Einflusssphären und damit Zugang zu Rohstoffen. Zudem führt die Integration ausländischer Produktion ins heimische Monopol zu einem Ansteigen des Warenhandels zwischen den jeweiligen Staaten. Umgekehrt können Staaten mit Rohstoffvorkommen (bzw. die Bourgeoisie, die diese kontrolliert), die für andere Staaten relevant sind, diese nutzen um Abhängigkeiten auf- und auszubauen. Dadurch sind Abhängigkeitsverhältnisse im Imperialismus relevant für die kriegerische Auseinandersetzung zwischen Staaten. Kriege dienen der Sicherung, Durchsetzung, aber auch der Auflösung von Abhängigkeitsverhältnissen in der monopolistischen Konkurrenz. Darüber hinaus sind Abhängigkeitsverhältnisse für imperialistische Kriege auch insofern relevant, als dass Abhängigkeiten auch dazu führen, dass abhängige Staaten in die Konflikte der Staaten, mit denen sie in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen, hineingezogen werden (LW 24, S. 307; LW 23, S. 349).
3.1.3 Die Bedeutung der ungleichmäßigen Entwicklung und der Abhängigkeiten in der Entwicklung des imperialistischen Weltsystems
Der Charakter der ungleichmäßigen Entwicklung und der Abhängigkeiten im Imperialismus kann unterschiedliche Ausdrucksformen annehmen. Besonderen historischen Ausdruck fand dies in der Kolonialisierung der Mehrheit der Welt unter einer Handvoll Großmächte, aufgrund der starken Ungleichheit in der Entwicklung des Kapitalismus weltweit und der voranschreitenden Monopolisierung in wenigen kapitalistischen Staaten.
Der Kapitalexport zu Zeiten Lenins floss zu großen Teilen in Kolonien und Halbkolonien, die zuvor unterworfen wurden. Wenige, am weitesten entwickelte Länder unterwarfen fast die gesamte übrige Welt. Zum Zweck dieser Unterwerfung wurden imperialistische Bündnisse auf Grundlage gleicher Interessen geschmiedet, was jedoch nichts am Konkurrenzcharakter der ungleichmäßigen Entwicklung änderte (LW 22, S. 244; LW 24, S.399). Die Großmächte unterwarfen sich Gebiete, um die Entwicklung ihrer Ökonomie zu befördern und ihrer Bourgeoisie den Zugriff auf Ressourcen und billige Arbeitskräfte; und damit größere Profite zu ermöglichen. Die Welt ist also nicht nur unter die Großmächte aufgeteilt, sondern damit einhergehend auch unter die Kapitalisten(verbände). Zur Zeit Lenins war die Welt unter wenigen Banken aufgeteilt, die alle wesentlichen Finanzmittel der Welt akkumulierten und ihre Finanzpolitik mit Hilfe der bewaffneten Macht ihrer Großmächte durchsetzten.
Durch die starke Zentralisation des Finanzkapitals Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnten einige wenige Staaten große Teile der Welt als Schuldner in ein Abhängigkeitsverhältnis bringen (LW 22, S. 244). Die entstandene Abhängigkeit von weiten Teilen der Welt von den weit entwickelten Ländern, führte dazu, dass statt der freien Konkurrenz nun die Verbindungen zu den abhängigen Ländern genutzt werden, um Profite zu beziehen. Der Anleihenhandel ist bspw. an Bedingungen geknüpft, die vorteilhaft für die eigene Industrie sind. Somit wird der Kapitalexport zu einem Mittel, den Warenexport zu fördern und weitere Profite zu beziehen. Die dabei diktierten Bedingungen setzten das eigene Profitinteresse zum Nachteil der abhängigen Länder. Der systematische Abschluss von Handelsverträgen diente also dazu, der eigenen Bourgeoisie vorteilhafte Bedingungen in der ganzen Welt zu ermöglichen (LW 22, S. 248; S.268; S. 298). Lenin zeigt auch, dass neben der ökonomischen Stärke eines Landes weitere Faktoren Einfluss darauf haben ob, und in welcher Größe, die Länder Kolonien besitzen. Es lässt sich also nicht ausschließlich aus der ökonomischen Stellung ableiten, inwiefern sich dieser Einfluss in Kolonialbesitz ausdrückt (LW 22, S.263)
Die Kolonialisierung bedeutete also für die Kapitalisten der weiter entwickelten kapitalistischen Länder großen Profit. Was, wie oben dargestellt, nicht bedeutet, dass in den Kolonien keine kapitalistische Entwicklung stattgefunden hätte. Kolonialisiert wurden zunehmend Gebiete, die bislang noch nicht der kapitalistischen Produktionsweise unterworfen waren, die daraufhin Teil des kapitalistischen Systems wurden. Ansätze kapitalistischer Entwicklung waren nach Lenin die Voraussetzung für Kapitalexport in eben jene Länder. Die kapitalistische Entwicklung wurde durch den Kapitalexport dann enorm beschleunigt. Ein Ausdruck hiervon waren nationale Befreiungskämpfe der unterdrückten Völker, da die nationale Idee auch Ausdruck der Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaft ist, vor allem da, wo die Bourgeoisie und die Arbeiterklasse darin eine Rolle spielen: „Eine der grundlegendsten Eigenschaften des Imperialismus besteht eben darin, daß er die Entwicklung des Kapitalismus in den rückständigen Ländern beschleunigt und dadurch den Kampf gegen die nationale Unterdrückung ausbreitet“ (LW 22, S. 302f.). Ein anderer Ausdruck für die kapitalistische Entwicklung in kolonisierten Ländern ist auch, dass sich einige ehemalige Kolonien selbst zu neuen imperialistischen Mächten entwickeln, wie bereits Lenin beschreibt (LW 22, S.247; S.279). Auch bei starken einseitigen Abhängigkeiten wie es im Kolonialsystem war, wirkte also das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung und Kapitalexport führt keineswegs dazu, dass Entwicklung absolut gehemmt würde.
Abhängigkeitsverhältnisse bezogen sich aber auch historisch (wie Lenin beschreibt) nicht nur auf das Verhältnis zwischen weit entwickelten und weniger entwickelten kapitalistischen Ländern. Auch zwischen mächtigen Finanzkapitalen und weiter entwickelten kapitalistischen Ländern entstehen durch die ökonomische Konkurrenz, in die sie treten, Abhängigkeitsverhältnisse, sobald sich die Möglichkeit bietet, ein konkurrierendes Kapital zu unterwerfen oder empfindlich zu schwächen, so dass auch zwischen den entwickelten und mächtigsten Staaten Abhängigkeitsverhältnisse entstehen (LW 22, S. 253). Sobald also ein Staat einen entwickelten Kapitalismus und Monopole aufweist, ist es unausweichlich, dass »sein« Kapital bestrebt ist, andere Länder in Abhängigkeitsverhältnisse zu bringen, um die eigene relative Stärke auszuweiten. Diese Abhängigkeiten entwickeln sich aufgrund der ungleichmäßigen Entwicklung und der Konkurrenz der Monopole auch zwischen Ländern auf ähnlichem Entwicklungsniveau.
Entsprechend gilt für das heutige Verständnis des imperialistischen Weltsystems, dass durch die ungleichmäßige Entwicklung zusammen mit dem Kapitalexport, der ständigen Notwendigkeit zur Neuaufteilung von Einflusssphären, eine wechselseitig verflochtene und wechselseitig voneinander abhängige Bourgeoisie in (fast) allen Staaten der Welt besteht, deren nationalen Interessen sie über ihren Staat durchsetzt. Diese wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnisse sind aufgrund der ungleichmäßigen Entwicklung notwendig ungleich.
Diese Entwicklung macht gleichzeitig deutlich, dass es im heutigen imperialistischen Weltsystem vollständige ökonomische Unabhängigkeit von Staaten nicht geben kann, da die Entwicklung des Kapitalismus zur Monopolbildung und zum Kapitalexport den ökonomischen Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus innewohnen, sodass die Abhängigkeiten zwischen den Staaten die Subsistenzwirtschaft einzelner Staaten ausschließen. Politik entwickelt sich immer auf der Basis der ökonomischen Entwicklungen. Dies gilt auch für politisch unabhängige Staaten, da die Grundlage für Politik immer die Ökonomie bleibt, die zwar relativ eigenständig den kapitalistischen Interessen nachgeordnet ist, aber doch immer von diesen bestimmt wird (Vergleiche Kapitel 2).
An dieser Stelle wird auch deutlich, dass volle politische Selbstbestimmung der Völker nur im Sozialismus möglich ist, in dem die ökonomische Entwicklung nicht von den Interessen der Bourgeoisie gelenkt ist.
Der Grund, warum der Sozialismus heute als unmittelbares Kampfziel auf der Tagesordnung in jedem Land steht, und warum der weltweite Sieg des Sozialismus – anders als vom Trotzkismus behauptet – keine Voraussetzung für den sozialistischen Aufbau ist, liegt wiederum im Gesetz der ungleichen Entwicklung. Lenin schreibt: “Die Ungleichmäßigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung ist ein unbedingtes Gesetz des Kapitalismus. Hieraus folgt, daß der Sieg des Sozialismus zunächst in wenigen kapitalistischen Ländern oder sogar in einem einzeln genommenen Lande möglich ist“ (LW 21, S. 345 f.). Diese Verbindung ist auf das Wechselverhältnis der subjektiven und objektiven Bedingungen einer revolutionären Situation zurückzuführen, die sich in den kapitalistischen Ländern ungleichzeitig – in Abhängigkeit von den jeweiligen ökonomischen und politischen Verhältnissen in einem Land – entwickeln. Dies macht er besonders deutlich hinsichtlich der revolutionären Situation, die sich in zwischenimperialistischen Kriegen bieten (können): “Der Krieg wird sowohl von der deutschen als auch von der englisch-französischen Bourgeoisie geführt, um fremde Länder auszurauben, um die kleinen Völker zu versklaven, um die Finanzherrschaft über die Welt zu errichten, um die Kolonien zu teilen und neu aufzuteilen, um durch Betrug und Entzweiung der Arbeiter in den verschiedenen Ländern die untergehende kapitalistische Ordnung zu retten. Der imperialistische Krieg mußte mit objektiver Zwangsläufigkeit den Klassenkampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie außerordentlich beschleunigen und unerhört zuspitzen, er mußte sich in den Bürgerkrieg zwischen den feindlichen Klassen verwandeln” (LW 23, S. 313); wobei der imperialistische Krieg selbst das Resultat der ungleichmäßigen Entwicklung ist.
