Der Tarifabschluss für die Chemie-Branche wurde Mitte Oktober bekannt gegeben. Diese Stellungnahme behandelt die Ergebnisse und die Argumentation von Kapitalseite und Gewerkschaftsführung.
29.11.22
Im Oktober wurden die Tarifverhandlungen in der chemischen Industrie fortgesetzt, nachdem sie im April aufgrund der “angespannten Lage” zunächst pausiert worden waren. Damals waren die Beschäftigten mit einer Einmalzahlung von 1400 € (brutto) abgespeist worden. Jetzt konnten sich die “Sozialpartner” – die Gewerkschaft (IG BCE) und der Arbeitgeberverband – auf einen neuen Tarifvertrag verständigen. Der Begriff “Sozialpartner” wird hier ganz bewusst genutzt, da das Ergebnis Ausdruck dessen ist, was Sozialpartnerschaft bedeutet: knallende Korken bei den Arbeitgebern und Reallohnverlust für die Beschäftigten. In Zahlen: zwei Einmalzahlungen von 1500 € (netto), jeweils mit dem Januarentgelt 2023 und 2024, dazu je eine tabellenwirksame Lohnerhöhung von 3,25 %. Für die insgesamt 20 Monate Laufzeit sei das laut IG BCE eine Netto-Lohnerhöhung von durchschnittlich 12,94 % (über alle Entgeltgruppen berechnet) und für die niedrigen Entgeltgruppen sogar bis zu 16 %. Die beiden Einmalzahlungen machen einen großen Anteil dieser Milchmädchenrechnung aus, stellen aber keine tabellenwirksame und somit dauerhafte Lohnerhöhung dar. Die 1500 € werden vielleicht für einen Teil der Gasnachzahlungen reichen, die 100-200 € Bruttoerhöhungen sind ein Tropfen auf dem heißen Stein bei parallelen Mieterhöhungen und steigenden Lebensmittelpreisen von knapp 25 %.
Lange Laufzeit
Viele Hauptamtliche der Gewerkschaft befürworten den Vertrag mit der Behauptung, dass dies die größte tabellenwirksame Erhöhung seit Jahren sei. Das mag durchaus sein, allerdings scheinen diese Leute meilenweit an der Realität vorbeizulaufen: In diesem Jahr liegt die Inflation bei etwa 10 %, für 2023 werden bereits bis zu 7 % prognostiziert, und ein Ende ist nicht absehbar. In den lebensnotwendigen Bereichen (Lebensmittel, Energie, etc.) sind die Preissteigerungen noch deutlich höher. Mit diesen Problemen hat die Arbeiterklasse schon seit Monaten zu kämpfen, dennoch wurde in der Tarifrunde keine akute Entlastung vereinbart – den Betrieben ist zwar freigestellt, die Einmalzahlung schon vorher zu leisten, aber damit ist nicht zu rechnen. Der neue Tarifvertrag gilt somit effektiv erst ab 2023 – die Brückenlösung aus dem April hatte also faktisch eine längere Laufzeit als ursprünglich behauptet und ist daher rückblickend noch weniger wert. Durch die lange Laufzeit des neuen Tarifvertrags nimmt sich die Gewerkschaft bis Mitte 2024 jede Möglichkeit auf steigende Inflation oder andere Verschlechterungen zu reagieren.
Keine feste Forderung
3,25 % Lohnerhöhung bedeutet für die Entgeltstufe E7, die als gutes Einstiegsgehalt für ausgelernte Fachkräfte gilt, ein Bruttoplus von ca. 100-110 €, je nach Bundesland. Zum Vergleich: verdi fordert 10,5 %, jedoch mindestens 500 € Bruttolohnerhöhung in der Tarifrunde für den TVöD. Selbst die Hälfte dessen würde den Abschluss der IG BCE in den Schatten stellen. Und genau da liegt der Hund bei der IG BCE begraben: Es gab keine feste Forderung. Man sprach von einem „Bollwerk gegen die Inflation“, von einer „nachhaltigen Stärkung der Kaufkraft“ und weiteren, ähnlich klingenden Allgemeinplätzen. Eine feste Forderung gab es nicht, obwohl seit Anfang 2022 in verschiedensten ehrenamtlichen Gremien Diskussionsrunden zu den Forderungen liefen; allgemein war mindestens 6 % der Tenor, wohlgemerkt in Bezug auf die damalige Inflationsrate und Prognosen, die bei ca. 5-7 % lagen. Dennoch verzichtete man bereits da auf eine quantitativ feste Forderung sowie größer angelegte Tarifaktionen in den Betrieben und einigte sich relativ schnell auf die eingangs erwähnte Brückenzahlung.
