Bericht über den sechsten ver.di-Bundeskongress – eine Zeitenwende

Ein Bericht von Fatima Saidi

Perspektiven für Frieden, Sicherheit und Abrüstung?

Schon in den Monaten vor dem sechsten Bundeskongress von Ver.di diesen September zeichnete sich immer mehr ab, dass es um eine Frage von historischem Gewicht gehen würde: Olaf Scholz hatte in seinen Reden nach Februar 2022 eine „Zeitenwende“ im Weltgefüge heraufbeschworen. Die Zeitenwende, die sich tatsächlich abzeichnete, war eine Veränderung in der Haltung der Gesellschaft und vor allem von weiten Teilen der Friedensbewegung zu Fragen von Krieg und Frieden. Würde es mit dem Bundeskongress eine ebensolche Zeitenwende auch in der Gewerkschaft ver.di geben? Die Diskussionen um die entsprechenden Anträge in Fachbereichen sowie auf Bezirks-und Landesebene spiegelten den verschärften Kurs der Regierung auf Aufrüstung der Bundeswehr seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine letzten Jahres wider. Der Gewerkschaftsrat, der von den Delegierten auf dem Bundeskongress gewählt wird, um zwischen den Kongressen die Arbeit des Bundesvorstands zu kontrollieren und die Ziele der Organisation zu bestimmen, hatte einen Leitantrag eingebracht, der diese Fragen klar beantworten sollte – und einen historischen Bruch mit bisherigen Positionen der Friedens-und Gewerkschaftsbewegung bedeutete. Friedenskräfte innerhalb von Ver.di organisierten schon in den Wochen vorher die Petition „Sagt Nein!“: Nein „zu einer Kriegslogik, die unter dem Deckmantel eines sogenannten ‘umfassenden Sicherheitsbegriffs’ ausdrücklich ‘militärische Sicherheit’, indirekt ‘Auf- und Hochrüstung’ und Kriegseinsätze auch deutscher Soldat:innen befürwortet – ‘was zur Erfüllung ihrer Aufgaben in der Landes- und Bündnisverteidigung erforderlich ist’ und das alles unter der den wahren Kern verschleiernden Überschrift: ‘Perspektiven für Frieden, Sicherheit und Abrüstung in einer Welt im Umbruch’“.

Der Kurs war in dieser Frage also schon gesetzt. Insgesamt wurden für den Kongress etwas mehr als 1000 Anträge eingereicht, die seit dem letzten Bundeskongress vor vier Jahren auf Bezirksebene, Landesebene und in den verschiedenen Personengruppen wie beispielsweise Senioren und Seniorinnen oder Migration eingereicht wurden. Nur die Themen rund um Tarif- und Arbeitszeitpolitik, sowie Satzungs- und gesellschaftliche Themen wie Frauenpolitik, Rechtsextremismus und Frieden wurden auf dem Bundeskongress besprochen. Ein großer Teil der Anträge konnte aber – auch wegen der umfangreichen Vorträge der Führung und der Reden der Regierungsvertreter – nicht behandelt werden und wird damit im Nachhinein durch ein gewähltes kleines Gremium, den Gewerkschaftsrat, entschieden. Es gab damit keine Möglichkeit, beispielsweise über die Organisation von Arbeitskämpfen, Bildungspolitik oder Illusionen in den Kapitalismus im Leitantrag des Gewerkschaftsrats und damit verknüpft beispielsweise den Kampf gegen den Klimawandel zu diskutieren. Weitreichende Entscheidungen werden somit an ein sehr kleines Gremium delegiert und dementsprechend die Positionsfindung nicht diskutiert.

Klar war aber von Anfang an, dass die Positionen in der ver.di zu Krieg und Frieden so kontrovers sind, dass diese Debatte nicht delegiert, sondern auf dem Bundeskongress stattfinden sollte. Zum Leitantrag des Gewerkschaftsrats (E 0841) gab es einige Änderungsanträge, die sich ausdrücklich gegen das 100 Milliarden Bundeswehr-Sondervermögen, die kritiklose Darstellung der NATO und die Ablehnung der Aufnahme von ukrainischen Deserteuren wendeten und eine weitere Verarmung der Arbeiterklasse anprangerten. All diese Änderungsanträge waren den Delegierten zur Ablehnung empfohlen. Letzten Endes setzte sich der Leitantrag mit kleineren Änderungen dann auch durch. Ver.di vertritt damit die Position, dass es eine europäische Friedensordnung gäbe. Die Misshandlung und illegale Zurückdrängung von Flüchtlingen an der europäischen Grenze durch Frontex, die sogenannten Europäischen Partnerschaftsabkommen, die zur Flutung der Märkte afrikanischer Länder mit Billigstprodukten und damit zum Absterben von deren Ökonomie führen wie auch militärische Einsätze in der Sahel-Region werden damit unter den Tisch gekehrt. Die Unterstützung von Waffenlieferungen an die Ukraine ist damit beschlossene Sache, man stellt sich auf die Seite „der Ukraine“, statt der Arbeiterinnen und Arbeiter dort, in Russland und international. Der Angriff der herrschenden Klasse in Russland wird zum Vorwand genutzt, um sich für die Militarisierung der Gesellschaft einzusetzen und die Aufrüstung der Bundeswehr zu unterstützen. Das 2-Prozent-Ziel des Militäretats wird nur noch abgelehnt, weil damit die Ausgaben bei einer Rezession sinken können, d.h. es wird befürchtet, dass das Budget zu niedrig werden könnte!