Weiter macht Lenin deutlich: “Drittens schließt der in einem Lande siegreiche Sozialismus keineswegs mit einem Male alle Kriege überhaupt aus. Im Gegenteil, er setzt solche voraus. Die Entwicklung des Kapitalismus geht höchst ungleichmäßig in den verschiedenen Ländern vor sich. Das kann nicht anders sein bei der Warenproduktion. Daraus die unvermeidliche Schlußfolgerung: Der Sozialismus kann nicht gleichzeitig in allen Ländern siegen. Er wird zuerst in einem oder einigen Ländern siegen, andere werden für eine gewisse Zeit bürgerlich oder vorbürgerlich bleiben.” (LW 23, S.74)
3.2: Das Verständnis anderer Parteien von Abhängigkeit und dem Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung
Das Verständnis des Gesetzes der ungleichmäßigen Entwicklung und von Abhängigkeitsverhältnissen im Imperialismus nimmt in der Diskussion in der Kommunistischen Bewegung einen zentralen Stellenwert ein. Gerade aus dem Verständnis des Gesetzes der ungleichmäßigen Entwicklung entwickelt sich ein richtiges oder falsches Verständnis der Entwicklungsdynamik im Imperialismus seit Lenin. Uneinigkeit herrscht in der Bewegung hinsichtlich der Wirkung des Gesetzes der ungleichmäßigen Entwicklung, worauf aufbauend ein unterschiedliches Verständnis zur Struktur der Abhängigkeiten folgt und entsprechende Schlussfolgerungen für die Strategie gezogen werden. Diese drei Aspekte bauen im jeweiligen Verständnis der Parteien aufeinander auf. Im Folgenden werden diese drei Aspekte jedoch getrennt voneinander dargestellt, um die jeweiligen Dimensionen zu verdeutlichen. Die Trennung der drei Aspekte ist nicht in allen Teilen scharf. Sie bauen an vielen Stellen aufeinander auf und ergänzen sich.
3.2.1 Einschätzungen der Entwicklungsdynamik des Gesetzes der ungleichmäßigen Entwicklung
Hinsichtlich der Entwicklungsdynamik des Gesetzes der ungleichmäßigen Entwicklung besteht in der kommunistischen Bewegung Dissens über dessen Wirkung. Auf der einen Seite stehen Parteien wie die KPRF und RKAP, die das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung so verstehen, dass die Kluft im Entwicklungsniveau zwischen den am weitesten entwickelten Ländern und den weniger entwickelten Ländern immer weiter zunimmt. Dahinter steckt ein Verständnis von ungleichmäßiger Entwicklung, wonach die weiter entwickelten Länder durch den Kapitalexport in weniger entwickelte Länder deren Entwicklung hemmen würden. Die weiter entwickelten Länder entwickelten sich demnach auf Kosten der weniger entwickelten Länder, insofern dass die Ressourcen hauptsächlich an die entwickelten Länder abfließen würden. In diesem Verständnis besteht einerseits eine zentrale Brücke zur Dependenztheorie, wie im Unterpunkt zum unterschiedlichen Verständnis von Abhängigkeitsverhältnissen genauer dargestellt wird. Andererseits besteht in diesem Verständnis eine Parallele zur Ultraimperialismustheorie, bei der nach Kautsky die Entwicklung von Ländern (alias Monopolen in diesen Ländern) immer weiter fortschreitet und in den weniger entwickelten Ländern keine Entwicklung stattfinde und es durch Absprachen zwischen den fortgeschrittenen Ländern zu einem sich alles einverleibenden Ultramonopol bzw. sich alles unterordnenden Staat führt. Entgegen der so verstandener Ausschaltung zwischenimperialistischer Konkurrenz handelt es sich bei der KPRF um das Verständnis eines Superimperialismus, der Entwicklung hin zu einem imperialistischen Pol. Dies führt ebenso zu einem statischen System, das Entwicklungen hinsichtlich Erstarken und Abschwächen von Staaten wie z.B. Indien, nicht erklären kann.
Der KPRF zufolge, folgt auf die Aufteilung der Welt eine Periode der “Konsumgesellschaft” für “die Gruppe der entwickelten kapitalistischen Länder, der sogenannten ‘Goldene Milliarde’”, als Folge der Verwendung von “räuberische[r] Ausbeutung der Ressourcen des Planeten, Finanzspekulationen, Kriege und neue[r] ausgefeilte[r] Methoden der Kolonialisierung” in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch diese Gruppe. Dabei handele es sich um übermäßige Ausbeutung und Marktexpansion durch penetrante Werbung und andere Methoden des psychologischen Drucks“, wobei dieser Globalismus – als aktuelle Periode des Imperialismus – von den USA und ihren engsten Verbündeten verfolgt würde (KPRF, 2008: Parteiprogramm). Dabei sichere der Kapitalismus einer kleinen Gruppe von Ländern ein hohes Konsumniveau. Eine andere Gruppe, insbesondere Russland, wird “zu einem Rohstoffanhängsel der imperialistischen Staaten” (ibid.) Im Zuge des Globalismus der USA und ihrer Verbündeten wird “versucht, die ganze Welt in sein Informationsnetz zu verstricken, um Egoismus, Gewalt, Seelenlosigkeit und Kosmopolitismus zu verbreiten” (ibid.). Hieran wird deutlich, dass die KPRF die USA und ihre Verbündeten als diejenigen betrachtet, die sich im Imperialismus entwickeln, während in den anderen Staaten, die als bloße Rohstoffanhängsel gehalten werden, kaum Entwicklung stattfinde. Die USA und ihre Verbündeten würden zu einer Art Superimperialist, der die ganze Welt unter sich eint.
Auch bei der RKAP findet sich das Verständnis der ungleichmäßigen Entwicklung als Kluft zwischen den entwickelten und weniger entwickelten Ländern, die weiter zunehmen. Die RKAP schätzt Russland als eine Rohstoffquelle und einen Absatzmarkt für den Westen ein, nennt aber auch China als wichtigen Warenexporteur auf dem russischen Markt, wobei es hier jedoch auch v.a. die westlichen Transnationalen Kapitale seien, die Produktionsstätten in China haben. Sie nennt die fehlende Modernisierung der Wirtschaft als Beispiel für die Schwäche der Russischen Föderation (RKAP, 2015). Die Stärken der russischen Wirtschaft, wie einige High-Tech-Unternehmen, die Rüstungsindustrie und das russische Atomwaffenpotenzial seien ein Überbleibsel der Sowjetzeit, während die Wirtschaft generell sehr schwach sei und ein eher niedriges technisches Niveau habe. Diese Asymmetrie habe sich über die Jahre erheblich vergrößert, auch wenn der russische Imperialismus laut der RKAP die Ambitionen hat, in die Riege der Plünderer aufzusteigen (RKAP, 2014). In den folgenden Abschnitten wird noch deutlicher darauf eingegangen, dass sich dieses Verständnis nicht nur auf Russland bezieht.
Auch in Deutschland gibt es Positionen, die zu Vorstellungen eines “Ultra-Imperialismus” tendieren, wie beispielsweise im Parteiprogramm der DKP (2006): “So besteht für die imperialistischen Metropolen heute eine gemeinsame Hauptaufgabe darin, die letzten Schranken für die totale Beherrschung des Weltmarktes durch die transnationalen Konzerne aus dem Weg zu räumen”.
Auf der anderen Seite steht das Verständnis des Gesetzes der ungleichmäßigen Entwicklung, das von Parteien wie der KKE, TKP und der PCM geteilt wird. Hier wird das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung als die ständige Dynamik und Konkurrenz um Auf- und Abstieg im imperialistischen Weltsystem verstanden. Dieses Verständnis des Gesetzes der ungleichmäßigen Entwicklung besteht im Kern darin, dass der Kapitalexport der weiter entwickelten Länder in den Zielländern auch zu kapitalistischer Entwicklung führen kann. Dadurch kommt es zwar nicht zu einer Angleichung zwischen den Ländern, aber in den weniger entwickelten Ländern wirken die gleichen Gesetzmäßigkeiten der Monopolbildung und der Konkurrenz der Monopole, sodass sich die, wie im Verständnis der KP dargelegte Entwicklung vollzieht und sich die Länder auf Ebene einzelner Unternehmen, Branchen und als ganze Wirtschaftseinheit ungleichmäßig entwickeln und in der imperialistischen Hierarchie auf- oder absteigen.
Die KKE vertritt das Verständnis der ungleichen Entwicklung, nach dem das heutige imperialistische System durch “ungleiche gegenseitige Abhängigkeit zwischen den kapitalistischen Staaten gekennzeichnet ist und einer imperialistischen Pyramide ähnelt, in der jeder kapitalistische Staat einen Platz auf der Grundlage seiner Stärke (wirtschaftlich, politisch, militärisch) einnimmt. Die Position der Staaten ändert sich aufgrund der Auswirkungen des Gesetzes der ungleichen Entwicklung” (KKE, 2015). Mit sich ändernder Stärke, technologischen Entwicklungen und Verschiebungen in Abhängigkeitsverhältnissen ändert sich also auch die relative Position in der imperialistischen Pyramide, die als eine Metapher zum besseren Vorstellungsvermögen zu verstehen ist. Die KKE betont außerdem, dass die Veränderungen der Position eines Staates im imperialistischen Staatengefüge von der erhöhten Asymmetrie bestimmt sind, die den Monopolkapitalismus charakterisiert, sowie vom Konjunkturzyklus beeinflusst ist. Sie macht deutlich, dass besonders in kleineren Volkswirtschaften die Auswirkungen von Wirtschaftskrisen stärker sein können. Dennoch bedeutet eine beachtliche Veränderung der Position in der imperialistischen Hierarchie nicht, dass die Gesetzmäßigkeiten des imperialistischen Kapitalismus aufhören würden zu wirken (Opsimos, 2017).
Die PCM macht ein solches Verständnis des Gesetzes der ungleichmäßigen Entwicklung anhand der Position Mexikos im imperialistischen Weltsystem deutlich. Sie zeigt auf, dass Mexiko zwar Abhängigkeitsbeziehungen zu den USA hat, aber kein abhängiges Land ist und in seiner Entwicklung neue Wirtschaftsbeziehungen mit China und der Europäischen Union, insbesondere mit Spanien und Deutschland, zunehmen und vertieft (PCM, 2018). Zur Bestimmung Mexikos bezieht sie sich auf revisionistische Lesarten der leninschen Imperialismustheorie, anhand derer sie die tatsächliche Dynamik des imperialistischen Weltsystems eindrücklich aufzeigt: “Seit einigen Jahrzehnten ist es üblich geworden, sich auf die Richtung und das Ausmaß der Waren- und vor allem der Kapitalströme zu beziehen, um den Entwicklungsgrad und die Merkmale des Kapitalismus in einem bestimmten Land zu charakterisieren. In diesem Fall geht es um Mexiko, wo viele die Wirtschaft des Landes als Kolonie oder mit kolonialen Merkmalen bezeichnen. Um zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen, gehen sie von zwei Prämissen aus. Die erste und schwächste davon ist, dass das Land, das kauft, von dem Land, das verkauft, unterworfen wird, oder umgekehrt, je nach Ausmaß. Ausgehend von dieser Prämisse wird argumentiert, dass der Kapitalismus in Mexiko abhängig ist, weil die Produktionsbasis für viele der im Land konsumierten Güter in den Vereinigten Staaten liegt. Die zweite, solidere Prämisse ist bereits ein Gemeinplatz. Dies bedeutet, dass die Ströme ausländischer Direktinvestitionen (ADI), d.h. des Kapitals, mit einer Situation kolonialer Herrschaft in Verbindung gebracht werden. Mit anderen Worten, es wird darauf bestanden, dass Kapitalinvestitionen notwendigerweise, d.h. zu jeder Zeit und an jedem Ort, das Phänomen der territorialen Aufteilung implizieren. Der gigantische Zustrom ausländischer Direktinvestitionen aus den USA und der EU nach Mexiko geht daher davon aus, dass Mexiko eine ausländische Kolonie ist. Hier liegt ein Missverständnis vor. Lenin erklärt, wie in der Epoche, in der der Markt den Punkt der Sättigung erreicht, an dem Monopole entstehen, diese ihre Investitionen bevorzugt in rückständige Entwicklungsländer lenken und diese wirtschaftliche Vorherrschaft im kolonialistischen Weltsystem politisch wird. Bitte beachten Sie: Kapital wird in rückständige Länder investiert, das macht sie nicht rückständig. ADI-Ströme bedeuten nicht zwangsläufig Unterentwicklung oder Kolonialisierung” (Torres, 2012). Die PCM macht entsprechend deutlich, dass ausländische Direktinvestitionen keine Unterentwicklung, sondern auch kapitalistische Entwicklung bedeuten können und betont: “Die Unterschiede zwischen den Volkswirtschaften vieler Länder entsprechen heute nicht der Situation der Kolonialisierung, sondern dem Gesetz der ungleichen Entwicklung” (ibid.).