Die Nachverhandlungen wurden danach zwar als sehr wichtig dargestellt, doch es blieb bei der Phrasendrescherei – es gab keine weiteren Diskussionsrunden, Tarifaktionen oder quantitative Forderungen. Diese, laut IG BCE „harten und schwierigen“ Verhandlungen waren nach 2,5 Tagen beendet und der Abschluss wurde als voller Erfolg verkauft. Auf reichlich geäußerte Kritik, primär über Social Media, wird von der IG BCE nicht konstruktiv geantwortet, sondern eher ausgewichen und probiert, den Abschluss als einen Knaller zu verkaufen.
Auf berechtigte Sorgen und Bedenken der kritisierenden Beschäftigten wird nicht eingegangen. All dies ist jedoch lediglich Symptomatik des tiefergreifenden Geschwürs, das alle DGB-Gewerkschaften, vor allem aber die IG BCE, befallen hat: die Verklärung und Anbetung der Sozialpartnerschaft. Sowohl im Jugendbereich, exemplarisch beim Überthema Ausbildung, als auch bei den aktuellen Tarifverhandlungen, wird stets betont wie wichtig „konstruktive Diskussionen“ mit den Arbeitgebern sind. Während im Frühjahr noch argumentiert wurde, dass die Konzerne Rekorddividenden auszahlen und auch trotz sich anbahnender (Produzenten-)Inflation in der Lage seien, das Lohnniveau nachhaltig zu erhöhen, wurde bereits im August die Begründung des Arbeitgeberverbandes eins zu eins übernommen: Hohe Dividenden zahlten nur ganz wenige Betriebe, der Mehrheit gehe es schlecht oder könne es bald schlecht gehen (!), vor allem durch die steigenden Energiekosten.
Weitergabe der Kosten – Milliardengewinne für die Konzerne
Tatsächlich war dies bei allen bundesweit relevanten Betrieben nicht der Fall, da trotz der teils in Milliardenhöhe gestiegenen Energiekosten hohe Umsätze und Gewinne verzeichnet werden konnten. So konnte Evonik den Umsatz im zweiten Quartal 2022, trotz gesunkenem Produktionsvolumen, um 31 % steigern. Der Gewinn stieg um 12 % – begründet wird das von Unternehmensseite mit der Weitergabe der gestiegenen variablen Kosten. (https://kurzelinks.de/5bbc, abgerufen am 01.11.). Wacker Chemie konnte im zweiten Quartal ein Umsatzplus von 45 % erzielen; das bereinigte Endergebnis vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen wurde von 578 Millionen Euro auf 1269 Millionen Euro mehr als verdoppelt. (https://kurzelinks.de/bzij, abgerufen am 01.11) Auch weitere wichtige Unternehmen verzeichneten hohe Umsatzsteigerungen, verbunden mit einer Kostenweitergabe: z.B. BASF 11,6 % (Q3; https://kurzelinks.de/4f1z, abgerufen am 01.11.), Lanxess 36,1 % (Q2; https://kurzelinks.de/amp9, abgerufen am 01.11.), Bayer 9,6 % (Q2; https://kurzelinks.de/k2ql, abgerufen am 01.11.), Sanofi 8,1 % (Q2; https://kurzelinks.de/0zcq, abgerufen am 01.11.)
Dennoch wurde vom Arbeitgeberverband, wie in allen Tarifrunden zuvor auch, betont, man müsse an die Wettbewerbsfähigkeit denken und könne keine großen Zugeständnisse machen. So war es gewerkschaftsintern wohl bereits im Spätsommer klar, dass die Verhandlungen nicht gut laufen würden. Dennoch wurde vom Kurs, den die IG BCE seit Jahren in der Chemieindustrie fährt, niemals abgewichen: bloß keine größere Außendarstellung als notwendig, bloß keine Arbeitskampfmaßnahmen, schließlich könne das ja die Außenwirkung stark beeinträchtigen.