Das Ergebnis der Abstimmung, die mehrheitliche Befürwortung von Waffenlieferungen, wurde schon mit dem Auftakt des Bundeskongresses von Bundeskanzler Scholz eingeleitet: Die Nähe zur Regierung und ihre Politik demonstrierten der ver.di-Vorsitzende Werneke und DGB-Vorsitzende Fahimi (beide selbst SPD-Mitglieder) deutlich, als sie die dem „lieben Olaf“ und der Regierung gratulierten, dass sie in einigen Fragen schon auf dem richtigen Weg seien. Friedensproteste gegen den Kanzler dagegen wurden rigoros versucht zu verhindern, Banner gegen Aufrüstung und Protest Schilder mussten in den Saal hineingeschmuggelt werden. Unterstützt durch den Protest der Hamburger Hafenarbeiter gegen den Verkauf ihres Hafens konnte Scholz immerhin nicht ganz ungestört seine Rede halten. Insgesamt drängte sich beim ver.di-Bundeskongress jedoch eher der Vergleich zu Kontrollen vor Messen mit Bundeswehrauftritt auf als zu einer Organisation, in der das Wort „Demokratie“ rund um die Uhr auf den Bildschirmen eingespielt wird.

Auf die Regierung eines kapitalistischen Staates statt auf die eigene Stärke setzen?

Der betonte Schulterschluss mit der Regierung zog sich durch den ganzen Kongress – besonders die Gewerkschaftsführung betonte immer wieder die Nähe zur Regierung, aber auch die Anträge aus der Basis und den Gremien stellten mehr Forderungen und Appelle an die Regierung, anstatt Losungen an die eigene Basis auszugeben. Wirtschaftsminister Habeck und Arbeitsminister Heil schafften es in ihren Reden geschickt zu verschleiern, dass die Politik der letzten Jahrzehnte durchgängig das Interesse der Unternehmen und der Vermögenden, des Kapitals, vertreten hat: Ob es um den ersten europäischen-grünen Militäreinsatz-Einsatz von deutschem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg 1999 in Jugoslawien ging, die Hartz-Gesetze, die die Abstiegsängste der Arbeiter und Arbeiterinnen schüren und damit Tarifverhandlungen erschweren oder das neueste Beispiel des 100 Milliardenpakets für Aufrüstung und Kriegsvorbereitung, während viele im letzten Winter nicht mehr heizen konnten. Heil stellte sich scheinheilig auf die Seite der Streikenden und prekär Bezahlten und verschwieg dabei, dass gerade die Führung der SPD die unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen von einem Großteil des Volks mitgestaltet hat. Der donnernde Applaus im Raum zeigte allerdings leider, dass ein Großteil der Delegierten dies anscheinend ebenfalls vergessen hatte.

Der Einfluss der Sozialdemokratie in den deutschen Gewerkschaften wurde damit nochmals sehr deutlich demonstriert. Gleichzeitig gab es aber auch viele Kollegen und Kolleginnen, die sich in ihren Wortbeiträgen für eine Gewerkschaftspolitik von der Basis her, gegen Sozialpartnerschaft und gegen Illusionen in die Zusammenarbeit zwischen Arbeiterklasse und Kapital einsetzten. Der Druck im Raum gegen Sozialpartnerschaft war schließlich so groß, dass sogar Frank Werneke gezwungen war, sich dagegen auszusprechen, was natürlich angesichts der vorangegangenen Haltung zu Regierungsvertretern unfreiwillig komisch wirkte. Besonders die Schlichtungsvereinbarungen wurden in diesem Zusammenhang von Kollegen und Kolleginnen sehr kritisch aufgegriffen, die in der letzten Tarifrunde des öffentlichen Dienstes in den Streikbewegungen in Krankenhäusern in Berlin und anderen Betrieben die lähmende Wirkung dieser Art von Klassenzusammenarbeit selbst erlebt hatten und es auf den Punkt brachten: „da nimmt man unser Selbstbewusstsein in einer Auseinandersetzung“. Viele Kollegen und Kolleginnen hätten sich auch schon in den vorausgegangenen Tarifrunden über mangelnde Mitsprache beschwert – „warum soll ich mich organisieren, wenn am Ende dann doch jemand anders für mich entscheidet?“. Für eine Stärkung der Basis sprachen sich auch weitere Stimmen aus, die sich gegen eine weitere Vernachlässigung der Vertrauensleute und der Gewerkschaft als eine Art Dienstleister einsetzten.

