„Russland führt einen imperialistischen Defensivkrieg“

Die KO sprach mit dem Wirtschaftsjournalisten und ehemaligen Chefredakteur der Zeitung Unsere Zeit (UZ) Lucas Zeise über die Hintergründe des Kriegs in der Ukraine, die Einschätzung Russlands und über allgemeine Begriffe der Politischen Ökonomie. Das gesamte Gespräch gibt es auch als Podcast.

Im Februar begann die Militäroperation Russlands. Was ist der Hintergrund des Krieges und warum ist Russland in die Ukraine interveniert?

In der deutschen Presse war Russland bis Anfang der 2000er Jahre ein liebenswürdiges Land, das gerne machte, was der Westen wollte. Der entscheidende Punkt war, als der Chodorkowski, ein richtig bedeutender Oligarch, in Konflikt mit Putin kam. Es ging damals um die Übernahme eines richtig großen Ölsektors durch Exxon, also um die Nutzung der Ressourcen und Russlands Unterwerfung. Seitdem hat sich die freundliche Strategie Russlands geändert und dem Westen ist Widerstand entgegengesetzt worden. Damals habe ich noch bei der Financial Times Deutschland gearbeitet und mit Interesse gelesen, wie die Analysten in den Banken gesagt haben: „Russland ist ein Emerging Market“, also ein Land, das noch nicht für den ganz normalen Investor in Frage kommt, aber sehr bald wie ein westliches Land sein wird. Das gilt heute immer noch. Der wesentliche Punkt dabei war die Rechtssicherheit, d.h. Eigentum musste garantiert sein. Putin hat es fertiggebracht, die Eigentumssicherheit ähnlich zu gestalten wie in westlichen Ländern. Das heißt der Kapitalismus hat große Fortschritte gemacht, was Russland dann in die Lage versetzt hat, eine eigene Politik zu betreiben. Von diesem Moment an entstand der Anspruch dieses großen Landes, ein eigener Spieler im weltweiten Finanzkapitalismus zu werden. Das hat in den USA und beim westlichen Finanzkapital natürlich Missfallen ausgelöst, da die Ausbeutung der Rohstoffe und der Arbeitskräfte nicht mehr nur nach ihren Vorstellungen lief. Gleichzeitig war Russland immer bereit, mit dem Westen in Kontakt zu treten und hat seinen Energiemarkt, aber auch andere Rohstoffindustrien wie die Aluminiumindustrie in den Westen integriert.
Problematisch war die Ausbreitung der alten kapitalistischen Länder in die GUS-Region, also in die Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Russlands ökonomische Beziehungen waren auf diese Region ausgerichtet. Kasachstan ist immer noch der Weltraumbahnhof Russlands und zur Ukraine bestand eine enge, von Russland dominierte, ökonomische Bindung. In der Ukraine hatte sich die Entwicklung hin zu einer bürgerlichen Eigentumssicherung schlechter vollzogen und das Land hatte eher einen neokolonialen Charakter. Die drei baltischen Staaten sind erst in die NATO, dann in die EU und schließlich sogar in die Eurozone integriert worden. Durch viele politische Ereignisse sind die Interessen der russischen Großbourgeoisie immer weiter zurückgedrängt worden. In Georgien und in der Ukraine sind Farbenrevolutionen durchgeführt worden, um diese Gebiete dem russischen Staat zu entreißen. Das ist der eigentliche Hintergrund des Konfliktes. 2013/14 war dann der Putsch in der Ukraine, welcher eine Truppe an die Macht gebracht hat, die unter direktem Einfluss der USA stand und immer noch steht. Das Ergebnis sehen wir heute. Es war bestimmt ein strategischer Fehler des Kremls, jetzt diesen Krieg anzufangen, aber es handelt sich um eine Verteidigungsaktion der russischen Regierung.


Was sagt uns das über den Charakter des Krieges? Ist der Krieg ein imperialistischer Krieg oder ist es ein Kampf der Kapitalisten in Russland für mehr nationale Eigenständigkeit?

