Die Verschärfung des Versammlungsgesetzes in Sachsen und was wir daraus über den Charakter des Staates lernen können

Von Joshi Eisler

Vergangenen Mittwoch, den 12. Juni 2024, hat der sächsische Landtag ein neues Versammlungsgesetz erlassen, das zum 1. September in Kraft treten soll. Die Gesetzesänderung steht bereits seit ihrer Bekanntgabe in Kritik und löst seit Monaten enorme Kontroversen aus. Dieser Artikel soll einerseits die konkreten Änderungen des neuen sächsischen Versammlungsgesetzes darstellen und zugleich herausarbeiten, inwiefern sich dieses in die Logik der bürgerlichen Gesetzgebung einfügt und damit auch von bundesweiter Relevanz ist.

Der Zweck der Grundrechte

Um die Widersprüche, in denen sich der bürgerliche Staat mit der Änderung des Versammlungsgesetzes verstrickt, verstehen zu können, muss man sich zunächst die bürgerliche Herleitung und Begründung der Versammlungsfreiheit genauer anschauen. In Art. 8 Abs. 1 des Grundgesetzes der BRD steht das Recht auf Versammlungsfreiheit: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln“. Die Versammlungsfreiheit ist also ein sogenanntes Grundrecht, dessen Ausübung der deutsche Staat seinen Bürger*innen zugesteht und gewährleistet. Aber was genau sind Grundrechte in der bürgerlichen Logik eigentlich? In Deutschland sind Grundrechte immer als „subjektive Abwehrrechte gegen den Staat“ ausgestaltet. Das bedeutet, dass sie primär den Zweck haben sollen, sich gegen Eingriffe des Staates in die Grundrechte wehren zu können. Sie dienen in der bürgerlichen Demokratie also als juristischer Schutz vor dem Staat. Bereits hier zeigt sich eine erste Widersprüchlichkeit: Es ist ja gerade der Staat der seiner Bevölkerung die Grundrechte gewährt, eben diese Grundrechte sollen dann aber vor Eingriffen des Staates schützen. Schon dieser dem Grundgedanken der Grundrechte anhaftende Widerspruch lässt vermuten, dass die staatliche Gewährung der Ausübungsmöglichkeit der Grundrechte nicht Hauptzweck der Grundrechte ist. Deren weitere Funktionen – insbesondere die Integrationsfunktion der Grundrechte – werden später noch näher erläutert.

Aber dieser Artikel soll sich ja mit der Änderung des Versammlungsgesetzes beschäftigen. Gehen wir daher einen Schritt weiter und schauen uns an, wie der bürgerliche Staat den Schutz der Versammlungsfreiheit begründet. Das Bundesverfassungsgericht schreibt dazu in einer Entscheidung aus den 1980ern, Versammlungen seien „ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie“. Versammlungen dienten als Korrektiv im parlamentarischen Prozess. Sie seien ein Frühwarnsystem, das Störpotentiale anzeige, Integrationsdefizite sichtbar und damit auch Kurskorrekturen der offiziellen Politik möglich mache. Der Staat gibt vor, dass dabei explizit auch und gerade die Kundgabe von der herrschenden (auch staatlichen) Ansicht abweichende Meinungen von der Versammlungsfreiheit geschützt werden sollen.

Hieraus leitet das Bundesverfassungsgericht verschiedene Handlungsanweisungen an den Staat ab: der Staat müsse Autonomie und Staatsfreiheit in der Ausgestaltung einer Versammlung gewährleisten, er muss weiterhin dafür sorgen, dass Versammlungsteilnehmende freien Zugang zur Versammlungen erhalten und zudem die Abwesenheit von staatlicher Observation und Registrierung von Demoteilnehmenden sicherstellen.

Umso größer war nun der Aufschrei im nahezu gesamten politischen Spektrum von links bis liberal[1] und natürlich auch unter revolutionären Organisationen, nachdem festgestellt wurde, dass der Staat die Rechte, von denen er doch selbst gesagt hat, dass er sie gewährleistet will, nun nicht nur in kleinen Bereichen begrenzt, sondern zum Teil fundamental beschränkt und teilweise in ihr Gegenteil verkehrt. Schauen wir uns daher die Änderungen des sächsischen Versammlungsgesetzes im Einzelnen an. 

