Belästigung, Missbrauch, Mord – Kontinuitäten der Gewalterfahrungen von Frauen

Stellungnahme des ZK der Kommunistischen Partei zum 25. November, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen

Seit einigen Wochen sorgt der Fall von Gisèle Pélicot für Schlagzeilen. Über zehn Jahre hinweg hat ihr damaliger Ehemann sie betäubt, im Internet anderen Männern zur Vergewaltigung angeboten und sie unzählige Male selbst missbraucht. Nun steht er zusammen mit 50 weiteren Mitangeklagten in Frankreich vor Gericht und hat bereits alle Taten gestanden. Dieses äußerst heftige Beispiel zeigt auf eindrückliche Art, was jedem bewusst sein sollte: Das Thema Gewalt an Frauen hat in keiner Weise an Aktualität verloren, sondern ist nach wie vor bittere Realität. Laut Zahlen des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) erleben in Deutschland zwei von drei Frauen in ihrem Leben sexuelle Übergriffe; etwa jede vierte Frau wird mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt durch ihren aktuellen oder durch ihren früheren Partner.[1] Zum Opfer schwerer sexualisierter Gewalt wird dem BMFSFJ zu Folge jede siebte Frau. Und das sagen aktuelle Studien – die Dunkelziffer dürfte jedoch deutlich höher liegen, da viele Frauen sich nicht trauen, die Taten zur Anzeige zu bringen.

Nicht selten führt die Gewalt gegen Frauen auch zum Tod. Fast jeden Tag wird eine Frau in Deutschland von ihrem Partner oder Ex-Partner ermordet – im Jahr 2023 waren es nach neuesten Zahlen 360 Frauen[2] (in einer früheren Meldung handelte es sich um 155 Frauen im Vergleich zu 24 Männern[3]). Doch der Frauenmord oder Femizid – als Mord an einer Frau, eben weil sie eine Frau ist – ist in Deutschland bis heute kein eigener Straftatbestand. Eine Studie der Ruhr Uni Bochum stellte sogar fest, dass Gerichte in Deutschland bei Partnerinnentötungen meist milder urteilen als in anderen Tötungsdelikten.[4]

Doch Gewalt gegen Frauen beginnt nicht erst mit diesen brutalen Taten; sie sind lediglich der extremste Ausdruck davon. Die Gewalt gegen Frauen ist vielfältig und hat tiefgreifende Folgen für die Frau: Je nach Art der Gewalt führen Gewalt und Belästigung bei 56 bis über 80 Prozent der Opfer zu psychischen Folgeschäden, die von Schlafstörungen und erhöhten Ängsten bis hin zu einem verminderten Selbstwertgefühl, Niedergeschlagenheit und Depressionen reichen. In schweren Fällen können auch Selbstmordgedanken, Selbstverletzung und Essstörungen auftreten.[5]

Gewalt an Frauen beginnt nicht erst dort, wo ein Mann seine Hand gegen eine Frau erhebt. Sie findet dort statt, wo Frauen gedemütigt, bedroht, eingeschüchtert und isoliert werden, wo Männer Besitzansprüche an ihre Partnerin stellen, wo der weibliche Körper sexualisiert und ungefragt berührt wird, wo Frauen grundsätzlich nicht ernst genommen werden, wo sie Medizin verschrieben bekommen, die für männliche Körper gemacht wurde und deswegen unvorhersehbare Nebenwirkungen verursacht. Sie ist sehr verbreitet und wir erleben sie jeden Tag. Aber woher kommt die Gewalt gegen Frauen?

Kapitalismus bedeutet Gewalt gegen Frauen – ob in Deutschland oder Palästina

Wir leben in einer Gesellschaft, die Gewalt an Frauen kontinuierlich hervorbringt. Gewalt gegen Frauen ist im Kapitalismus keine schockierende Ausnahme, sondern vielmehr die grausame Regel.