Zunächst mal sind die USA und Deutschland imperialistische Staatsgebilde. Sie sind Teil eines Imperialismus, der sich seit dem 19. Jahrhundert entwickelt hat. Nach dem zweiten Weltkrieg sind die USA zum eindeutigen Spitzenvertreter oder zum Räuberhauptmann dieser imperialistischen Bande geworden. Russland in seiner heutigen Gestalt ist in den 90er Jahren dazugekommen und hat sich selbstverständlich auch zu einem imperialistischen Staat entwickelt. Auch kleinere Staaten, wie Schweden oder die Schweiz, können imperialistische Staaten sein. Nach der Leninschen Definition sind diese Länder von ihrer Struktur her vollumfängliche imperialistische Staaten. Sie sind nicht die mächtigsten und streben nicht nach der Weltherrschaft, aber sie sind imperialistische Staaten. Also ist die Auseinandersetzung zwischen den USA und Russland, also den Hauptakteuren der beiden Seiten, selbstverständlich eine Auseinandersetzung zwischen zwei imperialistischen Ländern.
Der Begriff imperialistischer Krieg hat aber noch eine weitere Konnotation: Wenn man Lenin glauben kann, sind imperialistische Kriege etwas anderes als nur Kriege zwischen imperialistischen Ländern. Lenin schreibt schon bevor der Kapitalismus in sein imperialistisches Stadium eingetreten ist davon, dass die Engländer oder die Franzosen imperialistische Raubkriege geführt haben. In diesem Sinne sollte man das Wort imperialistischer Raubkrieg auch wirklich ernstnehmen. Es geht hier um die Eroberung ökonomischer Potenzen. Ein imperialistischer Krieg ist also ein Raubkrieg. Das Ziel muss nicht unbedingt die Eroberung der ganzen Welt sein. Es können auch einzelne Raubkriege sein; von denen sehen wir viele.
Dieser Krieg in der Ukraine ist einerseits ein Krieg zwischen dem Hauptimperialismus, also dem US-Imperialismus, und dem relativ schwachen Russland. Er ist ein Ergebnis des fortdauernden Raubvorgangs der USA und der anderen Westmächte gegen Russland. Das unmittelbare Ziel des Raubes sind zunächst die Einflussgebiete dieses kleinen russischen Imperialismus. Dieser Krieg ist ein imperialistischer Krieg, aber das, was Russland dagegen unternimmt, ist eine Verteidigungsaktion. Es geht hier um die Neuverteilung der Welt. Die Westmächte wollen mehr von den Gebieten, die bisher im Einflussgebiet Russlands waren. Und ich schließe mich ganz der Meinung von Vladimir Putin an: Das eigentliche Ziel des Krieges ist es, Russland an sich zu reißen. Insofern ist es ein imperialistischer Defensivkrieg, den Russland führt. Um ein Beispiel zu nennen: Das Deutsche Reich wollte vor dem ersten Weltkrieg auch mehr von den Reichtümern der Welt, aber insbesondere Britannien hat sich dagegen gewehrt. Auf beiden Seiten waren es Räuber und imperialistische Staaten, das ist die Ähnlichkeit dabei.
Im Donbass wird die Bevölkerung seit acht Jahren von Faschisten angegriffen. Ist die Verteidigung der Ostukraine durch Russland und die Befreiung von den Faschisten nicht im Interesse der Arbeiterklasse?

Wenn ich im Donbass wohnen würde, würde ich selbstverständlich jede Hilfe annehmen, gegen die Attacken aus Kiew. Ich stehe auf der Seite der Bevölkerung im Donbass. Zumal es ein ziemlich faschistisches Regime in Kiew ist. Noch dazu eins, dass direkt unter der Herrschaft der USA steht. Man darf nur nicht so weit gehen zu sagen, dass das was die Russen da machen vollkommen in Ordnung ist. Was die russische Regierung macht, ist nicht im geringsten Maße in Ordnung. Den Donbass einfach einzugemeinden und damit auch die demokratischen Ansätze, die es dort gab, wieder platt zu machen.

Was sind die Kriegsziele des Westens? Geht es vor allem darum, die Kontrolle über die russischen Energieressourcen zu erlangen?

