Georg Zeder
Der Himmel dröhnt von den Motoren der schweren Militär-Transportmaschinen, die Gläser klappern im Schrank, durch die schier endlose Kolonne von Tiefladern, beladen mit gepanzerten Fahrzeugen. Was klingt wie eine Erinnerung an die damals ungefähr jährlich stattfindenden NATO-Großmanöver aus dem sogenannten Kalten Krieg (REFORGER – Return Of Forces To Germany) wird in diesem Frühjahr wieder Realität in Deutschland werden.
Am 24. Januar begann das mit rund 90.000 beteiligten Soldatinnen und Soldaten aus allen NATO-Staaten größte NATO-Manöver seit den 1980er-Jahren in Europa, Steadfast Defender. In 14 Einzelmanövern wird, ähnlich den gegen die Staaten des Warschauer Vertrags und insbesondere die Sowjetunion gerichteten REFORGER-Übungen, die schnelle Verlegung von Streitkräften an die sogenannte Ostflanke im simulierten Bündnisfall geübt, also dem Angriff eines Drittstaats auf das Territorium eines NATO-Mitglieds.1 Gegen wen sich dieser simulierte Kampfeinsatz richtet, liegt dabei auf der Hand – jenseits der NATO-Ostflanke befindet sich die Russische Föderation mit seinem Verbündeten Belarus, was nicht erst seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine wieder zum Hauptgegner der NATO auserkoren wurde. Das Szenario ist dabei so simpel wie es – als potenzielles Weltkriegsszenario – ein Spiel mit dem Feuer ist: Nach erkannten Truppenkonzentrationen in Belarus und vorangegangenen Provokationen seitens Russlands haben die USA begonnen, starke Kräfte per Seeweg nach Europa zu verschiffen. Mit Beginn der Alarmierungen rücken auch die europäischen Streitkräfte in die Bereitstellungsräume entlang der gemeinsamen Grenzen zu Russland/Belarus aus. Den möglichst reibungslosen Ablauf dieses Szenarios wollen die NATO-Befehlshaber trainieren.
Auch die Bundeswehr ist mit etwa 12.000 Kräften beteiligt und stellt damit eines der größten Landkontingente des Großmanövers. Die Teilmanöver, an denen die Bundeswehr beteiligt ist, sind unter dem Namen Quadriga zusammengefasst. In den Übungen mit den Namen Grand Center, Grand South, Grand North und Grand Quadriga sollen die Truppengattungen leichte, mittlere und schwere Kräfte die Einsatzphasen Alarmierung, Verlegung und Gefecht trainieren. Dabei verlegen ab Anfang März als erstes die sogenannten leichten Kräfte der Division Schnelle Kräfte in der Übung Grand North Gebirgsjäger nach Norwegen, um sich dort dem simulierten Gefecht anzuschließen. Ebenfalls ab März sollen die mittleren Kräfte der 1. Panzerdivision in der Übung Grand Center über Polen nach Litauen verlegt werden und dort das Gefecht simulieren. Anfang Mai folgt in der Übung Grand South mit den Fallschirmjägern eine erneute Verlegung leichter Kräfte nach Rumänien. Den Abschluss bildet Ende Mai dann die Übung Grand Quadriga, in welcher die schweren Kräfte die schnelle Seeverlegung einer Panzerbrigade nach Litauen proben. Alle diese Übungen finden im Verbund mit weiteren NATO-Streitkräften statt.2 Bereits im Januar begannen die ersten Teile der vorgenannten Übungen, so übte bspw. Anfang Februar schon ein Element der Deutsch-Französischen Brigade die Verlegung im Inland zwischen Truppenübungsplätzen in Sachsen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt.