Sie entsteht aus der Unterdrückung der Frau, die ihrerseits mit ihrer ungleichen Stellung im Produktionsprozess verbunden ist. Diese Stellung ist Resultat eines langen historischen Prozesses, in dem die Frau seit der Entstehung von Privateigentum tendenziell ins Private gedrängt wurde.[6] Diese Ungleichheit führt dazu, dass Frauen aus der Arbeiterklasse am Produktionsprozess weniger oder benachteiligt beteiligt sind, was einerseits zur relativen ökonomischen Abhängigkeit vom Mann führt und andererseits zur Folge hat, dass die Arbeit im Bereich der Reproduktion den Frauen zugeschrieben wird. Dazu gehört sowohl viele Stunden am Tag mit dem Haushalt zu verbringen als auch sich um Kinder und pflegebedürftige Menschen zu kümmern. Genauso gehört dazu, Kinder zu gebären, die in Zukunft ihre Arbeitskraft gegen Lohn verkaufen müssen. Auch heute noch sind es arbeitende Frauen, die mehr Stunden als Männer mit Haushaltstätigkeiten verbringen sowie es meist Frauen sind, die in den ersten Jahren zu Hause bleiben, um die Kinder zu betreuen.[7] Dadurch sind sie häufig kürzer erwerbstätig und zahlen über Jahre hinweg nicht in die Rentenversicherung ein. Dies erhöht das Risiko von Altersarmut erheblich – jede fünfte Frau ist davon betroffen. Außerdem erschwert es den Frauen aus der Arbeiterklasse, sich aus einer gewaltvollen Beziehung zu lösen, denn die Bedrohung von wirtschaftlicher Unsicherheit nach einer Trennung ist real.

Die Gesellschaft, in der wir leben, bringt auch immer wieder Kriege hervor. An diesem Tag erinnern wir an die Frauen, die unter den prekärsten Bedingungen um ihr Überleben und das ihrer Familie kämpfen müssen. Im Gazastreifen sind 70 % der von der UN verifizierten Toten Frauen und Kinder.[8] Fast 700.000 Frauen und junge Mädchen in Gaza haben keinen Zugang zu Hygieneprodukten, sauberem Wasser oder Privatsphäre. Frauen sind dort in besonderem Maße Krankheiten wie Durchfall, Atemwegserkrankungen und anderen Risiken ausgesetzt, da sie in den überfüllten Lagern vor allem der Familienfürsorge nachkommen müssen. Zweimal so viele Frauen wie Männer leiden in Gaza unter Hautinfektionen und zwei Drittel aller Fälle von gastrointestinalen Krankheiten und Hepatitis A betreffen Frauen.[9]

Symbolpolitik statt Hilfe

Die Politik nutzt das Thema Gewalt gegen Frauen gerne für eigene Zwecke, verschleiert dabei jedoch die klassenbedingten Ursachen und Auswirkungen der Unterdrückung. Während Unternehmen sowie der bürgerliche Staat sich dadurch zu profilieren versuchen, dass sie einige Frauen in ihre Führungspositionen heben, sind es Frauen aus der Arbeiterklasse, die in der Arbeit sexualisierte Gewalt schweigend tolerieren, um ihre eigene Existenz und die ihrer Familie weiterhin gewährleisten zu können. Es sind Proletarierinnen, die aufgrund ihrer ökonomischen Abhängigkeit ihren Partner im Fall von Gewalt nicht verlassen und die mangelnden Plätze in Frauenhäusern schmerzhaft zu spüren bekommen, während bürgerliche Frauen viele Möglichkeiten haben, sich ökonomisch und sozial zu verselbstständigen, wenn sie es nicht schon sind. Es sind auch die arbeitenden Frauen, die die Hausarbeit übernehmen und im Fall von mangelnder Kinderbetreuung zu Hause bleiben, während Frauen der herrschenden Klasse sich freiwillig für die persönliche Entfaltung in der Produktion oder im Eigenheim entscheiden können. Die Unterdrückung von und die Gewalt gegen Frauen betrifft also Frauen aus der Arbeiter- und Kapitalistenklassen grundsätzlich auf unterschiedliche Weise.