Nicht nur über die Energieressourcen, sondern auch über die Landmasse und die Bevölkerung. Geopolitisch ist Russland von größtem Interesse. Diesen Preis zu erringen, wäre super aus der Sicht des Westens. Aber da ist die Einheitlichkeit des Westens nicht gegeben, was möglicherweise auch gewisse Chancen bietet.
Wie schon Brzeziński sagte: Um die Welt zu erringen, muss man den asiatischen Kontinent kontrollieren und dazu braucht man Russland. Aber um Russland zu kriegen, braucht man die Ukraine. Natürlich sind diese Ziele vage, aber man passt sich da an. Die 1990er Jahre haben gezeigt, dass man auch mit Handelsverträgen zum gegenseitigen Vorteil vorankommen kann. Der deutsche Imperialismus hat es sowohl mit den USA als auch mit Russland versucht und das ist jetzt gerade gescheitert. Deshalb ist der deutsche Imperialismus momentan der große Verlierer und wir zahlen dafür.

Aktuell hört man Meldungen darüber, dass der Rubel sich stabilisiert, dass Sanktionen umgangen werden können. Wie realistisch ist es, dass der Westen es schafft, Russland zu besiegen?

Dieser Krieg ist zunächst einmal nur eine Episode in diesem ganzen Vorgang. Es ist eine bedeutende Episode. Die Sanktionen sind beispiellos, in diesem Ausmaß ist das noch nicht betrieben worden. Dass der russischen Zentralbank die 300 Mrd. Dollar weggenommen wurden, ist schon ein Raubzug sondergleichen. Diese Sanktionen allein werden Russland nicht in die Knie zwingen. Man kann ein Land nicht nur durch Sanktionen in die Knie zwingen. Das hat nicht einmal im Iran funktioniert, obwohl es ein sehr viel kleineres Land ist, mit sehr viel weniger Ressourcen.
Solche Episoden enden mit leicht veränderten Kräfteverhältnissen. Zum Beispiel sieht man bei Johnson in Großbritannien, dass die konservative Partei nicht mehr ganz glücklich ist mit seinem politischen Kurs. Lauter solche Faktoren spielen da eine Rolle. Da kann es sehr gut sein, dass es wieder zu einem vorrübergehenden Übereinkommen kommt; einschließlich eines Waffenstillstandes in der Ukraine. Das halte ich auch für das Wahrscheinlichste. Die Bedeutung der Sanktionen geht aber über diese Episode hinaus. Sie sind für die Weltwirtschaft ein einschneidendes Erlebnis. Die Zentralbanken aller Länder werden künftig vorsichtiger in der Frage sein, ob sie Dollar oder Euros halten wollen.

Wie würdest du die internationale Neusortierung der Kräfteverhältnisse einschätzen, ist die Dominanz der USA gefährdet?

Ich denke, die amerikanische Bourgeoise ist der Meinung, dass ihre Weltherrschaft gefährdet ist. Weltherrschaften sind immer bedroht und das nimmt kontinuierlich zu. Dies lässt sich auch an allen ökonomischen Daten ablesen. Den USA ist es seit mindestens zwanzig Jahren bewusst, dass die Hauptmacht auf der Gegenseite China ist. Um China herum schart sich die Gegnerschaft der USA. Das ist noch lange kein Bündnis, aber die Tendenz ist da. Ich vermute, dass der Krieg einen kleinen Schritt in diese Richtung darstellt.
Wie sind die russischen Staatsmonopole im weltwirtschaftlichen Maßstab einzuschätzen?
Gazprom ist der größte Gasproduzent und -lieferant der Welt. Rusal ist neben dem amerikanischen Konzern Alcoa der größte Aluminiumhersteller. Mit Blick auf die ersten Hundert Konzerne nach Börsenwert sind die russischen Monopole eher kleine Fische. Die russischen Rohstoffkonzerne sind abgesehen von den Ölkonzernen auf internationaler Ebene nicht die großen Abräumer. Aber auch Exxon ist nicht mehr unter den weltweit ersten. Das hängt aber auch von den Schwankungen der Rohstoffpreise ab. Aber als Macht auf dem Weltmarkt spielen sie je nach Rohstoff eine sehr große Rolle. Die verarbeitende Industrie Russlands hat kaum ökonomische Champions. Für die relative Stärke der russischen Wirtschaft ist jetzt die Eigenversorgung und die Umgestaltung von einem stark von Importen abhängigen Land in ein sich selbstversorgendes Land wichtig.

Wie ist der Kapitalexport in Russland einzuschätzen?

