Am 17. November ist ein 59-jähriger Kollege bei Amazon in Erfurt-Stotternheim tot aufgefunden worden. Er soll zuvor vergeblich versucht haben, sich krankzumelden.
Über die aktuelle Situation und die generelle Lage vor Ort haben wir mit Muhammad von Amazon in Erfurt gesprochen. Da er Angst vor Repressionen seitens des Unternehmens hat, haben wir den Namen geändert.
Wir dokumentieren unverändert dieses Interview, welches unser Genosse Edgar Erdmann geführt hat. Die Darstellung des Kollegen offenbart die barbarischen und menschenfeindlichen Zustände, unter denen die Arbeiter bei Amazon ausgebeutet werden. Gleichzeitig zeigt sie aber auch die großen Schwierigkeiten der gewerkschaftlichen Organisierung und des kollektiven Widerstands. Trotz dieser Schwierigkeiten gibt es keine andere Möglichkeit, die Hölle des kapitalistischen Arbeitsalltags in solchen Unternehmen wie Amazon auch nur ein wenig erträglicher zu machen – die einzige Hoffnung liegt darin, dass die Arbeiterklasse sich ihrer gemeinsamen Kraft bewusst wird und Schulter an Schulter für ein besseres Leben kämpft.
Edgar (KP): Tach, was weißt du darüber, was deinem Kollegen passiert ist?
Muhammad: Der Kollege, der gestorben ist, war beim sogenannten „Picken“. Picken ist das Einräumen von Paketen aus Robotern in die Regale, das ist der anstrengendste und härteste Job. Die Arbeitsintensität, also die Rate, die man da zu erfüllen hat, ist sehr hoch, und außerdem sind die Bedingungen besonders schlecht, denn man arbeitet die ganze Zeit alleine, ohne Kontakt zu anderen Menschen, und bis vor kurzem war es auch noch sehr dunkel dabei. Mittlerweile haben sie dort Lampen angebracht, die jedoch so hell sind, dass die Augen nach kurzer Zeit wehtun. Der Kollege war also den ganzen Tag schon am Picken und hatte sich schon dreimal übergeben. Er hatte den Bereichsmanager gefragt, ob er nach Hause gehen kann, und der Manager meinte: „Nein, wir haben viel zu viel zu tun, du musst auf jeden Fall weiter picken.“ Das hat er dann auch gemacht, aus Angst, seine Krankheitsrate zu verschlechtern und den Bereichsmanager weiter zu verärgern. Wir haben dann später herausgefunden, dass er drei Stunden auf dem Klo gelegen hat, bis ihn jemand dann dort tot aufgefunden hat.
Edgar (KP): Wie ist die Chefetage mit dem Todesfall umgegangen? Und wie geht sie jetzt mit euch um?
Muhammad: Ich war am Anfang verwundert, denn tatsächlich wurde der gesamte Betrieb direkt gestoppt, und wir wurden in die Mensa geschickt. Dort wurde uns dann mitgeteilt, dass der Kollege gestorben ist, und es wurde eine Schweigeminute angeordnet. Daraufhin wurden wir alle nach Hause geschickt.
Edgar (KP): Warum hat dich das gewundert?
Muhammad: Letztes Jahr in Leipzig ist auch ein Arbeiter bei Amazon umgekommen, dort jedoch wurde die Arbeit normal weitergeführt. Wahrscheinlich hatten sie jetzt Angst vor schlechter Presse, da sie damals stark in die Kritik geraten sind.
Edgar (KP): Wie wird denn mittlerweile damit umgegangen?
Muhammad: Seit dem Vorfall wird uns in den morgendlichen Arbeitsbesprechungen immer gesagt, dass niemand uns verbieten kann, nach Hause zu gehen, und dass wir es melden sollen, wenn das passieren sollte. Das Problem ist nur, dass du den Bereichsmanagern sehr stark ausgeliefert bist. Wenn sie dich nicht mögen, dann bist du am Arsch. Sie entscheiden, wo du eingesetzt wirst; wenn du in eine andere Abteilung versetzt werden willst und sie dich nicht mögen, stimmen sie einfach nicht zu.
Und es ist so ironisch, was sie uns erzählen, denn nach wie vor siehst du jeden Tag Leute, die sich komplett krank über die Arbeit schleifen, und wenn man sie anspricht, warum sie nicht zu Hause bleiben, kommt immer dieselbe Antwort: Wenn du eingeteilt bist, musst du arbeiten. Keiner kann sich das leisten, nicht zu kommen, und viele trauen sich nicht mal, danach zu fragen. Die Folgen sind schlimmer als die Krankheit, sagen sie.
Gestern erst ist ein Kollege auch wieder in meinem Bereich bei der Arbeit bewusstlos geworden. Warum genau, wissen wir nicht, aber man kann es sich denken! Wäre Amazon wirklich an unseren Rechten und unserer Gesundheit interessiert, würden sie sich anders verhalten.
Edgar (KP): Die Kollegen bei Amazon kämpfen ja schon lange für einen Tarifvertrag, den der Konzern bisher blockiert. Wie sind eure Arbeitsbedingungen?
