[Tadamun] ist Solidarität

Am 15. Mai 2022 gingen in Deutschland tausende Menschen auf die Straßen, um der bis heute andauernden palästinensischen Nakba, der Vertreibung und ethnischen Säuberung durch den israelischen Staat zu gedenken. Im Zuge der Staatsgründung Israels wurden mehr als die Hälfte der ursprünglichen Bevölkerung Palästinas vertrieben und über 500 Dörfer zerstört. Am 15. Mai letzten Jahres waren die Demonstrationen schon am selben Tag teilweise massiver Repression ausgesetzt: In Berlin wurden bereits im Vorfeld alle Kundgebungen zum Gedenken an die Nakba verboten.[1] Wenige Wochen zuvor waren dort bereits zum 1. Mai pauschal sämtliche pro-palästinensische Demonstrationen verboten worden. Doch Solidarität lässt nicht verbieten. Als am 15. Mai trotzdem Menschen auf die Straße gingen, reagierte die Polizei mit Gewalt. Menschen wurden zusammengedrängt und über die Straße gezerrt, die palästinensische Fahne verboten und Personen über Stunden hinweg festgehalten, weil sie „Freiheit für Palästina“ riefen.[2]

Dennoch war dieser Ruf am 15. Mai 2022 nicht nur in Berlin, sondern auch in vielen anderen Städten Deutschlands laut und klar zu hören – auch in Mannheim. Für einen Genossen der KO hatte die Teilnahme an dieser Demonstration jetzt juristische Konsequenzen. Wie in zahlreichen Städten beteiligten sich auch unsere Genossinnen und Genossen in Mannheim mit Schildern sowie Fahnen an den Protesten und verteilten unsere Stellungnahme, um unsere Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf auszudrücken. Die Polizei ging dabei auch in Mannheim repressiv vor: Der Demonstrationszug wurde mehrfach gestoppt und zahlreiche Fahnen und Schilder konfisziert. Unser jetzt von Repression betroffener Genosse trug dabei ein Schild mit dem Slogan „From the river to the sea, Palestine will be free“ auf dem außerdem der Umriss des historischen Palästina und eine palästinensische Flagge abgebildet war. Für dieses Schild stand er heute vor Gericht. Es drohte eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen, insgesamt 2700 € plus Prozesskosten. Der Prozess zog sich über Stunden hinweg und war von Seiten der Staatsanwaltschaft ein wirkliches Musterbeispiel in Sachen antipalästinensischer Rassismus. Es war die Rede von palästinensischer Hetze, Schlachtrufen und einer Neigung zum Völkermord. Selbst für einen Vergleich mit dem Hakenkreuz war sich das Gericht nicht zu schade. Unser Genosse wurde bei der Verlesung seiner Stellungnahme zum Prozess mehrfach unterbrochen, da es angeblich nicht um den politischen Kontext ginge. Seine Stellungnahme in voller Länge sowie eine Dokumentation zum Prozess veröffentlichen wir in Kürze. Am Ende kam die Staatsanwaltschaft mit ihrer Beschuldigung dennoch nicht durch, unser Genosse wurde freigesprochen.

Die Argumentation der Staatsanwaltschaft lautete: Der Slogan „From the River to the sea – Palestine will be free” stelle ein Kennzeichen terroristischer Organisationen dar. Genauer heißt es im Strafbefehl: „Sowohl die „Hamas“ als auch die „Popular Front for the Liberation of Palestine“- PFLP, welche von der Europäischen Union jeweils als Terrororganisation klassifiziert wurden, verwenden die genannte Äußerung, wie Sie wussten, als zentrale Parole und Aufruf zum bewaffneten Kampf mit dem Ziel der Vernichtung des Staates Israel. […] Sie werden daher beschuldigt, im Inland Kennzeichen einer der in § 86 Abs. 2 StGB bezeichneten Vereinigung öffentlich und in einer Versammlung verwendet zu haben.“ Das ist so absurd, wie zu behaupten der Ruf „Hoch die internationale Solidarität“ sei das Kennzeichen einer terroristischen Organisation, weil es ganz bestimmt zahlreiche „von der Europäischen Union als Terrororganisation klassifizierte“ Gruppen gibt, die diesen Slogan verwenden.