Generell spielt die Bundesrepublik Deutschland als sogenannte „Host Nation“ (d.h. als Aufnahmestaat mit unterstützenden Funktionen für die verbündeten Streitkräfte) des Großmanövers eine herausragende Rolle, die auch die Kriegsbereitschaft der BRD nach innen wie außen signalisieren soll. Dieses Signal, dass die BRD bereit ist, im Ernstfall mehrere hunderttausend Soldatinnen und Soldaten aufzunehmen und an die Front zu transportieren, ist insbesondere auch an die NATO-Verbündeten gerichtet. Darüber hinaus wurde das Manöver – bzw. die Vorbereitung zum Weltkrieg – mit seinen Marschrouten, Szenarien usw. hier geplant. Eine wichtige Komponente war den Planern dabei offensichtlich die öffentliche Wahrnehmbarkeit des Manövers. „Zeitenwende zum Anfassen“ und „Züge mit Panzern und Konvois auf Autobahnen könnten dann zum Bild gehören“ jubilierte der Deutsche BundeswehrVerband3. Hier scheint das Kalkül zu sein, den Anblick von Kriegsgerät in der Öffentlichkeit wieder zu einem alltäglichen Anblick zu machen, eben um die Kriegsbereitschaft auch im Inneren zu fördern. Dass dieses Unterfangen erste Früchte trägt, verdeutlicht die Zahl derer, die in einem Kriegsfalle für die BRD zur Waffe greifen würden: Im Dezember 2023 gaben insgesamt 17% der Befragten an, dies „auf jeden Fall“ zu tun4, im Februar 2023 war die Zahl mit 11% noch deutlich geringer.5 Diese Zahl ist einigen allerdings noch immer zu gering und so wird aktuell im gesamten Spektrum der herrschenden Klasse über die Wiedereinführung der Wehrpflicht diskutiert.6
Der Zeitpunkt, dass ein Manöver wieder in der Größenordnung des sogenannten Kalten Krieges stattfindet und die BRD darin eine herausragende Rolle spielt, ist dabei keineswegs zufällig. In den letzten zwanzig Jahren ist dem westlichen Imperialismus in Form der ökonomisch wiedererstarkenden Russischen Föderation ein ernstzunehmender imperialistischer Konkurrent entgegengetreten. Nach zwischenzeitlichen Phasen der Annäherung7 begann die herrschende Klasse der BRD anhand der Annexion der Krim und der Unterstützung separatistischer Kräfte im Donbass im Jahr 2014 das Schreckgespenst eines russischen Angriffs auf Mitteleuropa und das NATO-Gebiet zu malen, um die eigenen, auch gegen die RF gerichteten, Aufrüstungspläne zu begründen.8 Der offene Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am 24.02.2022 und der darauffolgende, nun fast zwei Jahre andauernde blutige Krieg, hat eine neue Phase im imperialistischen Konflikt zwischen den westlichen Staaten unter EU und NATO auf der einen sowie der RF auf der anderen Seite eingeläutet. Zudem nähert sich die Russische Föderation – befördert durch die westlichen Sanktionen gegen Russland infolge des russischen Einmarschs in der Ukraine – stärker an die Volksrepublik China an. So werden chinesische Banken als Intermediäre genutzt, um trotz dem Ausschluss der RF von SWIFT am internationalen Kapitalmarkt teilzunehmen oder die Handelsbeziehungen werden intensiviert, wobei China hohe Rabatte beim Import von fossilen Energieträgern zugutekommen.9 Auch diplomatisch ist die seit einigen Jahren ohnehin enge Abstimmung beider Staaten noch intensiver geworden. Die VR China ist indes seit einigen Jahren der erklärte Hauptgegner der USA, sodass mittlerweile von einem relativ gefestigten imperialistischen Block um Russland und China auf der einen und dem NATO-Block auf der anderen Seite gesprochen werden kann.
Mittelfristiges Ziel der BRD in diesem Vabanquespiel ist es zunächst, die eigene Fähigkeit zur Kriegsführung wiederzugewinnen. Agierte die BRD bisher meist im Fahrwasser ihres mächtigsten Verbündeten, den USA, scheint das durch ein eigens geschaffenes Sondervermögen und eine Ausweitung des Militäretats unterstützte Bestreben zu sein, eine größere militärische Unabhängigkeit zu erlangen. Dass die BRD dabei weiterhin in die Strukturen der NATO eingebunden ist, ist kein Widerspruch, denn das Militärbündnis vergünstigt, durch gemeinsam definierte Standards und Beschaffungsprogramme, die Beschaffung und Unterhaltung von Kriegsgerät. Nebenbei ist die BRD im Schulterschluss mit Frankreich führend dabei, von der NATO unabhängige Militärstrukturen im Rahmen der EU aufzubauen (bspw. im Rahmen von PESCO – Permanent Structured Cooperation).10 Die opportune Nutzung von NATO- und militärischen EU-Strukturen potenziert hierbei die eigene Fähigkeit zur Machtprojektion.