Auch bei der TKP wird ein dynamisches Verständnis der ungleichmäßigen Entwicklung deutlich. In ihrem 2017 verabschiedeten Grundlagendokument zur Imperialismusfrage zeigen sie in der dritten These von insgesamt 61 Thesen „zum Imperialismus entlang der Achse von Russland und China“, dass alle kapitalistischen Länder Teil des imperialistischen hierarchischen Weltsystems sind und deren Position darin immer historisch bestimmt ist (TKP, 2017: These 3). Die konkreten und historischen Erscheinungsformen der mit der ungleichmäßigen Entwicklung verbundenen kapitalistischen Entwicklung und Hierarchie haben sich seit Lenins Analyse verändert, da “die konkreten und historischen Hierarchien des Imperialismus und die relativen Positionen der Länder innerhalb solcher Hierarchien eine sehr dynamische Struktur aufweisen” (ibid.:These 5). Obwohl alle Länder Teil des imperialistischen Weltsystems sind, haben nur manche Länder die Fähigkeit, “die ökonomische, politische, militärische, ideologische und kulturelle Dynamik anderer konstituierender Länder der Struktur zu beeinflussen und zu steuern. Die Tendenz, solche Beziehungen herzustellen, ist nicht gleichzusetzen mit der Fähigkeit, solche Beziehungen konkret herzustellen” (ibid.: These 7). Darin zeigt sich, dass mit der ungleichmäßigen Entwicklung unterschiedliche Fähigkeiten einhergehen, diese aber immer dynamisch sind. Entsprechend betont die TKP, dass “die Beziehung zwischen den verschiedenen Ebenen zu analysieren” von großer Bedeutung ist (ibid.: These 9).
Besonders deutlich wird die Ablehnung eines schematischen Verständnisses weniger Länder, die entwickelt wären und den Rest der Länder “ausbeuten” durch die TKP (2017) in These 17: “Die Tendenz, in der imperialistischen Hierarchie aufzusteigen und damit zu einer imperialistischen Macht zu werden, ist dem System inhärent. Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse und, damit verbunden, die politische und militärische Dynamik zwingen theoretisch jedes Land, sich in der Hierarchie zu bewegen. Die Tendenz, eine imperialistische Macht zu werden, ist eine der Quellen der Dynamik von Widersprüchen und Krisen im System. Als konkretes Ergebnis einer solchen Tendenz nehmen auch Länder, die nicht an der Spitze der Hierarchie stehen, regionale oder konjunkturelle imperialistische Rollen innerhalb des Systems ein. Man sollte nie vergessen, dass solche Rollen, die manchmal zu Spannungen und Reibungen in der imperialistischen Hierarchie führen, als Werkzeug fungieren können, um den Weg für imperialistische Ziele zu ebnen, und dass eben dieselben Ziele verschiedene Länder ermutigen können, solche Rollen zu übernehmen.” Es handelt sich bei den genannten Parteien also um ein dynamisches Verständnis, das aufgrund des Gesetzes der ungleichmäßigen Entwicklung Veränderungen von Staaten in der Position in der imperialistischen Hierarchie zulässt.
3.2.2 Struktur der Abhängigkeitsverhältnisse
Ausgehend vom unterschiedlichen Verständnis der Wirkungsweise des Gesetzes der ungleichmäßigen Entwicklung, besteht ein unterschiedliches Verständnis von der Struktur der Abhängigkeitsverhältnisse. Diejenigen Parteien, die eine immer größere Kluft zwischen den weiter und den weniger entwickelten Ländern behaupten, gehen davon aus, dass die Abhängigkeit der weniger entwickelten Ländern von den weiter entwickelten Ländern absolut und starr ist. Diese folgt meist aus dem Verständnis, dass die weiter entwickelten Länder im Zuge des Kapitalexportes und des Rohstoffabbaus eine “Kompradorenbourgeoisie” in den Zielländern installieren. Diese Kompradorenbourgeoisie handele dann aufgrund der engen Verbundenheit mit der Bourgeoisie der entwickelten Länder objektiv als Agent in ihrem Interesse. So sei eine “eigenständige” Entwicklung nicht möglich. Die Abhängigkeiten seien starr und einseitig – die weiter entwickelten Länder diktieren, was die weniger entwickelten Länder (die Kompradoren in diesen Ländern) zu tun haben.
Dieses Verständnis teilt die wesentlichen Grundannahmen der Dependenztheorie. Diese geht davon aus, dass sich im historischen Verlauf (imperialistische) ökonomische Zentren herausgebildet haben, die die Peripherie systematisch über bestimmte Investitionen, politische Sanktionen und kulturelle oder kommunikative Eingriffe, von sich in Abhängigkeit halten. Aus der Peripherie fließt Reichtum in Form von Rohstoffen, billiger Arbeitskraft und Mehrwert an das Zentrum, das auf Kosten der Peripherie immer stärker und wohlhabender wird, während die Peripherie in ihrer Entwicklung gehemmt wird. Die Peripherie müsse entsprechend in absoluter Abhängigkeit gehalten werden, um diesen Mechanismus aufrechterhalten zu können. Dazu diene nicht zuletzt die Bestechung und Kontrolle der Kompradorenbourgeoisie.
In der Weiterentwicklung der Dependenztheorie zur Welt-System-Theorie, wird die vermittelnde und systemstabilisierende Zwischenposition der “Semi-Peripherie” hinzugefügt. Die Semi-Peripherie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie zwar zu einem gewissen Grad kapitalistisch entwickelt (industrialisiert) ist, aber weiterhin nicht mit der technologischen Entwicklung des Zentrums (bzw. der Zentren) mithalten kann. Die Semiperipherie wurde als Kategorie eingefügt, da es offensichtlich zu kurz greift, die Welt einfach in entwickelte imperialistische und abhängige Länder einzuteilen.
Die zentralen Grundannahmen der Dependenztheorie werden auch von Vertretern der These des Neokolonialismus geteilt. Auch diese gehen davon aus, dass die Zentren (meist die ehemaligen Kolonialmächte) die ehemaligen Kolonien trotz “formaler” politischer Unabhängigkeit in ökonomischer Abhängigkeit halten. Hier würden z.B. durch bestimmte Arten von Krediten gezielt einseitige und absolute Abhängigkeitsverhältnisse hervorgerufen, die trotz formaler politischer Unabhängigkeit keine eigenständige Politik erlauben. Dieses Verständnis von tendenziell eher einseitigen und starren Abhängigkeiten, die darauf beruhen, das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung in dem Sinne zu verstehen, dass es zwei Gruppen von Ländern gebe, von denen die einen sich auf Kosten der anderen weiterentwickeln, während die anderen immer weiter zurückfallen würden, führt zu klassenneutralen, etappistischen strategischen Ausrichtungen, wie das Unterkapitel zum Verhältnis von ökonomischen und politischen Abhängigkeiten deutlich macht.
Die KPRF schreibt hinsichtlich des Charakters der russischen Bourgeoisie, dass die “Restauration des Kapitalismus unweigerlich zur Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und zu einer tiefen Spaltung der Gesellschaft [führte]. An einem Pol befindet sich die so genannte strategische Eigentümerklasse, die sich zunächst auf spekulatives Bank- und Rohstoffexportkapital stützt. Wirtschaftlich ist sie eng mit dem Westen verbunden und hat einen ausgeprägten Kompradorencharakter. Obwohl das nationale Kapital auf die Entwicklung der Binnenwirtschaft ausgerichtet ist, hat es seinen Klassencharakter nicht verloren. Die Zahl der Dollarmillionäre und -milliardäre wächst in diesem Land” (KPRF, 2008: Parteiprogramm). An anderer Stelle schreibt sie: “Im Land etablierte sich ein regressiver, parasitärer, oligarchischer Kompradorenkapitalismus. Seine Grundlage ist der Export von Rohstoffen und Bankensektoren [sic!]. Dies beweist, dass Russland zu einem Anhängsel der Rohstoffe und zu einem Markt für ausländische Waren wird” (KPRF, 2017). Und weiter: “Insgesamt hat das Vierteljahrhundert liberaler Reformen in Russland ein äußerst grausames sozioökonomisches Modell hervorgebracht. Im Land hat sich ein peripheres oligarchisch-bürokratisches Regime herausgebildet” (ibid.). Nach Meinung der KPRF wurde Russland durch die Kompradorenbourgeoisie vom Westen abhängig, welche keine Entwicklung des Landes zulasse. Die nationale Bourgeoisie dagegen würde die Entwicklung Russlands vorantreiben. Die KPRF macht die Stellung der einseitigen Abhängigkeit vom Zentrum USA und ihrer Verbündeten klar, indem sie Russland als Peripherie bezeichnet, deren ökonomische Hauptstütze der Rohstoffexport ist, welcher wiederum unter der Kontrolle westlicher Kompradoren ablaufe. Durch das dichotome Verständnis von Abhängigkeit und Unabhängigkeit der KPRF ist klar, dass sie ein dependenztheoretisches Imperialismusverständnis vertritt. Entsprechend diagnostiziert die KPRF: “Die Abhängigkeit von ausländischem Kapital beginnt die Souveränität des Landes zu bedrohen. Unternehmen mit ausländischem Kapital machen 75 Prozent der Kommunikationsbranche, 56 Prozent der Rohstoffindustrie und 49 Prozent der Verarbeitungsindustrie aus. Dies erinnert stark an die Situation im frühen 20. Jahrhundert, als das westliche Kapital den Industrie- und Bankensektor im Russischen Reich beherrschte. Die Abhängigkeit kostete Russland einen hohen Preis: Es wurde in den Ersten Weltkrieg hineingezogen, um die Interessen der Entente-Kapitalisten zu verteidigen” (ibid.). Eine Möglichkeit sich aus dieser Abhängigkeit zu lösen, sieht sie hierin: “Gewährleistung der wirtschaftlichen Souveränität. Die KPRF will, dass Russland die WTO verlässt. Wir werden ein unabhängiges Finanzsystem schaffen, das Land vom Dollardiktat befreien und die Zentralbank vom Einfluss des US-Notenbanksystems befreien. Staatliche Kontrolle über das Bankensystem und Devisengeschäfte wird die schwindelerregende Kapitalflucht eindämmen. Kleine und mittlere Unternehmen sowie Volks- und Kollektivunternehmen werden tatkräftig unterstützt” (ibid.).