Der Ruf nach einem freien Palästina ist international

Ein freies Palästina vom Jordan bis zum Mittelmeer, das ist nicht der Ruf einzelner Organisationen oder Parteien, es ist der Ruf weiter Teile des palästinensischen Volkes. Es ist ein Ruf nach Gerechtigkeit, nach dem Ende des rassistischen Siedlerkolonialismus. Der Ruf bedeutet die Hoffnung auf die Niederlage eines rassistischen Systems zugunsten einer demokratischen Form des Zusammenlebens. Er betont das Recht der vertriebenen und geflüchteten Palästinenser auf Rückkehr in ihre Städte und Dörfer, denen dieses Recht seit mehreren Generationen verweigert wird. Dieser Ruf verbindet enteignete Bauern aus dem Jordantal mit unter der Blockade lebenden Palästinensern in Gaza,  Familien aus Jerusalem, die gezwungen werden, ihre eigenen Häuser zu zerstören, mit den Dörfern des Westjordanlandes, die ihr Land an zionistische Siedler verlieren. Er verbindet die der alltäglichen Diskriminierung und massiven Repression durch den israelischen Staat ausgesetzten Palästinenser in Haifa, Akka und Jaffa mit denen, die seit mehreren Generationen als Vertriebene in Flüchtlingscamps in Palästina und der Diaspora leben.

Wenn der Strafbefehl, der so exakt in der zentimetergenauen Erfassung der Größe des Schildes (60×165 cm) ist, gleichzeitig behauptet, darauf sei der „Umriss des heutigen israelischen Staatsgebietes“, dann steht diese Behauptung nicht nur im direkten Widerspruch zu internationalem Recht, sondern entblößt vor allem die deutsche Staatsräson. Denn der Strafbefehl sagt offen, was die ewig wiederholte Rede einer „Zwei-Staaten-Lösung“ ohne praktische Konsequenzen aus dem Mund eines imperialistischen Staates für die Palästinenser faktisch heißt: Eine Kein-Staatenlösung. In dem Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer gibt es heute nur eine souveräne Regierung, eine Armee und ein Bevölkerungsregister. Die israelische Kontrolle über das Westjordanland hat nicht nur vorübergehenden Charakter. Exakt wie durch die deutsche Staatsanwaltschaft formuliert, wird das Gebiet faktisch auch durch den israelischen Staat (und nicht nur durch ein paar radikale Siedler) als Teil des israelischen Staatsgebietes behandelt. Entsprechend werden Tatsachen geschaffen mit nur einem Ziel: Möglichst viel Land zu annektieren, und zwar möglichst ohne Palästinenser, die darauf leben. Das ist die rassistische Logik des Siedlerkolonialismus, die nicht erst mit der aktuellen Regierung in Kraft tritt, sondern den Zionismus von Anfang an durchzog. Nicht ohne Grund sprechen die Palästinenser davon, dass die Nakba schon vor 1948 begann und bis heute andauert.