Die Änderungen im Einzelnen[2]

Insgesamt wird das bisherige sächsische Versammlungsgesetz komplett überarbeitet, aus Platzgründen werden allerdings lediglich die politisch brisantesten Passagen dargestellt.

Zunächst lässt sich zu Beginn festhalten, dass nach den eben dargelegten Ausführungen man eigentlich davon ausgehen müsste, dass das Versammlungsgesetz dem Schutz von Versammlungen dienen sollte. Sowohl aus der Gesetzesbegründung als auch aus dem Entwurf selbst geht jedoch das Gegenteil hervor: Die Versammlung wird wie eine Gefahr behandelt, vor der der Staat sich und andere Mitmenschen schützen muss.

Eine der wesentlichsten Änderung ist das in § 3 Abs. 2 bis 7 des Gesetzesentwurfs festgelegte Kooperationsgebot. Danach haben die Versammlungsveranstaltenden im Vorfeld der Versammlung mit den Behörden zu kooperieren und „die Gefahrenlage und alle sonstigen Umstände“ zu erörtern. Letztlich bedeutet das, dass alle für die Demo relevanten Informationen – unter anderem: Name der Veranstaltenden, Name der Versammlungsleitenden, Demoroute, Angaben über zu erwartende Spenden, Anzahl der zu erwartenden Personen, etc. – der Behörde mitgeteilt werden sollen. Der Gesetzgeber weiß allerdings, dass er das nicht als Pflicht ausgestalten kann, da dies viel zu nah an eine verfassungswidrige Genehmigungspflicht der Versammlung herankommen würde. Stattdessen wird das Kooperationsgebot als so genannte „Obliegenheit“ ausgestaltet und tut damit so als wäre die Angabe der Informationen freiwillig. Die Entscheidung, nicht zu kooperieren hat dann nämlich keine unmittelbaren Konsequenzen, es kann also nicht allein aufgrund der unterbliebenen Mitwirkung eine Untersagung der Demo ausgesprochen werden oder die Mitwirkung mittels Bußgeld erzwungen werden. Jedoch dienen die erteilten Informationen der Einschätzung der Gefahrprognose der Behörde, sprich: die Behörde kann bei fehlender Mitwirkung eigenständig einschätzen, wie viel Gefahr von der Versammlung ausgeht und auf dieser Grundlage Auflagen bzw. Beschränkungen bis hin zur Auflösung der Demo erlassen. Macht man falsche Angaben bzw. weicht die Durchführung von den gemachten Angaben ab, droht nach § 24 Abs. 3 des Entwurfs eine Freiheitsstrafe von bis zu sechs Monaten oder Geldstrafe für die Veranstaltenden bzw. Versammlungsleitenden. Ansporn genug, um letzten Endes doch „freiwillig“ zu kooperieren und gewissenhaft die geforderten Angaben zu machen oder aber in letzter Konsequenz die Demo gar nicht erst zu veranstalten.

Ebenfalls neu ist die Definition des „Veranstalters“: § 4 des Entwurfs sieht vor, dass alle, die „zu einer Verammlung einladen oder aufrufen Veranstalter“ sind. Die Gesetzesbegründung macht klar, dass bereits das Teilen eines fremden Aufrufs ausreichen kann, um als Veranstalter bzw. Veranstalterin angesehen werden zu können. Aber wo liegt das Problem? Dann gibt es eben ab jetzt sehr viel mehr Veranstaltende. Jedoch sind diese viel leichter als normale Versammlungsteilnehmende Repressionen ausgesetzt. So können Veranstaltende mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe belegt werden, wenn eine öffentliche Versammlung trotz vollziehbaren Verbots durchgeführt oder trotz Auflösung oder Unterbrechung durch die Polizei fortgesetzt wird, worauf die veranstaltende Person jedoch in der Regel keinen Einfluss haben dürfte.