Die RKAP ordnet die Situation Russlands auf Grundlage eines eben solchen Verständnisses ein. Die schwache und zögerliche Politik Russlands im Verhältnis zu den führenden imperialistischen Mächten auf dem Weltmarkt resultiere durch dessen schwache materielle Basis und unzureichende Humanressourcen, da die Bevölkerung im Vergleich zur UdSSR mehr als halbiert ist, und die Abhängigkeit der russischen herrschenden Klasse vom Westen (RKAP, 2015). Diese Abhängigkeit sei in den 90er Jahren entstanden und halte Russland seitdem in einem peripheren, vom Rohstoffverkauf abhängigen Status, mache es sogar zu einem Anhängsel des westlichen Kapitalismus. Diese Tatsache sei dem „Versagen“ der russischen Behörden geschuldet (ibid.).
Ein Verständnis von Abhängigkeiten, das Ähnlichkeiten mit der Dependenztheorie aufweist, vertritt auch die DKP. Die DKP bestimmt in ihrem Parteiprogramm die Erweiterung der EU als die “Ein- und Unterordnung der ost- und südosteuropäischen Staaten mit ihren ökonomischen Ressourcen und ihrem Arbeitskräftepotential als abhängige Peripherie in die globale Expansionspolitik der EU. Das Ergebnis ist die Herausbildung von hochproduktiven Kernregionen in West und Ost, während das übrige Europa als Zulieferer von Billigarbeitskräften, Billigprodukten und als ein weithin industriell verödetes Umfeld weiter verarmt“ (DKP, 2006). Hierin zeigt sich das oben genannte Verständnis der ungleichmäßigen Entwicklung nach dem die entwickelten Länder die weniger entwickelten Länder systematisch in Unterentwicklung halten und sich die Kluft zwischen beiden verstärkt. Außerdem zeigt sich das Verständnis der einseitigen Abhängigkeit der “Peripherie”.
Dem gegenüber steht das Verständnis von ungleichen wechselseitigen Abhängigkeiten, das aus dem Verständnis der ungleichmäßigen Entwicklung auf mehreren Ebenen in der Monopolkonkurrenz, hervorgeht. Diese Position geht davon aus, dass Abhängigkeiten aus einem komplexen Netz aus verschiedenen ökonomischen und politischen, militärischen und geostrategischen Relationen der Länder zueinander entstehen. Diese Relationen entwickeln sich nach dem Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung auch nicht gleichmäßig, sodass auf Unternehmens-, Branchen- und Länderebene durchaus Unterschiede im Grad der Abhängigkeit und Entwicklung bestehen können. Außerdem spielen dabei auch geographische und historische Besonderheiten eine Rolle – also z.B. inwiefern ein Land (egal wie weit es entwickelt ist) geographisch so gelegen ist, dass es Handelsrouten absichern bzw. angreifen kann. Ausgehend vom Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung wird hier entsprechend auch davon ausgegangen, dass sich in den relativ weniger entwickelten Ländern im Zuge der kapitalistischen Entwicklung eine nationale Bourgeoisie herausbildet, die in ihrem eigenen Interesse nach den Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus handelt. In einem Verhältnis begegnen sich im Regelfall zwei Parteien, die auf Basis der kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten relativ eigenständig in ihrem eigenen Interesse handeln. Diese beiden Parteien sind im Abhängigkeitsverhältnis wechselseitig voneinander abhängig. So ist beispielsweise der Schuldner vom Gläubiger abhängig, der Gläubiger allerdings auch vom Schuldner.1 Wie dieses Beispiel aber bereits deutlich macht, ist dieses wechselseitige Abhängigkeitsverhältnis ungleich. Die Ungleichheit spiegelt das ungleiche (ökonomische, politische und militärische) Machtverhältnis zwischen den Parteien wider. Ausgehend von der ungleichen Macht der Staaten, sind die Abhängigkeitsverhältnisse relativ einseitiger, sodass Staaten, die ganz unten in der imperialistischen Hierarchie stehen, durchaus relativ einseitig abhängig sein können. Außerdem können Abhängigkeitsverhältnisse stabiler und instabiler sein, allerdings ist kein Abhängigkeitsverhältnis von absoluter fester Stabilität und Dauer, da diese sich durch die ungleiche Entwicklung selbst ständig verändern. Die augenscheinlichste Erscheinungsform, in der Veränderungen der Abhängigkeitsverhältnisse aufgelöst und neu etabliert werden, sind Kriege. Dennoch ist wichtig zu verdeutlichen, dass es Mechanismen gibt, die Abhängigkeitsverhältnisse konservieren und verstärken. Im Allgemeinen befinden sich die meisten Staaten in ungleichen Abhängigkeitsverhältnissen in beide Richtungen: sie sind so wohl von manchen Staaten gegenüber relativ stärker abhängig, während andere Staaten relativ stärker von ihnen abhängig sind. Gegenüber ersteren befinden sie sich in einer relativen Schwächeposition, gegenüber zweiteren in einer relativen Machtposition. Gerade diese Vielschichtigkeit der internationalen Machtbeziehungen macht das Verständnis, das die Ungleichheit zwischen den Staaten verabsolutiert, wissenschaftlich unbrauchbar, um die Entwicklungen im imperialistischen Weltsystem nachvollziehen zu können. Wie aus dem Kapitel 3.1 hervorgeht, teilt die KP das Verständnis der letzten beschriebenen Abhängigkeitsverhältnisse als dynamisch und wechselseitig.
Die KKE zeigt die Ursprünge der Dependenztheorie auf und weist sie entsprechend deutlich zurück, als Verschleierung der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse in einer Reihe von Ländern. Diese Ansätze heben die Entwicklung des Monopols als grundlegendes Merkmal des Imperialismus auf und führen zu Opportunismus (Opsimos, 2017). Die KKE versteht das moderne imperialistische System als “ein System der ungleichen gegenseitigen Abhängigkeit aller kapitalistischen Länder” (Papadopoulos, 2016). Abhängigkeiten beschreiben die Beziehungen zwischen kapitalistischen Staaten im imperialistischen Weltsystem, welche sich aus der Notwendigkeit des Kapitalexportes ergeben. Gemäß der ungleichmäßigen Entwicklung sind die Abhängigkeiten entsprechend ungleich und in stetiger Veränderung. “Die Abhängigkeit und die wechselseitige Abhängigkeit der Ökonomien sind natürlich nicht gleich. Sie werden von der Wirtschaftskraft jedes Landes sowie gewissen anderen politisch-militärischen Elementen entsprechend den besonderen Bündnisbeziehungen bestimmt” (Papariga, 2013). Die KKE verdeutlicht, dass die Wechselseitigkeit der Abhängigkeiten auch ganz oben an der Spitze der Pyramide nicht aufhört: “Selbst wenn eines oder einige Länder auf der höchsten Stufe sind, die die Führer der kapitalistischen Internationalisierung sind, sie die Aufteilung der Märkte führend bestimmen, selbst dann hören sie nicht auf, in einem Regime der wechselseitigen Abhängigkeit gegenüber anderen Ländern zu existieren” (ibid.).
Die PCM verdeutlicht die wechselseitige ungleiche Abhängigkeit am Beispiel Mexikos. Gegenseitige Abhängigkeit bedeute, dass die verschiedenen Teile der imperialistischen Pyramide komplementär zueinander sind, wie es auch im Falle des Verhältnisses zwischen den USA und Mexiko der Fall sei. Die PCM stellt die gegenseitige Abhängigkeit zwischen den beiden Ländern als ein Verhältnis dar, in dem Mexiko zwar 74,8% der Einfuhren aus den USA bezieht, gleichzeitig aber 80% der eigenen Exporte für die USA bestimmt sind. Der Wegfall dieser Importe wären für die USA eine große Beeinträchtigung, so ist seit dem ersten Quartal 2023 Mexiko größter Lieferant für die USA. Die USA haben aufgrund der Tatsache, dass sie das größte imperialistische Zentrum sind, die Möglichkeit, die mexikanische Arbeitskraft und die Ressourcen des Landes auszubeuten. Dies sei jedoch in Zusammenarbeit mit den mächtigsten Monopolisten Mexikos selbst geschehen. Darüber hinaus haben die USA die mexikanische Bourgeoisie bei der Aufrechterhaltung der Staatsmacht und Unterdrückung der mexikanischen Volksschichten unterstützt. Es sei hierbei denkbar, dass sich die mexikanische Bourgeoisie bei der Verteidigung ihrer gemeinsamen Interessen auf die politisch-militärische Unterstützung der USA verlasse. Die PCM schätzt dieses Interessenbündnis jedoch nicht als statisch ein und nimmt an, dass das Bündnis zugunsten anderer potenzieller Partner geschwächt werde (Torres, 2012).
Auch die TKP (2017) grenzt sich deutlich von dependenztheoretischen Vorstellungen ab, wie in These 11 besonders deutlich wird: “Im Funktionieren des imperialistischen Systems hat die Konkurrenz zwischen den Ländern an der Spitze der Hierarchie eine entscheidende Bedeutung. Jene Analysen, die die Konflikte zwischen den Imperialisten vernachlässigen und annehmen, dass diese Länder als homogene Einheit um gemeinsame Interessen handeln, sind weit davon entfernt, die Verwerfungen zu analysieren, die das System erlebt. Wenn man versucht, das System im Sinne von bilateralen Beziehungen zwischen dem Zentrum, welches die Umwälzungen durchführt und denjenigen Ländern, die sich dem Zentrum widersetzen, zu verstehen – wobei die Länder an der Spitze des imperialistischen Systems versuchen, die Ressourcen der Länder an der Basis zu beherrschen -, werden nicht nur die Widersprüche innerhalb der Länder im sogenannten Zentrum unterschätzt, sondern auch die Positionen der anderen Länder, die als Objekte betrachtet werden, im kapitalistischen Weltsystem entsubjektiviert.”
3.2.3 Das Verhältnis von (Un-)abhängigkeit und Strategie
Vertreter des Verständnisses von absoluten einseitigen Abhängigkeiten vertreten meist eine Trennung von politischer und ökonomischer Abhängigkeit. Sie sehen die politische Unabhängigkeit als eine Voraussetzung für die ökonomische eigenständige Entwicklung eines Landes. Unabhängigkeit bedeutet dann, dass ein weniger entwickeltes Land – vermittelt über die Kompradorenbourgeoisie – nicht mehr im Interesse des weiter entwickelten Landes, von dem es einseitig abhängig sei, handelt, sondern in seinem eigenen Interesse. Darauf aufbauend wird die strategische Ausrichtung entwickelt, dass die politische Unabhängigkeit eines Landes nicht ausreiche, solange das Land ökonomisch abhängig ist und somit eine “eigenständige” ökonomische Entwicklung angestrebt werden müsse. Dabei wird unterstellt, dass es im betreffenden weniger entwickelten Land ein relativ homogenes Interesse aller Klassen an sozio-ökonomischer Entwicklung gäbe, das durch kapitalistische Entwicklung – zumindest vorerst – erreicht werden kann. Diese eigenständige kapitalistische Entwicklung wird dann zur Voraussetzung in Form einer strategischen Zwischenetappe für den Sozialismus gemacht. Das Interesse an unabhängiger kapitalistischer Entwicklung würde von der unterdrückten nationalen Bourgeoisie und der Arbeiterklasse, Bauern etc. geteilt. Entsprechend gäbe es hier eine klassenübergreifende Interessenüberschneidung.