Diese macht sich das deutsche Kapital zunehmend aggressiver zu eigen: Neben dem anlaufenden Großmanöver ist die BRD auch an der Vergeltungsaktion gegen die Ansarallah im Roten Meer beteiligt. Dort hatten die Streitkräfte der Ansarallah eine der Achillesversen des Welthandels – das Bab el-Mandab – bedroht, indem sie Raketen auf zivile Frachtschiffe feuerten, die die Route Suezkanal – Indischer Ozean befuhren und damit große Verwerfungen im internationalen Seehandel ausgelöst.
Die in diesem Jahr stattfindenden Großmanöver der NATO dienen in erster Linie also dem Training für den erwarteten Ernstfall, einem imperialistischen Krieg des deutschen und westlichen Kapitals gegen seine russische und chinesische Konkurrenz. In zweiter Linie dient es der Demonstration der eigenen Kriegsbereitschaft nach innen und außen. Im Inneren sind neben der eigenen Bevölkerung vor allem die eigenen Verbündeten der Adressat der Botschaft, dass jede teilnehmende Nation bereit ist, ihren Bündnisverpflichtungen nachzukommen und somit die Einsatzbereitschaft und abschreckende Wirkung des Kriegsbündnis erhalten bleibt. Im Äußeren sind neben dem erklärten Feind Russland alle weiteren potenziellen Störenfriede der derzeitigen imperialistischen Hierarchie derart adressiert, dass ihre eigenen imperialistischen Ambitionen ihre Grenze im mächtigsten Kriegsbündnis der Welt finden.
1 https://shape.nato.int/resources/site20849/General/Factsheet_sfde24.pdf
2 https://www.bundeswehr.de/de/organisation/heer/aktuelles/heer-und-nato-partner-starten-2024-ein-grossmanoever-5710094
3 https://www.dbwv.de/aktuelle-themen/blickpunkt/beitrag/das-groesste-manoever-seit-gut-drei-jahrzehnten
4 https://www.stern.de/politik/deutschland/umfrage–nur-17-prozent-der-deutschen-bereit-zur-landesverteidigung-mit-der-waffe-34301080.html
5 https://www.rnd.de/politik/umfrage-jeder-zehnte-deutsche-im-angriffsfall-bereit-fuer-kriegsdienst-56W4FHFDUCDDDCBWUFTIVY2MVM.html Hier ist allerdings das andere Umfragedesign zu beachten, sodass die Zahlen nicht komplett zu vergleichen sind, generell scheint die Zahl immer dann höher auszufallen, wenn eine auswärtige Bedrohung ausgemalt wird, so betrug sie 2015 vor dem Hintergrund der russischen Unterstützung der Separatisten im Donbass etwa 18%: https://www.welt.de/geschichte/article142886294/Nur-wenige-Deutsche-wuerden-fuer-ihr-Land-kaempfen.html
6 https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/wehrpflicht-muetzenich-100.html, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-12/markus-soeder-wehrpflicht-fehler-grundausbildung und https://www.welt.de/politik/deutschland/article249350256/Insa-Umfrage-Mehrheit-der-Deutschen-fuer-Wiedereinfuehrung-der-Wehrpflicht.html
7 U.a. nutzte das deutsche Kapital in hohem Maße die günstigen Importe russischer fossiler Energieträger, um die eigenen Warenexporte konkurrenzfähig abzusichern
8 Dabei spielte neben antislawischem Rassismus auch der Antikommunismus eine Rolle, indem die RF mit einer expansionistischen UdSSR und Putin als Stalin gleichgesetzt wurde.
9 https://www.tagesschau.de/wirtschaft/finanzen/kredite-russland-chinesische-banken-100.html und https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-06/china-handel-russland-rekordniveau
10 https://www.bmvg.de/de/themen/friedenssicherung/bilaterale-kooperation/deutschland-frankreich