Absurd ist zudem die Neuregelung der Ordner*innen. Zwar ist es üblich, dass Versammlungen auch eine gewisse Anzahl an Ordner*innen bereitstellen sollen, allerdings legt § 6 Abs. 2 des Entwurfs fest, dass die Versammlungsleitung vor der Versammlung der Versammlungsbehörde die genaue Anzahl der Ordner*innen mitzuteilen hat. Dies übersieht die gängige Praxis, wonach Ordner*innen oftmals erst auf der Versammlung selbst ausgewählt werden. Darüber hinaus kann die Versammlungsbehörde nach § 16 des Entwurfs auch Namen und Adresse aller Ordner*innen einfordern, um zu überprüfen, ob diese straffällig waren oder Gefahr für „die öffentliche Sicherheit“ darstellen. Durch die Verpflichtung, die genaue Zahl der Ordner*innen schon vorher anzugeben und auf Nachfrage auch deren Identität preiszugeben, wird eine enorme Hürde für das Veranstalten von Versammlungen geschaffen, da die Versammlungsleitung schon vorher alle Ordner*innen bereit haben muss und diese sich auch noch bereit erklären müssen, dass die Versammlungsbehörde über deren Identität Bescheid weiß. Die oben erwähnte, vom Bundesverfassungsgericht hergeleitete Pflicht des Staates zur Gewährleistung der Observationsfreiheit der Versammlung wird damit ad absurdum geführt.

Neben den eben genannten treten noch viele weitere Neuerungen in Kraft, die aber zuvor bereits von der Rechtsprechung gebilligt wurden. So wird in § 9 des Entwurfs ein Waffenverbot festgelegt, jedoch mit der Besonderheit, dass nun die Behörde bestimmen kann, was alles als Waffe zählt. Darüber hinaus legt der Entwurf in § 10 ein Uniformierungs- und Militanzverbot fest, wonach einheitliches und kämpferisches Auftreten verboten wird. Auch hier kann die Behörde per Anordnung vorher festlegen welche Gegenstände und welche Verhaltensweisen verboten sein sollen. Zuwiderhandlungen gegen die willkürlichen Verbotsbestimmungen der Behörde sowohl hinsichtlich der Waffen als auch hinsichtlich des Uniformierungs- bzw. Militanzverbotes sind nach § 24 Abs. 1 Nr. 4 und Abs. 2 Nr. 4 des Entwurfs strafbar. Eine weitere juristische Verschärfung ist der Umstand, dass nach § 28 des Entwurfs die aufschiebende Wirkung von Widersprüchen entfallen soll. Das bedeutet, dass jede behördliche Verfügung – z.B. ein Verbot der Versammlung oder eine Untersagung bestimmter Verhaltensweisen – so lange durchsetzbar bleibt und das Gericht dann erst nachträglich feststellen kann, dass sie rechtswidrig war.

Das Versammlungsgesetz als „Liberalisierung“?

Die Grünen sind Teil der Landesregierung in Sachsen und verteidigen dementsprechend den Gesetzesentwurf auf ihrer Website als „Liberalisierung“ des Versammlungsrechts. Begründet wird dies damit, dass die zahlreichen Befugnisse, mit denen die Versammlungsbehörde und die Polizei von nun an ausgestattet werden, gar keine Verschärfung des Versammlungsrechts darstellen, sondern jetzt lediglich eine bessere gesetzliche Grundlage für die eh schon gängige Praxis der Versammlungsbehörden vorliege. Es handle sich also quasi um eine nachträgliche demokratische Legitimierung der verschärften Behördenpraxis durch den Gesetzgeber. Dieses Argument wäre selbst dann unsinnig, wenn durch die Novellierung des Gesetzes tatsächlich irgendeine Art Rechtssicherheit durch präzise Formulierungen eintreten würde; stattdessen lassen sich zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe und sprachliche Ungenauigkeiten finden die erst noch von der Rechtsprechung konkretisiert werden müssen und eigentlich erst Raum für neue Verschärfungen schaffen. Zudem ist es unabhängig davon absurd, die nachträgliche rechtliche Legitimierung einer verschärften Praxis der Versammlungsbehörde als „Liberalisierung“ verkaufen zu wollen. Nach dieser Argumentation ließe sich das Recht auf Versammlungsfreiheit Stück für Stück wegliberalisieren.