Die KPRF versteht auf Grundlage der angeblichen absoluten Abhängigkeit Russlands vom Westen die nationale kapitalistische Entwicklung als Fortschritt im Kampf um den Sozialismus. Entsprechend sieht sie in den Kräften, die eine nationale Befreiung von eben diesen Abhängigkeiten suchen, eine wichtige Stütze für den Kampf um den Sozialismus, da die nationalen Befreiungskämpfe “dem Kapitalismus seine wichtigsten Reserven und Quellen seiner Existenz” entzogen (KPRF, 2008: Parteiprogramm). Dies hängt damit zusammen, dass nationale kapitalistische Entwicklung als Teil des Weges zum Sozialismus gesehen wird: “Die Kräfte des Sozialismus reifen und wachsen. Das sozialistische China entwickelt sich in rasantem Tempo. Andere Länder sind auf dem Weg zum Aufbau des Sozialismus. In mehreren Staaten sind kommunistische oder fortschrittliche Parteien an der Macht, deren Führer mit diesem Weg sympathisieren. Kuba folgend, zeichnet sich die Bestrebung nach einer sozialistischen Alternative in den Ländern Lateinamerikas immer deutlicher ab” (ibid.). So gilt für Russland der KPRF zufolge die folgende strategische Ausrichtung: “Das Gefühl der Demütigung der Unterdrückten und Benachteiligten mischt sich mit dem Schmerz der Patrioten, dass die Ehre des Staates verletzt wird. Auf dieser Grundlage breitet sich eine patriotische Volksbewegung für die Unabhängigkeit des Landes aus. Unter den gegenwärtigen Bedingungen sieht die KPRF ihre Aufgabe darin, die sozialen Klassen und nationalen Befreiungsbewegungen in einer einzigen Volksfront zu vereinen. Ihr soll ein zielgerichteter Charakter verliehen werden. Die Partei kämpft für die Einheit, Integrität und Unabhängigkeit des Vaterlandes, für die Wiederherstellung der brüderlichen Union der Sowjetvölker, für das Wohlergehen und die Sicherheit sowie für die moralische und körperliche Unversehrtheit ihrer Bürger.” Und weiter: “Unsere Partei ruft unsere Landsleute auf, das Bündnis der patriotischen Kräfte zu stärken und zu erweitern, um für den Sozialismus zu kämpfen und die nationalen und staatlichen Interessen des Landes zu verteidigen.” (ibid.). Der “zielgerichtete Charakter” der “Volksfront”, die die KPRF für den sozialistischen Kampf in Stellung bringt, bezieht sich also zuerst auf die “Einheit, Integrität und Unabhängigkeit des Vaterlandes”, statt auf den Klassenkampf, wobei der Kampf um den Sozialismus der Verteidigung der “nationalen und staatlichen Interessen des Landes” dienen soll. Wobei die nationale russische Bourgeoisie ein Bündnispartner ist, schließlich wünsche sie sich auch mehr Unabhängigkeit (KPRF, 2017). Aktuell sieht sie die Aufgabe der Linken allerding vor allem darin: “Die Aufgabe der linken Kräfte besteht darin, die Behörden energisch zu ermutigen, nicht nur die Außenpolitik, sondern auch den sozioökonomischen Kurs zu ändern, der nicht den Interessen der Menschen entspricht” (KPRF, 2022).
Bei der DKP wird ein solches Verständnis besonders deutlich an der Bestimmung der Rolle Russlands. Russland wird als rein reaktiv und defensiv dargestellt und habe legitime Interessen zu verteidigen: “In der heutigen Konfrontation zwischen dem US-Imperialismus mit seinem NATO- und EU- Gefolge einerseits und Russland andererseits ist die erstgenannte Seite, die ihre militärischen Kräfte unter Bruch getroffener Vereinbarungen immer näher und umfangreicher an die russischen Grenzen heranführt und damit Russland immer direkter bedroht, eindeutig der Aggressor. Russland wird gezwungen, sich und seine legitimen Interessen zu verteidigen” (Gerns, 2015). Welches diese legitimen Interessen sein sollen, wird weiterhin im Artikel „Das putinsche Russland. Machtverhältnisse und Politik“ von Willi Gerns deutlich. Im Artikel wird Russland als Land dargestellt, das für seinen Versuch, eine unabhängige Position einzunehmen, abgestraft werde. Die nationalen Interessen Russlands werden als legitim dargestellt und die Aussagen zu dessen Bestreben, ein selbständiger Akteur des Weltsystems zu werden, hätten eine emanzipatorische Wirkung. Die entsprechende strategische Ausrichtung entspricht dem Verständnis, dass Länder ihre Unabhängigkeit und eigene Entwicklung zu erkämpfen haben, um Fortschritt zu generieren, für den Kommunisten stünden. “Die Hauptgefahr für Frieden und gesellschaftlichen Fortschritt liegt in der Weltherrschaftspolitik des US-Imperialismus und seiner Verbündeten. Sie sind darum der Hauptfeind, gegen den die nach Frieden und gesellschaftlichem Fortschritt strebenden Kräfte heute den Hauptstoß ihres Kampfes richten müssen” (ibid.).
Vertreter des Verständnisses von ungleichen wechselseitigen Abhängigkeiten vertreten dagegen die Auffassung, dass politische Abhängigkeiten auf Basis ökonomischer Abhängigkeiten entstehen, diese Abhängigkeiten die kapitalistische Entwicklung nicht grundsätzlich oder absolut hemmen (was nicht bedeutet, dass das nie der Fall sein kann), und dass vollständige politische – die über die Eigenstaatlichkeit hinausgeht – und/oder ökonomische Unabhängigkeit von kapitalistischen Staaten in der Epoche des Imperialismus aufgrund des Drangs zu Monopolisierung und Kapitalexport – aber auch durch Warenexport – nicht möglich ist. So ergibt sich alleine aufgrund der verfügbaren Ressourcen eines Landes eine bestimmte Notwendigkeit des Warenverkehrs und damit analog zum Warenexport des einen Landes eine Importnotwendigkeit des anderen Landes. Eine Loslösung vom Weltmarkt ist im imperialistischen Kapitalismus nicht möglich. Eine Reduzierung der Abhängigkeit ist nur durch möglichst einseitige Abhängigkeitsbeziehungen anderen gegenüber möglich. Außerdem handelt die nationale Bourgeoisie in ihrem eigenen Klasseninteresse, das auch in weniger entwickelten Staaten dem der Arbeiterklasse widerspricht. Aufgrund der Tatsache, dass durch die weltweite Ausweitung der kapitalistischen Produktionsweise der Klassenwiderspruch in allen Ländern entwickelt ist, besteht die strategische Ausrichtung auf die sozialistische Revolution in einer revolutionären Situation unabhängig vom Entwicklungsniveau des Landes. Eigenständige sozio-ökonomische Entwicklung im Interesse der Volksmassen ist nur im Sozialismus möglich, wo die Produktion nicht den Profitinteressen des einen oder anderen Teils der Bourgeoisie unterstellt ist. Wirkliche Souveränität wäre erst in einer sozialistischen Weltrepublik erreichbar.
Die KKE macht deutlich, dass es die weltweite Arbeiterklasse insgesamt ist, die unter den Machenschaften der Kapitalisten leidet. Die Beute, die die Kapitalisten unter sich aufteilen, ist der von der Arbeiterklasse auf der ganzen Welt produzierte Mehrwert. Dies macht sie in einer Analogie deutlich: “Hier müssen wir auf die Analogie zu dem hinweisen, was innerhalb aller kapitalistischen Länder geschieht. Dort verteilen der kapitalistische Konkurrenzkampf und die Gestaltung der durchschnittlichen Rendite den gesamten von der Arbeiterklasse produzierten Mehrwert, entsprechend der Größe ihres Kapitals an die verschiedenen Kapitalisten und nicht auf der Grundlage des Mehrwerts, den die Arbeiter des einen oder des anderen Kapitalisten wirklich produzieren. Und keiner der Klassiker des Marxismus-Leninismus dachte natürlich daran, wegen dieser Umverteilung des Mehrwerts, diejenigen Kapitalisten, die bei dieser Verteilung des Mehrwerts “verlieren”, als “Opfer” zu bezeichnen. Wieder einmal ist der “Täter” die Bourgeoisie als Ganzes und das “Opfer” die Arbeiterklasse als Ganzes” (Opsimos, 2017). Sie macht unmissverständlich klar, dass die einheimische Bourgeoisie nicht einfach Opfer der stärkeren Länder ist: “In jedem weniger stark kapitalistischen Land ist die einheimische Bourgeoisie nicht unbeteiligt und Opfer bei den imperialistischen Plänen. Und das unabhängig davon, ob eine mehr oder weniger starke Abhängigkeit von den stärkeren kapitalistischen Volkswirtschaften und Rückständigkeiten usw. besteht. Es nimmt an den imperialistischen Organisationen teil, unterstützt die reaktionäre Politik und Vereinbarungen, natürlich immer aus der untergeordneten Stellung in der imperialistischen Pyramide heraus und auf Basis der Beziehungen zwischen ihnen. Also ist die Frage der Bindungen und “Abhängigkeiten” jeden lokalen Kapitalismus’ von anderen stärkeren Monopolgruppen und imperialistischen Bündnissen kein äußeres Problem, etwas was der lokalen Bourgeoisie von außerhalb und gegen ihren Willen auferlegt wird. Sie ist der notwendige Kompromiss, den sie eingeht, um das Gewinnstreben ihres Kapitals und immer auf Kosten der Arbeiterklasse des Landes zu fördern” (ibid.).
Auf dieser Grundlage zeigt sie auf, dass revisionistische Positionen, wie die der Dependenztheorie oder die Vorstellung der “Handvoll Räuber”, die den Rest der Welt vollständig ausplündere, die Ausbeutung der Arbeiterklasse ignorieren. “Diese Form steckt die Arbeiterklasse in den mehr entwickelten Ländern mit den Ausbeutern in einen Sack und behindert objektiv den gemeinsamen Kampf der Arbeiterklasse auf globaler Ebene” (ibid.). Der Klassengegensatz, der in allen kapitalistischen Ländern herrscht, egal wie relativ einseitig oder ungleich die wechselseitigen Abhängigkeiten sind, ist der Ausgangspunkt für die strategische Orientierung der KKE.
Ausgehend von der Stellung Mexikos in der imperialistischen Hierarchie bestimmt die PCM ihre Strategie. Dabei macht sie deutlich, dass eine Bekämpfung des “ausländischen Imperialismus” de facto einen Kampf „für die “Verbesserung” der Position unserer Monopole […], für “gerechtere” kapitalistische Beziehungen [bedeuten]“ und „uns in die Lage, den Kapitalismus zu “verschönern” [versetzen]“ (Torres, 2012). Weiter bedeutet dies “auf lange Sicht, unabhängig von unseren Absichten, unabhängig vom Diskurs, der auch der Kampf für den Sozialismus sein kann, in einer politischen Identität mit der Sozialdemokratie [zu sein]“ (ibid.) Diese Position geht langfristig mit einer Verständigung mit den Opportunisten einher. Die PCM kritisiert den Teil der Marxisten, die ausgehend von der nationalen Einheit den Imperialismus als etwas Äußeres einordnen und eine Einheit mit der Bourgeoisie zur Verteidigung der Interessen der mexikanischen Nation und deren Unabhängigkeit fordern, da diese Position im Interesse der Bourgeoisie ist. Die PCM lehnt die Taktik des nationalen Befreiungskampfes ab und sagt stattdessen, dass „die ungleiche Entwicklung und ihre Folgen für Mexiko sind keine Voraussetzungen für einen Rückzug in den nationalen Befreiungskampf [sind], sondern gerade die Voraussetzungen für den Sieg des Sozialismus in einem Land, “in dem die imperialistische Kette an ihrem schwächsten Glied bricht”“ (Torres, 2012). Für die PCM ist „ein wesentlicher Teil des Kampfes gegen den Imperialismus der Kampf gegen die mexikanischen Monopole und natürlich gegen die Monopole jeder anderen Nationalität“ (PCM, 2018). Das imperialistische System ist vom Klassenantagonismus durchzogen und unsere Klasse wird nichts von der Wahl des „kleineren Übels“ gewinnen können. In dieser strategischen Orientierung sieht sie Allgemeingültigkeit: “Alle Länder mit kapitalistischer Entwicklung werden in die imperialistische Pyramide eingefügt. Unabhängig von der spezifischen kapitalistischen Entwicklung eines jeden Landes und dem besonderen Platz, den es in der imperialistischen Pyramide einnimmt, geht die Strategie der Kommunisten weltweit vom Sozialismus als unmittelbarer Aufgabe ohne Zwischenstufen aus” (PCM, 2021).
