Aktuelles von Jonathan Fischer
Das einzige Stahlwerk Hessens, Buderus Edelstahl in Wetzlar, wird zerschlagen. In Lollar wird die Eisengießerei Breyden abgefertigt. Der Großkonzern Continental schließt die Werkstore in Wetzlar.
Kapitalistische Realität: Zahlen, Profit und Kahlschlag
Im Kapitalismus geht es in erster Linie um Konkurrenzfähigkeit. Es geht nicht um die Arbeitsplätze der Beschäftigten, die sich den Rücken krumm schuften. Nicht um die Zukunft der Beschäftigten, die Maschinen bedienen, Stahl verladen oder den Vertrieb organisieren. Nicht um bestmögliche Bezahlung, die für die überteuerten Mieten und Grundstücke, für die explodierten Sprit- und Lebensmittelpreise notwendig ist.
Es geht um Zahlen, und wenn die stimmen, gibt es zeitweise eine kleine Beteiligung am Profit. Wenn dieser nur ansatzweise geringer wird, heißt es: Kahlschlag, Kürzen und Rausschmeißen. Das sogenannte unternehmerische Risiko wird immer und immer wieder auf die Belegschaften abgewälzt. Konkurrenz- oder Wettbewerbsfähigkeit ist ein wiederkehrender Grund, wieso ganze Werke geschlossen, Gehälter gekürzt oder Kolleginnen und Kollegen entlassen werden.
Mittelhessische Deindustrialisierung: Buderus, Breyden und Continental
2024 wurde das Stahlwerk Buderus Edelstahl vom Privat-Equity-Investor Mutares übernommen. Die erste Ankündigung der neuen Geschäftsführung war die Flucht aus dem Flächentarifvertrag und ein möglicher Stellenabbau wegen zu geringer Konkurrenzfähigkeit.
Bei der Betriebsversammlung Anfang Juli war die Stimmung in der Belegschaft sehr angespannt. Bei der Aussprache fasste einer der Stahlarbeiter den Mut, die Frage zu stellen, wie er die Miete und teuren Lebensmittel bezahlen solle. Er habe Kinder zu ernähren. Einer der Geschäftsführer kam von seinem Podest und stellte sich wenige Meter vor den Stahlarbeiter in die Sitzreihen der Belegschaft. Er antwortete auf die Frage mit den dreisten Worten: „Ich weiß, was Sie meinen. Auch ich spüre die Inflation, wir sitzen da gemeinsam drin“. Nach der Betriebsversammlung gingen die Kolleginnen und Kollegen mit der Unsicherheit, wie ihre Zukunft aussehen wird, wieder an die Arbeit.
Im August kam dann die bittere Gewissheit: Am 31. Oktober, nach über 150 Jahren Stahlproduktion, wird das Werk vom Investor zerschlagen und knapp die Hälfte der 1.130 Beschäftigten soll gehen. Mutares wird die Gesenkschmiede behalten, der Bereich der Stahlkocher wird komplett stillgelegt, das Walzwerk mit Ausbildungsstätte wird an den niedersächsischen Stahlproduzenten Georgsmarienhütte verkauft. Eine Katastrophe für die Beschäftigten, deren Familien und für die Region nimmt ihren Lauf. Die Geschäftsführung von Mutares muss mit Sicherheit keine Angst vor Arbeitslosigkeit und Armut haben.
Auch der Bremsscheibenhersteller Breyden wird bis zum Ende des Jahres die Eisengießerei in Lollar (Gießen) schließen – und erneut spielt hier die sogenannte Konkurrenzfähigkeit eine zentrale Rolle. Das Unternehmen wurde 2024 vom Privat-Equity-Investor Aequita aufgekauft und hat noch zwei weitere Standorte bei Marburg. Die Geschichte des Eisenwerks ist, wie auch bei Buderus Edelstahl, geprägt von verschiedenen Übernahmen. Zeitweise gehörte die Gießerei sogar zu den Buderus-Eisenwerken in Wetzlar. Im September dann sorgte die angekündigte Schließung für Entsetzen bei der Belegschaft. Anfangs plante die neue Geschäftsführung von Aequita einen Ausbau des Standorts in Breidenbach und weitere Investitionen. Dass die 230 Kolleginnen und Kollegen aus Lollar auf die Straße gesetzt werden sollen, traf die Belegschaft unvermittelt und wie ein Schlag ins Gesicht. Sowohl der Betriebsrat als auch die IG Metall Mittelhessen machten deutlich, dass die Schließung nicht kampflos hingenommen werden wird. Die Schließung in Lollar reiht sich ein in die fortschreitende Deindustrialisierung in Mittelhessen.