Der bürgerliche Staat betreibt gleichzeitig Maßnahmen, die dieser Unterdrückung und Gewalt nichts entgegensetzen oder sie sogar weiter verschärfen. Ein Beispiel hierfür ist die im Mai dieses Jahres vom Europäischen Parlament verabschiedete „Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“. Diese Richtlinie weist erhebliche Schwächen auf: So greift sie bei Cybermobbing nur, wenn die Straftaten „wahrscheinlich schweren Schaden oder schweren psychischen Schaden zufügen“[10], was die Opfer in die Beweislast drängt. Sie müssen nachweisen, dass sie tatsächlich unter der Tat leiden. Zudem sind „Beweise für das sexuelle Verhalten des Opfers in der Vergangenheit“ „nur“ dann zulässig, „wenn es zur Prüfung […] erforderlich ist“[11]. Das ebnet den Weg dafür, dass Frauen sich rechtfertigen müssen, warum ihnen Gewalt angetan wurde. Statt umfassender Unterstützung bleiben die Maßnahmen auf oberflächliche Postulate beschränkt, wie die Forderung, dass Plätze in Frauenhäusern „erschwinglich“ sein sollen.

Dieser politische Ansatz spiegelt sich auch im deutschen Bundestag wider, in dem noch immer Abgeordnete sitzen, die 1997 gegen das Gesetz zur Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe gestimmt haben. Auch die Polizei, ein weiterer Teil des Staatsapparates, leistet bei häuslicher Gewalt oft keine Hilfe. Häufig wird die Frau nach einem Grund für die Gewalt befragt oder der Mann verspricht, sein Verhalten zu ändern, woraufhin die Polizei sofort wieder abzieht. Selten wird die Frau aus der Gefahrensituation geholt, geschweige denn der gewalttätige Partner in Gewahrsam genommen. Hinzu kommt der schon genannte eklatante Mangel an Beratungsstellen und Frauenhäusern in Deutschland, der Proletarierinnen im Fall von erlebter Gewalt schutzlos lässt. Die finanziellen Prioritäten des Staates werden deutlich, wenn man sich den vergleichsweise großzügigen Umgang mit Geldern für Militär und Großunternehmen ansieht, während die Mittel für den Schutz von Frauen knapp bleiben.

Perspektiven für einen gemeinsamen Kampf

Gewalt wird von Menschen ausgeübt, direkt oder indirekt, und oft genug von Individuen gegenüber anderen Individuen. Aber nur den einzelnen Täter zu sehen, greift zu kurz und verstellt den Blick auf den systematischen Charakter der Gewalt und die dem System innewohnenden Ursachen, die durch Individuen zum Ausdruck kommen. Im Kapitalismus wird Gewalt in Form der Unterdrückung einer gesamten Klasse ausgeübt –  mit verrohenden Konsequenzen.

Wir müssen also wegkommen von dem Gedanken der Einzeltäterschaft. Es gibt sie, die Männer, die zu Tätern werden, und ihre Taten müssen konsequent aufgearbeitet werden. Doch es reicht nicht, nur den einen Nachbarn oder den einen Arbeitskollegen als Menschen zu betrachten, der niederträchtige Dinge tut. Wir müssen erkennen, dass die Ursache dieser Taten in der Klassengesellschaft selbst angelegt ist. Wenn wir den Kampf nur gegen die Männer, anstatt gegen das System führen, werden wir die Ursache des Problems nicht lösen. Nur vereint, als Klassengeschwister – Frauen und Männer zusammen – im Kampf gegen den Kapitalismus und für den Sozialismus, kann die Befreiung der Frau erreicht werden.

Erst wenn wir das erkannt haben, können wir richtig handeln, denn unser Kampf gegen die Gewalt an Frauen muss auf zweierlei Ebenen gekämpft werden. Zunächst müssen wir Forderungen aufstellen, die an der Lebensrealität der Frauen ansetzen und darauf abzielen, ihnen eine gleichberechtigte Rolle in der Gesellschaft zu verschaffen. Wir müssen uns um die größtmögliche Vergesellschaftung der Arbeit im Bereich der Reproduktion bereits im Kapitalismus einsetzen – beispielsweise durch die Forderung nach mehr Kita-Plätzen und Pflegeeinrichtungen. In Branchen, in denen hauptsächlich Frauen arbeiten, ist es entscheidend, sie gewerkschaftlich zu organisieren, um ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. Ebenso muss die Unterstützung von Opfern von Gewalt flächendeckend und kostenfrei gewährleistet werden.

