Kommentar von Pavel Wierroth
Am 22. Oktober verkündete der Präsident des Deutschen Reservistenverbands, Patrick Sensburg, dass der anstehende große Krieg gegen Russland wohl täglich 1.000 Tote und Schwerverwundete fordern würde und dass eine Wehrpflicht also unumgänglich sei. Große Vertreter der bürgerlichen Presse wie Der Spiegel griffen diese Zahl begierig auf. Doch was auf den ersten Blick unerwartet ehrlich für die sonst so verlogene Kriegshetze klingt, ist in Wirklichkeit noch eine maßlose Untertreibung.
Denn tatsächlich unterschlägt diese Zahl das wirkliche Ausmaß von Tod, körperlicher und seelischer Verstümmelung, das dieser kommende Krieg für die Arbeiterklasse bedeuten wird, bei Weitem: Die „leicht“ Verwundeten, deren Zahl in der Regel – ganz abgesehen von den vielen Traumatisierten – etwa viermal so hoch ist, werden unterschlagen, wohl weil sie nach ihrer notdürftigen Genesung bis zum endgültigen Tod im Kugelhagel erneut ins Feld geschickt werden sollen. Diese Praxis steht in der Tradition der letzten Weltkriege und ist schon heute wieder im Abnutzungskrieg in der Ukraine üblich.
Aber noch viel wesentlicher ist, dass sich diese Zahl, die sich auch mit der Schätzung des Generaloberstabsarztes Ralf Hoffmann deckt, auf eine der entscheidenden Prämissen der heutigen Kriegspropaganda stützt – nämlich auf die Annahme, dass ein Krieg mit Russland lediglich eine lokale Verteidigung kleiner baltischer oder westpolnischer Provinzen bedeuten würde, sofern die westlichen Streitkräfte ausreichend hochgerüstet seien. Dabei könnte dieses Szenario kaum realitätsferner sein: Schon jetzt verfügt die NATO über vielfach größere Militärbestände und Mobilisierungspotenzial, und die europäischen Kriegswirtschaften befinden sich erst im Aufbau.
In Wirklichkeit wird ein solcher Krieg mit Russland aber nicht den propagierten relativ überschaubaren Grenzkonflikt bedeuten, sondern mindestens umfassende Offensiven der NATO in der Ukraine und womöglich ins russische Kernland. Ansonsten müsste die massive Aufrüstung nur eine noch drastischere Verschärfung der Krise der europäischen Imperialismen bedeuten; und anders lassen sich auch die Lieferungen von schwerem Kriegsgerät, mit dem schon heute russische Städte beschossen werden, und die Debatten über NATO-Truppen im Ukrainekrieg nicht sinnvoll erklären. Ein solcher Krieg gegen das rivalisierende russische Kapital, für den heute die Bourgeoisien Europas von Berlin über Warschau bis London rüsten und der womöglich früher oder später zu einem dritten Weltkrieg eskalieren müsste, würde täglich tausende, vielleicht zehntausende Menschenleben vernichten.
Damit ist auch diese scheinbare Offenheit nur ein weiterer Teil einer einzigen Lüge, sorgfältig konstruiert von der bürgerlichen Presse, Politik und Militärführung. Das Narrativ der 1.000 Toten und Verwundeten soll das wirkliche Ausmaß dieses drohenden Weltkriegs mit Russland verschleiern – von der sich anbahnenden Eskalation zwischen den USA und China in ihrem Ringen um die Hegemonie über den Weltmarkt ganz zu schweigen. Dieses Verheizen ganzer Jahrgänge im Fleischwolf der Materialschlachten, wie es heute schon die Realität unserer Klassengeschwister in Russland und der Ukraine ist, wird dabei zu einer akzeptablen Summe komprimiert. Diese Zahl kann wahlweise dramatisiert werden, wenn das Narrativ gerade heißt, gegen eine drohende russische Invasion zu rüsten, oder sie kann heruntergespielt werden, wenn die Parole lautet, NATO-Truppen direkt an die Front zu werfen, um die Initiative in der Ukraine zurückzugewinnen.
Dieser Krieg ist nicht unser Krieg; die Toten dieses Krieges sind es sehr wohl. Das Jonglieren mit verzerrten Zahlen und Statistiken reiht sich dabei nahtlos in die Taktik ein, das Volk für die nächsten Kriege gefügig zu machen. Als Kommunisten müssen wir jede Eskalation der Kriegshetze, jedes Säbelrasseln als den schärfsten Angriff der Bourgeoisie auf uns begreifen, müssen wir ihre Lügen entlarven und den Widerstand der Arbeiterklasse gegen den imperialistischen Krieg organisieren.