Kapitel 4: Verständnis von quantitativen und qualitativen Unterschieden in Bezug auf die Stellung eines Staates in der imperialistischen Hierarchie
Hinsichtlich der imperialistischen Hierarchie spielen Fragen von quantitativen und qualitativen Unterschieden zwischen Staaten bezüglich beispielsweise des Kapitalexportes oder der Abhängigkeit eine wichtige Rolle, um das Verhältnis zwischen Staaten einordnen zu können und um Dynamiken im Auf- und Abstieg von Staaten in der imperialistischen Hierarchie einordnen zu können. In diesem Kapitel wird zunächst allgemein auf die Begriffe Quantität und Qualität eingegangen, um diese dann im Kontext des imperialistischen Weltsystems einzuordnen. Darauf aufbauend wird das Verständnis von quantitativen und qualitativen Ungleichheiten und Veränderungen im imperialistischen Weltsystem bei ausgewählten anderen Parteien im Kontrast zum Verständnis der KP derselben, dargestellt.
4.1 Das Verständnis der KP von quantitativen und qualitative Unterschieden im Imperialistischen Weltsystem
4.1.1 Das Verständnis von Quantität und Qualität der Klassiker
Unter Quantität wird die zahlen- bzw. mengenmäßige Bestimmung eines Dings verstanden. Unter Qualität wird die eigenschaftliche Bestimmung eines Dings verstanden. Das Gesetz vom Umschlag der Quantität in Qualität und umgekehrt bedeutet, dass Veränderungen in der Menge zu Änderungen in den Eigenschaften führen und dass Änderungen in den Eigenschaften zu einem mengenmäßigen Unterschied führen.
Marx und Engels stellen klar, dass das Gesetz des Umschlags von Quantität in Qualität und umgekehrt ein Grundgesetz der Dialektik ist, das aus der Geschichte der Natur und der menschlichen Gesellschaft abstrahiert wird. Engels schreibt dazu in der Dialektik der Natur: “Es ist also die Geschichte der Natur wie der menschlichen Gesellschaft, aus der die Gesetze der Dialektik abstrahiert werden. Sie sind eben nichts andres als die allgemeinsten Gesetze dieser beiden Phasen der geschichtlichen Entwicklung sowie des Denkens selbst. Und zwar reduzieren sie sich der Hauptsache nach auf drei:
das Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität und umgekehrt;
das Gesetz von der Durchdringung der Gegensätze;
das Gesetz von der Negation der Negation.” (MEW 20 S. 348)
Der Umschlag von Quantität in Qualität und umgekehrt ist gleichzeitig allmählich und plötzlich. Die zahlenmäßige Veränderung findet allmählich statt, wohingegen die entsprechende qualitative Veränderung von der einen Eigenschaft zur anderen einen Sprung darstellt. Die allmähliche Veränderung der Quantität erfährt einen plötzlichen Abbruch und etwas qualitativ Neues entsteht. Für den Umschlag von Quantität in Qualität und umgekehrt bedarf es keiner neuen, von außen hinzugefügten Essenz. Dieser Zusammenhang wird am Beispiel der Veränderung von Wasser deutlich. Lenin zitiert in den Exzerpten aus Hegels Wissenschaft der Logik:
“Es gibt keinen Sprung in der Natur, wird gesagt; und die gewöhnliche Vorstellung, wenn sie ein Entstehen oder Vergehen begreifen soll, meint, wie erinnert, es damit begriffen zu haben, daß sie es als ein allmähliches Hervorgehen oder Verschwinden vorstellt. Es hat sich aber gezeigt, daß die Veränderungen des Seins überhaupt nicht nur das Übergehen einer Größe in eine andere Größe, sondern Übergang vom Qualitativen in das Quantitative und umgekehrt sind, ein Anderswerden, das ein Abbrechen des Allmählichen und ein qualitativ Anderes gegen das vorhergehende Dasein ist. Das Wasser wird durch die Erkältung nicht nach und nach hart, so daß es breiartig würde und allmählich bis zur Konsistenz des Eises sich verhärtete, sondern ist aufeinmal hart” (LW 38, S. 115f.).
Das Beispiel des Wassers ist auch eines, auf das Engels in der Dialektik der Natur eingeht:
“Wir gaben dort eins der bekanntesten Beispiele – das der Veränderung der Aggregatzustände des Wassers, das unter Normalluftdruck bei 0 C aus dem flüssigen in den festen, und bei 100 C aus dem flüssigen in den luftförmigen Zustand übergeht, wo also an diesen beiden Wendepunkten die bloße quantitative Veränderung der Temperatur einen qualitativ veränderten Zustand des Wassers herbeiführt” (MEW 20, 117).
Das Beispiel der Veränderung des Wassers zeigt deutlich, dass quantitative Veränderungen, die zu einer neuen Qualität führen, nicht notwendig das Wesen der betrachteten Sache verändern. Der Charakter (das Wesen) des Wassers bleibt identisch, auch wenn sich seine Erscheinungsform bzw. sein Aggregatzustand verändert.
Gleichzeitig ist es möglich, dass durch die quantitative Zusammenführung vieler Kräfte eine neue Kraft erzeugt wird, die wesentlich verschieden ist, von den sie zusammen setzenden Teilen. Es entsteht eine neue Qualität, deren Wesen anders ist, als das Wesen der Einzelkräfte in ihrer Summe. So bezieht sich Engels auf Marx: “z.B. handelt in Marx’ „Kapital” der ganze vierte Abschnitt: Produktion des relativen Mehrwerts, auf dem Gebiet der Kooperation, Teilung der Arbeit und Manufaktur, Maschinerie und großen Industrie, von zahllosen Fällen, wo quantitative Veränderung die Qualität und ebenso qualitative Veränderung die Quantität der Dinge ändert, um die es sich handelt, wo also, um den Herrn Dühring so verhaßten Ausdruck zu gebrauchen, Quantität in Qualität umschlägt und umgekehrt. So z.B. die Tatsache, daß die Kooperation Vieler, die Verschmelzung vieler Kräfte in eine Gesamtkraft, um mit Marx zu reden, eine „neue Kraftpotenz” erzeugt, die wesentlich verschieden ist von der Summe ihrer Einzelkräfte” (MEW 20, S. 118).
Das Gesetz vom Umschlag der Quantität in Qualität und umgekehrt sagt also zunächst nichts über das Wesen einer Sache aus. Das Wesen einer Sache hinsichtlich der Erscheinungsform beschreibt den Charakter einer Sache im Unterschied zu deren zufälligen Ausdruck. Eine qualitative Veränderung wird häufig mit einer Veränderung des Wesens verbunden. Dies ist falsch. Eine qualitative Veränderung muss keine wesentliche Veränderung sein. Jede wesentliche Veränderung ist aber eine qualitative Veränderung.
4.1.2 Quantität und Qualität im imperialistischen Weltsystem
Quantitative und qualitative Entwicklung im imperialistischen Weltsystem spielt eine bedeutende Rolle bei der Bestimmung von Hierarchie, Abhängigkeiten und Auf- und Abstiegstendenzen. Um diese Bestimmungen vornehmen zu können, gilt es zunächst, die wesentlichen Entwicklungen im imperialistischen Stadium des Kapitalismus darzulegen. Ausgehend von der Klarlegung der wesentlichen Entwicklungsgesetze des Imperialismus (vergleiche Kapitel 1) können quantitative und qualitative Veränderungen im Weltsystem analysiert werden.
Hinsichtlich der Rolle von Quantität und Qualität im imperialistischen Weltsystem geben die Klassiker nur implizite Anhaltspunkte im Sinne der allgemeinen Erklärung des Grundgesetzes der Dialektik. Explizite Aussagen zu Quantitäten und Qualitäten im Imperialismus gibt es bei Lenin kaum. In seiner Hauptschrift zum Imperialismus verwendet er die Begriffe überhaupt nicht. Darum gilt es, die allgemeinen Einsichten in das Grundgesetz der Dialektik zusammen mit deren Wirkung im Imperialismus zu bringen. Im Kapitel 1 wurde bereits deutlich gemacht, dass die wesentliche Entwicklung die Monopolbildung ist, die mit dem Verhältnis von konstantem und variablem Kapital zusammenhängt, wodurch es zu Konzentration und Zentralisation von Kapital kommt. Damit zusammen hängt die ungleichmäßige Entwicklung, die Herausbildung des Finanzkapitals, der Kapitalexport und die Konkurrenz der Monopole.
Zusammengebracht mit den Begriffen der Quantität und Qualität bedeutet dies, dass bspw. die Entwicklung der Monopolbildung und des Finanzkapitals eine Eigenschaft eines Staats ist. Davon ausgehend muss untersucht werden, welche Staaten diese Eigenschaft ausgeprägt haben. Alle Staaten, die diese Eigenschaften ausgeprägt haben, sind qualitativ hinsichtlich des Wesens des Imperialismus gleich. Sie haben das gleiche Wesen und haben die gleiche Qualität/Eigenschaft. Da die Monopolbildung ein allgemeines Gesetz der kapitalistischen Produktionsweise ist, ist davon auszugehen, dass dieses Gesetz fast alle Staaten betrifft. Hinsichtlich dieser Qualität ist zu untersuchen, welche quantitativen Unterschiede es bezüglich eben dieser wesentlichen Qualität gibt. Allen Staaten, in denen sich Monopolkapital herausgebildet hat, sind bestimmte Wesensmerkmale gemeinsam, welche quantitativ unterschiedlich sein können. Seien es bspw. mehr oder größere Monopole, ein unterschiedlicher Grad der Zentralisation, und so weiter.