Für den Zusammenschluss von kämpferischen Kollegen und Kolleginnen in der Gewerkschaft!

Es gibt also durchaus Anknüpfungspunkte, um sich gegen die aktuelle Ausrichtung von ver.di auf die Zusammenarbeit mit Regierung und Kapital zusammenzuschließen sowie um das Klassenbewusstsein, das Bewusstsein der eigenen Kampfkraft und die Notwendigkeit, Gewerkschaftsarbeit von unten zu organisieren, zu stärken. Wie notwendig es ist, sich auf den Klassenkampf von oben vorzubereiten, hat sich zuletzt am Streik der Hafenarbeiter letztes Jahr und in den aktuellen Tarifrunden gezeigt, als der Präsident der Deutschen Arbeitgeberverbände Dulger „neue Regeln für Arbeitskämpfe“ forderte.

Und obwohl die Kräfteverhältnisse sich in Fragen des Vertrauens auf Regierungen und Demokratie im Kapitalismus sowie in Friedensfragen ganz klar gezeigt haben, hat es sich gelohnt, an diesem Bundeskongress von ver.di teilzunehmen und über die künftige Ausrichtung der Gewerkschaft zu diskutieren. In den Abstimmungen waren diese Kräfteverhältnisse auch teilweise gar nicht so eindeutig, zu kritischen Anträgen wie der Aufhebung der Schlichtungsverfahren oder auch eine Kritik an Fahimis Aussagen zum Kapitalismus2 fanden sich sogar Mehrheiten oder knappe Mehrheiten. Viele Kollegen und Kolleginnen hat es gestört, dass die bisherigen Grundsätze zu Waffenlieferungen über Bord geworfen werden sollen und wenig Fokus auf die Arbeit an der Basis gelegt wird. Das hat sich nicht zuletzt darin gezeigt, dass vor allem zu den Anträgen über Krieg und Frieden eine sehr breite Debatte mit vielen Beteiligungen stattgefunden hat und auch Interesse da war, sich zu vernetzen, sich gemeinsam gegen Illusionen über Sozialpartnerschaft und stattdessen für eine aktive Stärkung der Basis, für klassenkämpferische Gewerkschaftspolitik von unten einzutreten. Auch wenn sich die Gewerkschaften als Ganzes in den Kriegskurs der Bundesregierung einreihen und ihre antimilitaristischen Grundpositionen gerade über Bord werfen, ist und bleibt es falsch, aus den DGB-Gewerkschaften herauszugehen. Vor einiger Zeit haben wir als kommunistische Organisation dazu Thesen zur Arbeit in den DGB-Gewerkschaften veröffentlicht.

Letzten Endes ist klar: Gewerkschaftspolitik wird vor allem im Alltag mit den Kollegen und Kolleginnen an der Basis gemacht und diskutiert. Zu große Illusionen in die Umsetzung der Anträge dürfen wir nicht haben. Das zeigt sich z.B. am Thema Arbeitszeitverkürzung, wozu schon auf den letzten Bundeskongressen immer wieder Schritte zu Diskussion und Kämpfen beschlossen wurde, aber bisher nur wenig davon umgesetzt. Mit den Diskussionen auf dem Bundeskongress ist damit nur eine wichtige Zwischenetappe abgeschlossen, in den nächsten Jahren müssen wir weiter daran arbeiten, wie der Druck auf der Straße und in den Betrieben gegen Kriege und ausbeuterische Politik des kapitalistischen Systems aufgebaut werden kann und uns dazu mit kämpferischen Kollegen und Kolleginnen vernetzen. Und dennoch gilt: Innerhalb des Kapitalismus, der hauptsächlich zu Profit und Kriegen drängt, werden wir nicht zu Gerechtigkeit und einem guten Leben für den größten Teil der Menschen weltweit kommen. Wir müssen zwar innerhalb des Kapitalismus und innerhalb der Gewerkschaften für Reformen kämpfen, aber dabei auch das Bewusstsein dafür schärfen, dass letztendlich der Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital erst durch eine Revolution gegen das kapitalistische System und den Aufbau im Sozialismus überwunden werden kann.

1 https://www.sagtnein.de/ver.di-leitantrag-buko/

2 Z.B. Dezember 2022: https://www.labournet.de/politik/gw/selbstverstaendnis/nun-unverbluemter-standortwettbewerb-nicht-die-zeit-fuer-kapitalismuskritische-grundsatzdebatten-dgb-chefin-verteidigt-bonizahlungen-trotz-staatshilfen/ Zitat Fahimi: »Das sind die normalen Mechanismen der Marktwirtschaft […] Es mag ja sein, dass die einem nicht gefallen. Aber jetzt ist nicht die Zeit für kapitalismuskritische Grundsatzdebatten, sondern für effektives Handeln in der Realität.«

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