Vergessen wurde und wird dabei allerdings die Wirkung nach innen – auf die Basis und unorganisierte Beschäftigte in der chemischen Industrie. Denn eine unsichtbare Gewerkschaft, die bestenfalls unterdurchschnittliche Lohnerhöhungen aushandelt und sich in großen Teilen des Hauptamtes eher als Dienstleister für Events statt als kämpfende Arbeitnehmervertretung versteht, wird es nicht schaffen, Mitglieder zu halten oder gar zu gewinnen. Freilich ist man durch diese Taktik per du mit den Arbeitgebervertretern, deren Aktien übrigens durch die Bank weg am 18.10.2022 um 13:30 – dem Zeitpunkt der Veröffentlichung des Tarifvertrages – ein großes Plus verzeichneten und kann sich auf ein entspanntes langes Wochenende freuen, wenn es um die Tarifverhandlungen geht. Die „schlaflosen Nächte“ wurden wahrscheinlich eher an der Hotelbar mit Aperol statt in harten Diskussionen verbracht.
Mit der Regierung in “konzertierter” Aktion
Nicht nur die Nähe zum Arbeitgeberverband steht einem kämpferischen Auftreten der IG BCE im Weg, sondern auch die Nähe zur Bundesregierung, insbesondere zur SPD, macht sich hier bemerkbar. Mit der “konzertierten Aktion” (https://kurzelinks.de/f9li) versucht die Regierung bereits seit Monaten, die Gewerkschaften auf ihren Kurs einzuschwören und Lohnverzicht durchzusetzen. Yasmin Fahimi, jahrelanges IG BCE-Mitglied, bis Mai SPD-Bundestagabgeordnete und seit diesem Jahr DGB-Bundesvorsitzende, nahm in dieser informellen Gesprächsrunde die Arbeitnehmerseite ein. Nicht nur gibt die Gewerkschaft damit die Interessen der Lohnabhängigen auf und verzichtet bereits im Voraus auf Reallohnerhöhungen, sie akzeptiert außerdem massive Eingriffe der Politik in die Tarifautonomie.
Kampf gegen Kriegspolitik und Aufrüstung?
Der IG BCE-Vorsitzende Vassiliadis wurde derweil in die “ExpertInnen-Kommission Gas und Wärme” der Bundesregierung eingeladen, ist also mitverantwortlich für die peinliche Farce einer Entlastung, die diese ergab. Öffentlich verteidigt er die Ergebnisse und ruft für die Wintermonate, für die keine Entlastung vereinbart wurde, zum Sparen auf. Das alles ist nur zu begreifen als Teil der Taktik der Regierung, die Gewerkschaften in ihren Kriegskurs einzubinden. Bedenkt man, dass sich die IG BCE zu Beginn des Krieges in der Ukraine noch gegen ein Gasembargo gegenüber Russland positionierte, scheint diese Thematik inzwischen nicht mehr allzu wichtig zu sein.
Zusätzlich besteht in der IG BCE wohl zumindest in einigen Teilen keine ablehnende Haltung bezüglich des 100-Milliarden-Aufrüstungspakets für die Bundeswehr. Somit ist der nun beschlossene Tarifvertrag die Fortsetzung, wenn nicht gar eine Steigerung der Burgfriedenspolitik, die mit der „Brückenlösung“ im April begann und dient gleichzeitig als schlechtes Exempel für die folgenden Tarifauseinandersetzungen in anderen Branchen. Es bleibt nur zu hoffen, dass die anderen großen Verhandlungsrunden in der Metall- und Elektroindustrie sowie für den öffentlichen Dienst, die immerhin rund 6,4 Millionen Menschen betreffen, bessere Ergebnisse und vor allem stärkere Arbeitskämpfe bewirken. Der Abschluss der IG BCE zeigt, wie wichtig es ist, sich in den Betrieben sowie gewerkschaftlich zu organisieren, um zusammen mit seinen Kolleginnen und Kollegen Druck sowohl auf die Arbeitgeberseite als auch die Gewerkschaftsführung ausüben zu können.