Wir lassen uns nicht einschüchtern oder spalten

In diesem Jahr jährt sich das Gedenken an die Nakba zum 75. Mal. Wir müssen uns auch in Deutschland darauf einstellen, dass dies nicht der letzte Prozess gegen Palästinasolidarität ist. Der in Mannheim verwendete Terrorvorwurf wird uns dabei sehr wahrscheinlich immer wieder begegnen: Bereits die Demonstrationen in Berlin wurden mit einem Verweis darauf verboten, dass es eine Verbindung zu PFLP und Hamas gebe. Zunehmend wird von Seiten des Innenministeriums auch Druck ausgeübt, die israelische Definition mehrerer Menschenrechtsorganisationen als „terroristisch“ zu übernehmen. Umso wichtiger ist es, sich nicht spalten zu lassen, in „gute“ und „schlechte“ Palästinasolidarität. Bei der Innenministerkonferenz Ende 2022 wurden weitreichende Maßnahmen zur Kriminalisierung und Repression gegen Palästinasolidarität in Deutschland beschlossen.[3] Diese Repression trifft insbesondere Menschen mit unsicherem Aufenthaltstitel besonders hart. Gerade deshalb ist es wichtig, diesen Prozess politisch und offensiv zu führen und auch danach aktiv zu bleiben: Es ist unsere Aufgabe als Kommunisten, ganz konkret Solidarität zu üben, Antirepressionsstrukturen wie die Rote Hilfe in Bezug auf Palästina zu aktivieren und – wo das nicht möglich ist – selbst praktische Strukturen der Solidarität zu schaffen.

Für Palästinenser ist der Vorwurf des Terrorismus alles andere als neu. Von Anfang an nahm der palästinensische Kampf um nationale Selbstbestimmung verschiedene Formen an: Generalstreik, Boykott, bewaffneter Kampf. Bis heute wird dieser Kampf fortgesetzt, sei es im Flüchtlingscamp Jenin, in den Gassen von Nablus und Jerusalem oder in den Gefängnissen der Besatzung in Maskobia und Ofer. Der palästinensische Befreiungskampf ist gerade dort ein Vorbild wo er zeigt, dass verschiedene Formen des Widerstands keine Gegensätze sind, sondern eine Einheit bilden. Wir sollten uns davor hüten, in die Falle zu tappen, verschiedene Widerstandsformen pauschal gegeneinander zu diskutieren. Es geht nicht darum, was „legitim“ ist, sondern ganz konkret darum, wie ein freies Palästina Wirklichkeit werden kann und wie der Kampf um nationale Befreiung und der Kampf um Befreiung von kapitalistischer Ausbeutung und Unterdrückung zu einem einheitlichen Kampf zusammengeführt werden können. Palestine will be free! – das ist nicht einfach ein Slogan, sondern eine konkrete Aufgabe.  Es geht darum, die tägliche Gewalt der israelischen Armee, die andauernde Enteignung und fortgesetzte Vertreibung zu beenden. 

Das Jahr 2023 ist noch keinen Monat alt. Der israelische Staat hat bis jetzt 81 palästinensische  Wohnhäuser und Infrastruktureinrichtungen zerstört. 116 Menschen verloren ihr Zuhause.[4] Mehr als 300 Palästinenser wurden inhaftiert. 18 Palästinenser wurden durch israelische Soldaten und Siedler getötet. Vier von ihnen starben noch vor ihrem 18. Geburtstag.

In Erinnerung an die Getöteten, in Respekt und Anerkennung für den palästinensischen Befreiungskampf zitieren wir heute die Stellungnahme vom Mai 2022, die Stellungnahme, die unser Genosse in Mannheim verteilte, als sein Schild konfiziert wurde:

„Unser Platz ist an der Seite dieses Volkes, das uns in seinem Kampf gegen die koloniale Unterwerfung täglich ein Beispiel für revolutionären Mut und Standhaftigkeit ist. Dieser Kampf wird andauern, bis zur Befreiung und Rückkehr. Der letzte Tag der Besatzung wird der erste Tag des Friedens sein.“

Es lebe der Widerstand! Palästina wird frei sein!

Hoch die internationale Solidarität!


[1] https://www.berlin.de/polizei/polizeimeldungen/2022/pressemitteilung.1205876.php

[2] https://www.hrw.org/de/news/2022/05/25/berlin-verbietet-demonstrationen-zum-nakba-tag

[3] https://samidoun.net/de/2023/01/55057/

[4] https://www.ochaopt.org/data/demolition

Verwandt

Aktuell