Das Versammlungsgesetz in Zeiten zunehmender Faschisierung

Einige Gegner*innen des Gesetzesentwurfs gehen davon aus, dass die Verabschiedung des Entwurfs „Teil einer zunehmenden Faschisierung“ ist. Wir verstehen unter Faschismus die offen gewaltvolle, terroristische Herrschaft der Bourgeoisie über die Arbeiter*innenklasse, wohingegen die bürgerliche Demokratie von Zugeständnissen und Reformen geprägt ist. Dabei erkennen wir an, dass sowohl in bürgerlich-demokratischen Staaten offene Unterdrückung vorkommt, ebenso wie es auch in faschistischen Staaten nicht-gewaltsame, integrative Herrschaftsmethoden gibt und damit auch Übergangsformen beider Herrschaftsformen möglich sind. Das bedeutet, dass die bürgerliche Herrschaft in all ihren Varianten von einer Kombination aus Repression gegen die Arbeiter*innenklasse einerseits und Integration der Arbeiter*innenklasse andererseits geprägt ist. Je nachdem welche Form der Herrschaft der Durchsetzung der Kapitalinteressen dienlicher ist, kann die Form bürgerlicher Herrschaft in die eine oder andere Richtung tendieren.

Die Rolle der Grundrechte spielt hier eine besonders wichtige Rolle. Sie suggerieren, dass der bürgerlich-demokratische Staat sich um die Belange der Bevölkerung schert und mehr noch: Die Existenz der Grundrechte bewirkt, dass die Bevölkerung dem bürgerlichen Staat dankbar sein muss, dass es nur dank ihm so wunderbare Rechte wie Versammlungs- oder Meinungsfreiheit gibt. Auf die konkrete Umsetzung der geäußerten Meinung kommt es dann gar nicht mehr so sehr an.

Doch angesichts der Krisentendenz des Kapitalismus wird es nun für das Kapital notwendig, sich alternative Mechanismen zur Herrschaftssicherung zu schaffen und – wenn nötig – die verdeckte durch die offen terroristische Herrschaft zu ersetzen. Auch das Versammlungsrecht ist in diesem Kontext zu verstehen. Einerseits bietet das neue Versammlungsrecht nach wie vor die Möglichkeit, Versammlungen abzuhalten, solange alles im Sinne der Integrationsfunktion widerständiger Ansichten abläuft. Andererseits bietet das neue Versammlungsrecht jetzt aber auch die Möglichkeit über Kooperationsgebote, Verboten von bestimmtem Auftreten und einer Erweiterung der strafrechtlichen Repressionsmöglichkeiten unerwünschte Versammlungen zu erschweren, zu sanktionieren oder ganz zu verhindern.

All das zeigt, dass der Kampf gegen die Verschärfung des Versammlungsgesetzes auch unser Kampf sein muss. Nicht, weil wir unsere Hoffnung in das bürgerliche Verständnis von Versammlungsfreiheit setzen, sondern im Gegenteil, weil wir diejenigen sind, deren Ansicht sich nicht integrieren lässt, weil wir diejenigen sind, die den Charakter des Staates durchschauen und aufzeigen, weil wir diejenigen sind, die von dieser Repression betroffen sein werden.


[1] https://www.l-iz.de/politik/engagement/2023/10/neues-sachsisches-versammlungsgesetz-leipziger-aktionsbundnis-besorgt-558881, zuletzt aufgerufen am 22.04.2024; https://verfassungsblog.de/gefahr-einer-versammlung/, zuletzt aufgerufen am 22.04.2024; https://www.linxxnet.de/termin/neues-versammlungsgesetz-fuer-sachsen-das-ende-der-versammlungsfreiheit/; https://www.addn.me/news/versammlungsfreiheit-verteidigen-buendnis-kritisiert-gesetzesnovelle/, zuletzt aufgerufen am 22.04.2024; https://jungle.world/artikel/2024/15/saechsisch-restriktiv , zuletzt abgerufen am 22.04.2024.

[2] Viele der hier angeführten Änderungen wurden erstmals durch die Stellungnahme des Kommitees für Grundrechte und Demokratie e.V. festgehalten und eingeordnet, abrufbar unter: https://www.grundrechtekomitee.de/details/staatliche-umklammerung-sachsen-plant-sein-neues-versammlungsgesetz-ganz-im-sinne-der-polizei, zuletzt: 22.03.2024.

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