Der Kahlschlag führt uns auch zu Continental nach Wetzlar. Das Werk wird Ende dieses Jahres geschlossen. Im Frühjahr hieß es noch, dass einige hundert Beschäftigte bei Continental in Frankfurt und Babenhausen weiterarbeiten könnten. Der Automobilzulieferer zerstörte dann aber alle Hoffnungen auf eine Weiterbeschäftigung, indem er sein Angebot zurückzog, wodurch die betroffenen Kolleginnen und Kollegen wertvolle Zeit verloren, die sie für die Jobsuche hätten nutzen können. Besonders perfide ist das Angebot des Rüstungskonzerns Hensoldt in Wetzlar: Anfang 2025 besuchten Unternehmensvertreter das Continental-Werk, um den von Kündigungen bedrohten und betroffenen Beschäftigten „alternative Jobmöglichkeiten vorzustellen und Bewerbungen entgegenzunehmen“ – etwa für die Fertigung von Komponenten für Kampfpanzer des Typs Leopard 2 oder für Panzerhaubitzen. Bei Hensoldt werden Zielfernrohre, Zieloptiken und optronische Geräte für den Krieg entwickelt und gefertigt. Durch Werksschließungen und Arbeitsplatzabbau werden Arbeiterinnen und Arbeiter in die Rüstungsproduktion gezwungen.
Gewerkschaftliche Organisierung: Notwendigkeit, Solidarität und Zukunft
Als Reaktion auf die Schließungen in Mittelhessen organisiert der Betriebsrat von Buderus gemeinsam mit der IG Metall am heutigen 9. Oktober eine Demonstration, um die Empörung und Trauer der Beschäftigten auf die Wetzlarer Straßen zu bringen. Angedacht war ein Trauermarsch für das Stahlwerk. Wegen der sehr kurzfristigen Schließung der Eisengießerei in Lollar wird es eine Demonstration, die die Schicksale der Belegschaften von Buderus, Breyden und Continental verbindet – ein Schritt, der mehr als notwendig und richtig ist, um Solidarität unter den Belegschaften zu organisieren.
Die Angriffe auf unsere Arbeitsplätze, die Werkschließungen bei Automobilzulieferern und die Zerschlagung der Stahl- und Eisenindustrie stehen nicht getrennt voneinander. Sie sind das Ergebnis der Wirtschaftskrise, in der die Konzerne und Firmen stecken. Ihre Profite sinken, und wir müssen dafür zahlen – mit unseren Arbeitsplätzen, mit Lohnsenkungen oder Zusatzschichten. Doch das ist kein Naturgesetz, sondern menschengemacht. Um dem etwas entgegenzusetzen, müssen wir uns organisieren. Die Gewerkschaften verlieren seit Jahrzehnten ihre Glaubwürdigkeit und Mitglieder. Wer einen Kuschelkurs mit arbeiterfeindlichen, kriegstreibenden Parteien wie SPD, Grünen oder CDU fährt, muss sich nicht wundern, wenn die Belegschaft nicht mehr vor das Werkstor geht. Sobald sich die Gewerkschaftsführungen zu einem Dienstleister gegenüber den Mitgliedern und als Sozialpartner gegenüber den Wirtschaftsbossen erklären, schwindet auch die Organisierung der Beschäftigten.
Was Arbeitsplätze wirklich rettet, ist, sich nicht einschüchtern zu lassen und den Kampf konsequent zu führen. Kampflos gemachte Zugeständnisse setzen unweigerlich eine Abwärtsspirale in Gang, führen zu Enttäuschung, Unzufriedenheit und Austritten bei den Gewerkschaftsmitgliedern. Sie schwächen uns dadurch langfristig. Kämpfe können verloren werden oder mit Kompromissen enden – schaffen aber in jedem Fall wertvolle Erfahrungen für die Zukunft, die wir für die kommenden Auseinandersetzungen dringend brauchen. Denn die nächste Werkschließung, das nächste schlechte Jahr, wird kommen – und die Konzernbosse werden wieder versuchen, ihre Krise auf unseren Rücken abzuwälzen.