Die Frage ist doch, wie er weltweit einzuschätzen ist. Das Bemerkenswerte der jetzigen Phase des Imperialismus ist, dass der Aspekt des internationalen Kapitalverkehrs unglaublich gewachsen ist. Die mehr als drei Billionen Dollar an amerikanischen Staatsanleihen, die die chinesische Staatsbank hält, wären früher nicht möglich gewesen. Diese Expansion des Finanzsektors und die Herrschaft des Finanzkapitals ist zu einer internationalen Angelegenheit geworden. Das größte imperialistische Land, die USA, sind vor allem Kapitalimporteure. Sie haben eine Leistungsbilanz, welche sie durch einen Kapitalimport ausgleichen. Deutschland ist durch seinen sehr großen Exportüberschuss ein großer Kapitalexporteuer. Würde Lenin heute seine Imperialismusschrift schreiben, würde er nicht allein von Kapitalexport sprechen, sondern vom Kapitalfluss. In diesem Sinne ist Russland vollkommen in den Finanzmarkt integriert. Die westlichen Sanktionen zielen darauf ab, diese Integration zu stoppen. Dadurch hört Russland aber noch nicht auf, ein imperialistisches Land zu sein. Es ist weiterhin bemüht, das überakkumulierte Kapital zu exportieren und gleichzeitig auch Kapitalimport zu betreiben.

Die Macht des US-Finanzkapitals stellt eine Besonderheit des modernen Imperialismus dar. Ist die Herrschaft des Finanzkapitals etwas Wesentliches für den Imperialismus und trifft es auf Russland zu?

Das Finanzkapital herrscht über die Finanzmärkte. Daran ist nichts Besonderes. Russland ist darin miteinbezogen. Trotz der Sanktionen wird der Rubel immer noch gehandelt und steigt in letzter Zeit. Die Strategien von Nationen werden unter den Bedingungen der größten Kapitaleigner des Finanzkapitals ausgemacht. Lenin hat richtig den Kern des Imperialismus als das Finanzkapital bestimmt. In dieser Beziehung unterschieden sich die Länder nicht. Sie sind unter der Herrschaft des Finanzkapitals. Diese Herrschaft ist eine integrierte Herrschaft zwischen den einzelnen Monopolgruppen.

Hat das russische Kapital Mittel zur Beherrschung anderer Länder?

In der Ukraine war das der Fall. Sie wurde von Russland beherrscht. Jetzt natürlich nicht mehr, weil es der Kern des Krieges ist. Das Gleiche gilt auch für Kasachstan. Sie werden immer noch von Teilen des russischen Finanzkapitals beherrscht und auch von der russischen Politik. Ich bin dagegen, Russland in dieser Hinsicht besonders herauszuheben. Der russische Kapitalismus ist da nicht anders als der anderer Länder. Er ist in vielerlei Hinsicht nicht weit entwickelt. Das Bankenwesen ist nicht so tief, die Ersparnisse der Bevölkerung sind nicht so hoch und das Geldvolumen, welches umläuft, ist nicht so groß. Russland hat nicht solche Institutionen wie Blackrock oder Goldman Sachs. Aber es reicht aus, um das eigene Land zu verwalten. Als Einfallstor um ausländische Finanzgruppen zuzulassen ist es nicht mehr geeignet, was einen gewissen Rückschritt darstellt, weil Russland gezwungen ist, mehr auf die eigenen Ressourcen zurückzugreifen. Das Finanzkapital in Russland kann nicht mehr so ausgreifen.

Lucas Zeise (DKP) ist Finanzjournalist und ehemaliger Chefredakteur der UZ, der Wochenzeitung der DKP. Er arbeitete unter anderem für das japanische Wirtschaftsministerium, die Frankfurter „Börsen-Zeitung“ und die „Financial Times Deutschland“. 2008 veröffentlichte er mit „Ende der Party“ eine kompakte Beschreibung der fortwährenden Krise. Sein aktuelles Buch „Finanzkapital“ ist in der Reihe Basiswissen 2019 bei PapyRossa erschienen. Zeise veröffentlicht in der UZ monatlich eine Kolumne mit dem Schwerpunkt Wirtschaftspolitik.

Das Interview führten Paul Oswald und Milo Barus

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