Das Verhältnis zwischen Staaten ist vor allem durch die Konkurrenz, die aus der Monopolkonkurrenz erwächst, charakterisiert (siehe Kapitel 1 und 3). Es ist deutlich, dass alle Staaten versuchen aufzusteigen bzw. dem anderen Staat in der Konkurrenz überlegen zu sein. Um zu verstehen, wie sich diese Konkurrenz und somit das Verhältnis der Staaten zueinander gestaltet, gilt es nun auch quantitative und qualitative Unterschiede zwischen den Staaten zu analysieren. Dabei ist allerdings klar, dass die Qualität als Staat der unter den Gesetzen der monopolistischen Konkurrenz agiert (und damit sein Wesen) nicht geändert wird, dadurch dass es weitere andere qualitative Unterschiede zwischen den Staaten gibt. Diese quantitativen und qualitativen Unterschiede können viel eher Aufschluss darüber geben, wie Staaten in der Konkurrenz auf- und absteigen. Diese qualitativen Unterschiede sind relevant, da sie das Verhältnis zwischen Staaten als deren relative Stellung in der Konkurrenz zueinander aufzeigt, und damit die Wahrscheinlichkeit von Auf- und Abstiegstendenzen offenbart wird. Dieses Verständnis ermöglicht die Einordnung von Notwendigkeiten, mit denen es das Kapital zu tun hat, um diese Einsichten für die revolutionäre Strategie und Taktik zu nutzen und an die entsprechenden Besonderheiten anzupassen.
Welche genau diese qualitativen und quantitativen Unterschiede sind, wird die KP im Laufe der nächsten Zeit genauer anhand von ausgewählten Staaten untersuchen. Dazu könnte beispielsweise der Besitz von Atomwaffen zählen, die Teilnahme an einem Staatenbündnis und geographische Gegebenheiten. Quantitativ kann sich dies beispielsweise an der Menge der verfügbaren Arbeitskraft oder der Wirtschaftsleistung ausdrücken. Bei dieser Untersuchung ist die Bildung neuer Potenzen durch das Zusammenführen einzelner Quantitäten, die in ihrem Wesen unterschiedlich sind, zur Summe ihrer Teile, zu berücksichtigen, um besonders auf qualitative Sprünge im Weltsystem eingehen zu können. Dennoch ist wichtig zu betonen, dass sich durch qualitative Sprünge das Wesen des Staates als handelnd unter den Gesetzmäßigkeiten der Monopolbildung und -konkurrenz nicht ändert.
Die Bedeutung von Quantitäten und Qualitäten im imperialistischen Weltsystem bezieht sich nicht nur auf die Staaten und ihre Stellung in der imperialistischen Hierarchie, sondern auch auf deren Verhältnis zueinander. Im Kapitel 3 wurde dargestellt, dass durch die monopolistische Konkurrenz, den mit ihr einhergehenden Kapital- und Warenexport und der ungleichmäßigen Entwicklung, Abhängigkeiten entstehen. Abhängigkeiten – als Verhältnisse – haben einen qualitativen Charakter. Grundsätzlich ist ein Verhältnis ein allgemein gewordenes, also wiederkehrendes, Verhalten von zwei Einheiten zueinander. Ein Beispiel dafür ist, dass ein Staat einem anderen Staat Geld leiht, wodurch der eine Staat zum Gläubiger des anderen Staates wird. Im Verhalten des Schuldnerstaates zum Gläubigerstaat drückt sich diese Beziehung in vielfachen Handlungen aus. Sei dies, dass der Schuldnerstaat in internationalen Gremien abstimmt wie der Gläubiger, dass der Schulder gegenüber dem Gläubiger gegenüber in bilateralen Treffen nur Minimalforderungen erhebt, oder der Kapitalexport zwischen den beiden Staaten nur in eine Richtung fließt, etc. So gibt es im imperialistischen Weltsystem Verhältnisse mit bestimmten Qualitäten, hier z.B. das der Gläubiger und Schuldner, die direkt aus den wesentlichen Gesetzmäßigkeiten des Imperialismus erwachsen. Diese qualitativen Verhältnisse können widerum quantitativ stärker oder schwächer sein, z.B. durch die Höhe der Verschuldung.
Bei solchen Verhältnissen muss klar sein, dass diese asymmetrisch sind. Das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung macht deutlich, dass die Entwicklung von Staaten niemals identisch zueinander sein kann. So kann das Verhalten, das sie zueinander ausprägen, auch nicht (oder nur für einen sehr begrenzten Zeitraum) durch Symmetrie geprägt sein. Es ist ein ungleiches Verhältnis, auch wenn dieses bei Imperialisten auf demselben Entwicklungsniveau durch Wechselseitigkeit gekennzeichnet sein kann. Durch das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung (siehe Kapitel 3), ist deutlich, dass diese Verhältnisse nicht starr sind, sondern Veränderung unterzogen sind. In der weiteren Forschung wird die KP ihren Fokus darauf legen, wie sich Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Staaten ausdrücken, ändern und im Verhältnis zur imperialistischen Hierarchie hinsichtlich des Auf- und Abstiegs von Staaten stehen.
4.2 Das Verständnis von quantitativen und qualitativen Unterschieden im imperialistischen Weltsystem anderer Parteien
Die Frage nach quantitativen und qualitativen Unterschieden zwischen Staaten im imperialistischen Weltsystem wird auch von anderen Parteien betrachtet. Im Folgenden wird auf ausgewählte Darstellungen von anderen Parteien eingegangen. Ob, und wenn ja, welche, qualitativen Unterschiede es zwischen Staaten gibt, wird in der internationalen kommunistischen Bewegung kontrovers diskutiert. Im Zuge des Ukraine-Kriegs wurden zwei grundlegend unterschiedliche Verständnisse von qualitativen Unterschieden deutlich. Auf der einen Seite steht das Verständnis, dass es hinsichtlich des Wesens der Staaten als imperialistische Staaten einen qualitativen Unterschied zu nicht-imperialistischen Staaten bzw. kapitalistischen Staaten gibt. Dieses Verständnis wird beispielsweise von der RKAP vertreten. Auf der anderen Seite steht die Position der KO, die auch von beispielsweise der SKP, KKE und PCM vertreten wird, dass es keinen qualitativen Unterschied zwischen Staaten hinsichtlich ihres Wesen gibt, aber es durchaus unterschiedliche Eigenschaften der Staaten gibt, die mit ihrer Stellung in der imperialistischen Hierarchie zusammenhängen.
4.2.1 Qualitative Unterschiede im Wesen
Diese Position macht im heutigen Imperialismus eine Trennung zwischen imperialistischen Staaten und nicht-imperialistischen kapitalistischen Staaten auf. Die Grundlage dieser Position ist Lenins Formulierung der “Handvoll Räuber” in der Imperialismusschrift (LW 22, S.195; 198). Vertreter dieser Position beziehen sich auf diese Formulierung, um einen qualitativen Unterschied zwischen der Handvoll Räubern bzw. imperialistischer Großmächte und anderen Staaten zu begründen. Es sei eine Handvoll Staaten, die die qualitative Eigenschaft der Imperialisten ausgeprägt habe, der Rest der Staaten habe diese nicht ausgeprägt und werde (in unterschiedlichem Maße) von den Imperialisten ausgeplündert und unterdrückt. Diese Position wird von unterschiedlichen Parteien und Organisationen vertreten. Hier wird dieses Verständnis beispielhaft an den Ausführungen der RKAP dargestellt.
Die RKAP macht gerade in neueren Texten deutlich, dass der Kapitalismus im Stadium des Imperialismus durch eine “Handvoll Räuber” gekennzeichnet ist. Während der Auseinandersetzung zwischen RKAP und KKE im Jahr 2022 veröffentlichte die RKAP auf Solidnet: “Gleichzeitig scheinen Sie [gerichtet an die KKE, Anmerkung der Verfasser] Lenins Schlussfolgerung zu vergessen, dass der Kapitalismus inzwischen eine Handvoll (weniger als ein Zehntel der Weltbevölkerung, in der „großzügigsten“ und übertriebensten Berechnung – weniger als ein Fünftel) besonders Reicher und Mächtiger ausgewählter Staaten, die die ganze Welt ausrauben […] Sie vertuschen diesen Moment irgendwie bescheiden und halten diese leninistische Bestimmung für angeblich veraltet” (RKAP, 2022(a)). Die RKAP stellt klar, dass ihr zufolge der Kern von Lenins Theorie des Imperialismus zusammen mit ihrer ökonomischen Grundlage, der Monopolisierung der Produktion, der sei, “dass eine Handvoll führender imperialistischer Mächte, die die Welt geteilt haben und für ihre Neuaufteilung kämpfen, alle anderen bürgerlichen Länder unter dem Imperialismus ausplündern. Heute hat sich das Wesen des Imperialismus nicht verändert. Die Bedeutung der „Handvoll“ und ihr Einfluss in der heutigen Welt haben im Vergleich zu Lenins Zeiten deutlich zugenommen. Heute wird diese Handvoll von den Vereinigten Staaten von Amerika angeführt” (ibid.).
Die RKAP betont an mehreren Stellen, dass die Handvoll Räuber ihrem Verständnis nach von den USA bestimmt wird. Dabei geht sie soweit zu attestieren, dass die EU-Länder kaum noch unabhängige Politik von den USA betriebe: “Die politische Praxis des Verhaltens der EU-Länder und anderer führender imperialistischer Mächte im Zusammenhang mit dem Konflikt in der Ukraine hat gezeigt, dass es fast keine unabhängige Politik der EU-Länder gibt, sondern die Tatsache, dass diese Länder nach der Pfeife der Vereinigten Staaten tanzen Staaten, sogar zum Nachteil ihrer Volkswirtschaften, in der Hoffnung, auch in Zukunft den Rest der Welt weiter auszuplündern. Die Vereinigten Staaten führen die profitabelste Operation durch – die Kreditvergabe, die ideologische und politische Gestaltung des Faschismus, der ihnen feindlich gegenübersteht und sogar die bürgerliche Demokratie zerstört, die über den Völkern der Welt hängt. Gleichzeitig werden die EU-Länder zumindest kurzfristig deutlich geschwächt und ihre Präsenz auf diesem Markt gestärkt“ (ibid.).
Dieses Verständnis der “Handvoll Räuber” als qualitativ verschieden vom Rest der Staaten zeigt sich auch an anderer Stelle bei der Einordnung der Russischen Föderation in der imperialistischen Hierarchie. Sie schreibt: “Insgesamt ist die Wirtschaft der Russischen Föderation im Vergleich zu den alten imperialistischen Raubtieren sehr schwach, sowohl was ihre Größe als auch ihre deformierte Struktur und ihr eher niedriges technisches Niveau betrifft. In den Jahren der Kapitalisierung ist diese Lücke entstanden und hat sich in der Folgezeit erheblich vergrößert. Gleichzeitig ist der Grad der Monopolisierung und damit der wirtschaftlichen Schichtung der Bevölkerung Russlands sehr hoch. Im vergangenen Jahr lag Russland bei der Zahl der Dollar-Milliardäre weltweit an fünfter Stelle. Damit sind die potenziellen Voraussetzungen dafür gegeben, dass der russische Imperialismus in die Riege der wichtigsten Raubtiere und Plünderer aufsteigen will” (RKAP, 2022(b)). Hier wird Russland als Imperialist bezeichnet, allerdings qualitativ verschieden von der Riege der “wichtigsten Raubtiere und Plünderer”.