Muhammad: Schlecht! Wir fangen jeden Tag um 8.40 an und arbeiten dann bis 13.30 durch. Dann ist 45 Minuten Mittagspause, in der aber auch Team-Meeting ist, das heißt, eigentlich beginnen wir so 14.05 wieder mit der Arbeit und arbeiten dann bis 18.50.
Die Arbeitstage sind also sehr lang, es gibt wenig Möglichkeiten, sich mit anderen Arbeitenden auszutauschen, und auch die Bedingungen am Arbeitsplatz sind schlecht – zu wenig Licht zum Beispiel. Aber ganz grundsätzlich ist das Arbeitspensum zu hoch, und bei Nichterfüllung drohen Streichung von Urlaubstagen, Kündigung und das Missfallen der Bereichsmanager, was die Arbeit noch schlimmer macht.
Das Allerschlimmste für mich persönlich sind aber die Hierarchien. Der ganze Standort ist streng militärisch aufgebaut, und am liebsten werden die Manager- und Bereichsmanagerposten an ehemalige Offiziere vergeben. Sie sollen sich ohne Mitleid durchsetzen und die Befehle der Unternehmensführung durchsetzen. Es gibt ein andauerndes Nach-unten-Treten.
Auch interessant ist, dass fast alle besser bezahlten Arbeiten von Deutschen ausgeführt werden, die sich immer als etwas Besseres fühlen. Und die Deutschen, die es in der untersten Klasse gibt, werden besser behandelt und erhalten von den Vorgesetzten mehr Respekt. Einige von ihnen reihen sich in das System gut ein, denn dadurch, dass sie von den Vorgesetzten besser behandelt werden, fühlen sie sich den normalen Arbeitern gegenüber bessergestellt und leben das dann auch aus.
Edgar (KP): Du hast gerade schon über die Arbeiter gesprochen, wer arbeitet denn bei Amazon?
Muhammad: Es arbeiten hauptsächlich Migranten da. Sie kommen aus Afghanistan, Syrien und Polen, die allermeisten sind aber Afghanen. Es gibt nur wenige Deutsche. Wenn man Deutsche trifft, arbeiten die meistens in den Verwaltungs- und Sicherheitsabteilungen oder als Bereichsmanager.
Die meisten Kollegen kommen aus sehr prekären Verhältnissen, und alles hängt an dem Job. Sie können es sich unter keinen Umständen leisten, ihn zu verlieren. Viele müssen jeden Morgen und jeden Abend zwei Stunden von zu Hause zur Arbeit fahren.
Edgar (KP): Du hast es schon angedeutet, aber welchen Einfluss haben solche Sachen wie die sogenannte Black Week und das Weihnachtsgeschäft auf eure Arbeit und eure Gesundheit?
Muhammad: Während der Black Week oder zur Weihnachtszeit ist alles nochmal schlimmer. Die Arbeitsraten steigen nochmal stärker an, man darf keinen Urlaub machen. Es wird noch schwieriger, sich krankzumelden, und noch regelmäßiger als sonst, kommt es zu Unfällen und dazu, dass Leute umkippen.
Der Druck vom Unternehmen, dass man zur Arbeit erscheint und die Raten erfüllt, ist in dieser Zeit nochmal höher, und die Bereichsmanager sind nochmal schlimmer drauf.
Edgar (KP): Tut ihr gemeinsam etwas dagegen? Gibt es gewerkschaftliche Strukturen?
Muhammad: Leider nein, wir haben alle Angst. Es gibt einzelne Kollegen, die etwas sagen und sich beschweren, aber das klappt nicht. Der Betriebsrat, an den man sich bei Problemen angeblich wenden kann, besteht nur aus Arbeitern der höheren Ebenen, und sie stimmen dem Unternehmen bei jeder Entscheidung zu und haben bisher noch nie etwas bewirken können. Er ist nur da, um zu zeigen „Hey, wir haben einen Betriebsrat“, aber oft hilft er nicht mal bei den kleinsten Problemen. Es gibt auch keinerlei gewerkschaftliche Organisierung. Es gibt einen deutschen Arbeiter, der öfter von der Gewerkschaft redet, aber alle anderen haben Angst, darüber zu reden. Gewerkschaftlich engagierte Kollegen werden regelmäßig gefeuert oder unter Druck gesetzt.
Edgar (KP): Wie soll es um den Tod des Kollegen weitergehen? Wie geht ihr als Kollegen damit um?
Muhammad: Schwierig, die Kollegen haben Angst, darüber zu reden, nur während der Raucherpause wird darüber geredet. Der Kollege, der gestorben ist, war bei allen sehr beliebt. Er war einer der Älteren, die immer nett waren und ein bisschen Freude mitgebracht haben. Viele vermissen ihn, und allen, mit denen ich geredet habe, ist auch klar, dass das Unternehmen an dem Tod schuld ist. Sie wissen auch alle, dass sie die Nächsten sein können, sie haben aber zu große Angst, ihren Job zu verlieren. Niemand traut sich offen, etwas zu sagen, und viele versuchen auch gar nicht, darüber nachzudenken, und verdrängen das Passierte komplett.