Doch der Kampf darf nicht bei diesen Forderungen haltmachen; er muss diese Forderungen auch verbinden – im Kampf gegen den Kapitalismus als Ganzes. Nur eine Gesellschaft, die auf die Bedürfnisse der Menschen und nicht auf Profitmaximierung ausgerichtet ist, kann diese Forderungen wirklich erfüllen. Das Zitat von Alexandra Kollontai hat an seiner Aktualität nicht verloren: „Ohne Sozialismus keine Befreiung der Frau, ohne Befreiung der Frau kein Sozialismus“. Die Geschichte der DDR zeigt uns, dass die Emanzipation der Frauen erst durch die sozialistische Planwirtschaft zu einer realen Möglichkeit wurde. Die Möglichkeit, nach den Bedürfnissen der großen Masse der Menschen zu planen, ermöglichte eine erhebliche Verbesserung der Lage der Frauen: Jobsicherheit, Lohngleichheit, ausreichende Kita-Plätze und vereinfachte Scheidungen ermöglichten es Frauen, sich sozial und beruflich zu entfalten und sich auch aus partnerschaftlicher Gewalt zu befreien. Alleinerziehende Mütter erhielten durch Schulhort-Plätze die notwendige Unterstützung, um ihr Leben nach einer Trennung besser zu organisieren. Um die Emanzipation Wirklichkeit werden zu lassen wird es auch beim nächsten Anlauf zum Sozialismus notwendig sein, eine umfassende Bildung zur Frauenfrage zu organisieren.

Gisèle Pélicot, ehemalige Mitarbeiterin eines Stromunternehmens, lebte in einer relativ isolierten Familie und brauchte Jahre, um zu erkennen, was mit ihr geschah und dann auch Hilfe zu bekommen. Sie hat sich ganz bewusst dafür entschieden, den Gerichtsprozess nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu führen. Ihr mutiges Auftreten ist ein positives Zeichen im Kampf gegen Gewalt an Frauen, welches es aber mit dem Kampf gegen die Ursachen der Unterdrückung der Frauen, mit dem Kampf gegen den Kapitalismus, zu verbinden gilt. Lasst uns den Kampf um die Befreiung der Frau bewusst, organisiert und unnachgiebig führen und nicht aufhören, bis wir eines Tages in einer neuen Welt erwachen.

Für die Befreiung der Frau!

Für den Sozialismus!


[1] Sexualisierte Gewalt wird dabei als „jeden Übergriff auf die sexuelle Selbstbestimmung“ definiert, dazu zählen nicht nur körperliche Übergriffe wie Vergewaltigung, sexuelle Nötigung oder sexueller Missbrauch, sondern auch sexuelle Belästigungen und jede Form unerwünschter sexueller Kommunikation. Im Vergleich dazu ist laut BMFSFJ repräsentativen Befragungen zufolge jeder dritte Mann bereits Opfer eines solchen Übergriffs geworden. https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/frauen-vor-gewalt-schuetzen/haeusliche-gewalt/formen-der-gewalt-erkennen-80642

[2] https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/JahresberichteUndLagebilder/StraftatenGegenFrauen/StraftatengegenFrauenBLB2023.pdf

[3] https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/schwerpunkte/DE/gewalt-gegen-frauen/gewalt-gegen-frauen-artikel.html

[4] https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-658-40741-4

[5] https://www.bmfsfj.de/resource/blob/84328/3bc38377b11cf9ebb2dcac9a8dc37b67/langfassung-studie-frauen-teil-eins-data.pdf

[6] Siehe Kollontai, Die Situation der Frau in der gesellschaftlichen Entwicklung. https://www.marxists.org/deutsch/archiv/kollontai/1921/frau/index.html

[7] Frauen wenden pro Tag im Durchschnitt 44,3 Prozent mehr Zeit für Kinderbetreuung, Pflege oder Haushalt auf als Männer. 2022 waren es zu 73 Prozent Frauen, die Elterngeld in Anspruch nahmen. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Juli 2020: 4. Atlas zur Gleichstellung von Frauen und Männern in Deutschland.

[8] https://www.ohchr.org/sites/default/files/documents/countries/opt/20241106-Gaza-Update-Report-OPT.pdf

[9] https://www.un.org/sexualviolenceinconflict/wp-content/uploads/2024/09/gender-alert-gaza-a-war-on-womens-health/gender-alert-gaza-a-war-on-womens-health-en.pdf

[10] Ebd. S.13

[11] Ebd. S.31, (48)

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