Die RKAP sieht einerseits einen Unterschied zwischen der “Handvoll Räuber” und anderen Imperialisten (z.B. Russland) sowie zwischen den anderen Imperialisten und nicht-imperialistischen Ländern. Sie deuten sogar an, dass die USA einen qualitativen Sprung im Vergleich zu dem Rest der Handvoll Räuber gemacht hätten. Diese Unterscheidung fußt nicht auf den wissenschaftlichen Erkenntnissen des historischen und dialektischen Materialismus, da sie sich in der Bestimmung der Hierarchie und der quantitativen und qualitativen Unterschiede der Staaten im imperialistischen Weltsystem nicht auf das Wesen des Imperialismus beziehen. Sie verstehen den Imperialismus nicht in seiner Entwicklung entlang der treibenden Widersprüche, wodurch auch das Verständnis von Qualität und Quantität nicht daraus gespeist ist. Die Texte der RKAP vermitteln viel eher den Eindruck, dass sie quantitative Stärke und quantitativ weiter vorangeschrittene wirtschaftliche Kraft einzelner Länder mit einer neuen Qualität verwechseln. Wir kritisieren an diesem Verständnis, dass es nicht aus den wesentlichen Entwicklungen des Kapitalismus abgeleitet wird und teilen insofern auch nicht den scholastischen Bezug auf Lenins Handvoll Räuber, wodurch sich der RKAP zufolge der qualitative Unterschied kennzeichnet.
Wie oben dargestellt, wird der qualitative Unterschied zwischen Staaten scholastisch auf ein aus dem Kontext gerissenes Zitat bei Lenin zurückgeführt. Dies ist ein falsches Verständnis der wesentlichen Gesetzmäßigkeiten des Imperialismus und die daraus resultierenden Eigenschaften von Staaten in der imperialistischen Hierarchie. Dieses Verständnis führt in der Konsequenz – wie auch im Falle der RKAP – dazu, sich auf die Seite des kleineren Imperialisten zu stellen und sich mit der eigenen Bourgeoisie gegen die “Handvoll Räuber” zu verbünden. Dies ist eine klassenneutrale Position, die den Imperialismus nicht bekämpft, sondern den “eigenen” Imperialisten beim Aufstieg in der Hierarchie unterstützt. Die Arbeiterklasse wird damit auf die Teilnahme an imperialistischen Kriegen orientiert unter dem Deckmantel des “anti-imperialistischen” Kampfes.
4.2.2 Qualitative Gleichheit im Wesen
Diese von uns vertretene Position besteht darin, dass es zwischen Staaten keine wesentlichen qualitativen Unterschiede im heutigen Stadium des Imperialismus gibt. In allen Staaten wirken die wesentlichen Gesetzmäßigkeiten des Imperialismus. Auch wenn diese wesentliche Qualität bei allen Staaten gleich ist, ist sie quantitativ unterschiedlich ausgeprägt und es gibt weitere Qualitäten, die die Staaten unterscheiden. Diese Position wird unter anderen von der SKP, KKE und PCM vertreten.
Die KKE geht auf die Frage von quantitativen und qualitativen Unterschieden in mehreren Texten ein. Papadopoulos beispielsweise stellt klar, dass alle Staaten, die ins Stadium des Monopolkapitalismus übergegangen sind, einheitliche Eigenschaften aufweisen. Diese Eigenschaften stehen “im Zusammenhang mit der Vorherrschaft der Monopole, den starken Aktiengesellschaften und der Zuspitzung des kapitalistischen Wettbewerbs, der Bildung des Finanzkapitals, der Erhöhung der Bedueutung des Kapitalexports im Verhältnis zum Export von Waren, des Kampfes um die Neuverteilung der Märkte und Gebiete zwischen den kapitalistischen Staaten, in denen Konzerne mit großen Anteilen am kapitalistischen Markt ihren Sitz haben” (Papadopoulos, 2016). Diese Sichtweise findet sich auch bei Papariga (2013) und Marinos (2016). Diese Eigenschaften sind zentral, da sie auf dem ökonomisch Wesentlichen beruhen – dem Monopol. Gleichzeitig macht er deutlich, dass diese Staaten “schwächer oder stärker ins internationale imperialistische System eingebunden sind” (Papadopoulos, 2016). Außerdem sind alle Staaten vom Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung betroffen. Aus den zentralen ökonomischen Vorgängen leitet er die Beziehungen zwischen Staaten ab, die dynamische, ungleiche wechselseitige Abhängigkeiten kennzeichnet.
Die wesentliche Gleichheit der Staaten hinsichtlich der ökonomischen Eigenschaften der Monopolbildung bedeutet jedoch nicht, dass die KKE alle Staaten für gleich in Bezug auf ihre Position innerhalb des imperialistischen Weltsystems hält. Sie macht deutlich, dass es Ungleichheit hinsichtlich ihrer ökonomischen, militärischen und politischen Stärke gibt und sie unterschiedliche Positionen in der imperialistischen Hierarchie einnehmen. Diese Ungleichheiten in ihrer Stärke ändern jedoch nichts am Vorhandensein der wesentlichen Eigenschaften des Monopolkapitalismus und damit der wesentlichen qualitativen Gleichheit (Papadopoulos, 2015). Um die Stellung eines Staates in der imperialistischen Hierarchie bestimmen zu können, nennt die KKE unterschiedliche Eigenschaften. Auf dieser Grundlage wird deutlich, dass wesensgleiche imperialistische Länder sich sowohl qualitativ als auch quantitativ unterscheiden, ohne dass sich dadurch ihr Wesen als imperialistische Länder ändert, das auf dem wirtschaftlichen Wesen des Imperialismus beruht. In diesem Sinne ist das Modell der imperialistischen Pyramide besonders effektiv: Einerseits drückt es qualitative Unterschiede innerhalb einer Skala aus, die keine Wesensveränderungen impliziert; andererseits sind die Unterschiede nicht nur quantitativ und graduell, sondern implizieren auch Sprünge in der Hierarchie. Qualitative Unterschiede zwischen Staaten werden einerseits auf Grundlage der Stellung in der Hierarchie hervortreten, und andererseits die Stellung der Staaten in der Hierarchie auch durch ihre unterschiedlichen Eigenschaften bestimmt (Opsimos, 2017).
Dieses Verständnis wird auch von der PCM geteilt, die als das Wesen des Imperialismus die Monopolbildung versteht. Aus dieser geht die universelle Interdependenz zwischen den Staaten einher. Sie stellen sich das imperialistisches Weltsystem als Pyramide vor. Die Spitze bilden die vollentwickelten Staaten, auf der darunter folgenden Stufe die Staaten mit mittlerer Entwicklung und unten an der Basis die Staaten mit niedriger Entwicklung (PCM, 2017: Parteiprogramm). Die Staaten weisen quantitative Unterschiede in ihrem Entwicklungsgrad auf, die ihre Stellung in der imperialistischen Hierarchie prägen (PCM, 2018).
Die Kommunistische Partei Schwedens (SKP) schreibt in ihrem Programm, dass Kapitalismus und Imperialismus im Besonderen durch bestimmte Prozesse charakterisiert sind. Diese Prozesse sind erstens das ständige Anwachsen der Konzentration der Produktion und des Kapitals, zweitens, die Verschmelzung von Bank- und Industriekapital zu Finanzkapital, drittens, die Bedeutung von Kapitalexport wächst im Vergleich zur Bedeutung von Warenexport. Diese Prozesse finden der SKP zufolge in allen einzelnen kapitalistischen Staaten statt. Entsprechend bedeutet dies, dass Kapital in allen kapitalistischen Staaten konzentriert wird, in allen kapitalistischen Staaten erreicht die Fusion von Bank- und Industriekapital neue Niveaus, und in jedem Staat gewinnt die Bedeutung von Kapitalexporten in der Tendenz an Bedeutung. Diese bedeute, dass es zwischen kapitalistischen Staaten keine qualitativen, sondern nur quantitative Unterschiede gebe. Es gebe keinen Widerspruch darin, dass manche Staaten weiter entwickelt sind als andere, da Kapitalismus im imperialistischen Stadium sich ungleich entwickelt und Entwicklung keinem geradlinigen Pfad folgt (SKP, 2021).
Diese Sichtweise wird im Artikel zum Imperialismus und der aktuellen Weltlage des Parteivorsitzenden Andreas Sörensen weiter deutlich gemacht. Er zeigt auf, dass die wesentlichen Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung des Kapitalismus für alle kapitalistischen Staaten gelten und es aus eben diesem Grund keinen Sinn ergibt, zwischen kapitalistischen und imperialistischen Staaten zu unterscheiden (Sörensen, 2023). Die SKP zeigt also deutlich auf, dass eine qualitative Gleichheit im Wesen der Staaten besteht. Aufgrund der ungleichmäßigen Entwicklung macht die SKP deutlich, dass zwischen den Staaten hinsichtlich dieser Eigenschaften quantitative Unterschiede bestehen.
Das Verständnis, dass es hinsichtlich des Wesens der Staaten im Imperialismus keine qualitativen Unterschiede gibt, führt in der politischen Konsequenz dazu, dass kein Staat “besser” oder “schlechter” aus der Perspektive der Arbeiterklasse ist. Die Herrschaft des einen oder anderen Imperialisten über die nationale Arbeiterklasse bedeutet immer Ausbeutung und Unterdrückung, weshalb ein Krieg zwischen Imperialisten oder eine Schwächung eines Imperialisten durch einen anderen keinen Fortschritt für die Arbeiterklasse in ihrem Kampf für den Sozialismus darstellt. Die mitunter großen quantitativen Unterschiede zwischen den Staaten dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie dasselbe Wesen haben und Feinde der Arbeiterklasse sind.
Fazit
Im Artikel haben wir unsere Standpunkte ausgehend von den Klassikern des ML und den Dissens in der internationalen kommunistischen Bewegung (iKB) zu zentralen Punkten der Auseinandersetzung dargelegt. Die iKB ist über zentrale Punkte des Imperialismus gespalten, wie wir exemplarisch anhand der Betrachtung der einzelnen Parteien dargelegt haben. Wir gehen nicht davon aus, dass sich diese Dissense einfach durch Diskussionen auflösen, da sie sehr tief liegen. Wie im Artikel aufgezeigt, zeugen die revisionistischen Parteien deutlich von einem unwissenschaftlichen Verständnis des historischen Materialismus und von Lenins Lehren zum Imperialismus. Dennoch halten wir es für notwendig auch mit bzw. gegen diese Parteien weiter um Klarheit in der Kommunistischen Bewegung zu ringen.
Das unwissenschaftliche Imperialismusverständnis einiger Parteien ist allerdings nicht nur eine Frage der theoretischen Auseinandersetzung, sondern es hat praktische Konsequenzen für das Handeln der Kommunisten. Um unsere Schlagkraft weiter zu entfalten, vertiefen wir unser Verständnis des Imperialismus durch Forschung auf Grundlage dieser theoretischen Basis, wie sie hier im Artikel dargelegt wurde. Das Ergebnis der Forschung, als Anwendung der Theorie auf die konkrete Weltlage, kann auch eine Weiterentwicklung oder teilweise Revidierung unserer Theorie beinhalten.
Quellen
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1 Bitte beachten: Ein Abhängigkeitsverhältnis ist kein Ausbeutungsverhältnis. Es wäre fatal, ein Ausbeutungsverhältnis auf ein ungleiches wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis zu reduzieren. Ein Ausbeutungsverhältnis besteht zwischen Klassen, wo die eine Klasse den von der anderen Klasse produzierten Mehrwert abschöpft. Bei der Frage der Abhängigkeiten im imperialistischen Weltsystem geht es um das Verhältnis zwischen Staaten, vermittelt über das Verhältnis von Wirtschaftseinheiten bzw. (Monopol-)Bourgeoisien unterschiedlicher Länder. Zwischen Staaten oder Monopolen findet Transfer statt, aber keine Ausbeutung.