Zur Macht der Finanzakteure

Werner Rügemer analysiert das weit verzweigte Netz international agierender Finanzgiganten

Von Klara Bina
Sachkundig und „gemeinverständlich“ vermittelt Werner Rügemer in seinem 2018 im Papyrossa-Verlag erschienenen Buch „Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts“ die Wirkungsweise der großen, mittleren und kleinen global agierenden Finanzmarktakteure, wobei keiner dieser Akteure als unbedeutend oder gar „klein“ bezeichnet werden kann.

Anspruch des Textes ist nicht, das System Kapitalismus zu beschreiben oder gar eine systematische und umfassende Abhandlung über den gegenwärtigen Entwicklungsstand, über die heutige Phase des Imperialismus, vorzulegen. Ganz ohne diese Ebene kommt das Buch aber – wie sollte es auch anders sein – nicht aus.

Vorab sei etwas Grundsätzliches angemerkt, das möglicherweise eine Lesehilfe sein kann: Eine richtige Analyse von Teilaspekten der Wirklichkeit führt nicht automatisch zu allgemein richtigen Schlussfolgerungen und Beurteilungen. Jedoch sollten auch umgekehrt nicht die Schlussfolgerungen als Maßstab für die Falschheit oder Richtigkeit der Analyse genommen werden. Die Einzelanalysen müssen als solche ernstgenommen und in ihrem eigenen Zusammenhang beurteilt werden.

So gelesen, also kritisch und aufmerksam, bietet die Lektüre all denjenigen, die sich für die Machtverhältnisse im internationalen Maßstab interessieren, eine gute Grundlage, um in das Thema einzusteigen. Rügemer schafft es, parteiisch, aber auch oder gerade deshalb in einer sehr zugänglichen Weise, den Leser in die „brutale“ Welt der Finanzmarktriesen einzuführen.
Gleich zu Beginn werden folgende Fehlinterpretationen aus dem Weg geräumt: Es sei falsch, wie einige Globalisierungskritiker behaupteten, dass die Finanzwirtschaft nichts mehr mit der sog. Realwirtschaft zu tun hätte. (S. 8) Und: Es könne zwar von einer neuen transnationalen kapitalistischen Klasse (ebd.) gesprochen werden, jedoch verortet Rügemer die Kontrolle über das international gesammelte Kapital in den Händen von vor allem US-amerikanischen „Kapitalorganisatoren“, die mit dem US-Staat quasi verwachsen seien. (S. 23 ff.) Auch wenn der Autor selbst nicht – außer in seiner Einleitung – konkrete Bezüge zur Imperialismusschrift Lenins herstellt, ist in diesem Zusammenhang der Begriff „Finanzkapital“ allgegenwärtig und damit die Frage, ob dieses hier beschriebene Phänomen gleichbedeutend mit dem Begriff des Finanzkapitals von Lenin ist.

Systematisch werden in abgestufter Weise diese Akteure in folgende Kategorien und in hierarchischer Abfolge eingeteilt: Zuerst die Großen, das sind die Schattenbanken wie BlackRock&Co. Die Mittleren, das sind die Private-Equity-Investoren, die sogenannten Kapitalverwerter, die Hedgefonds. Danach folgen elitäre Investmentbanken, klassische Privatbanken, Venture Capitalists, die traditionellen Banken. Interessanterweise tauchen hier dann die Internet-Kapitalisten Google, Facebook, Amazon und Co auf, um dann eine Auflistung der von Rügemer als „zivile Privatarmee des transatlantischen Kapitals“ (ebd., S. 216) bezeichneten Ratingagenturen, Unternehmensberater, Wirtschaftsprüfer und -kanzeleien und  Leitmedien vorzunehmen.

Schon dieser ordnende und einordnende Überblick gibt dem Leser ein Gespür für das „weitverzweigte Netz“ dieser international agierenden Giganten und ihren Verflechtungen untereinander. Unweigerlich kommen einem in diesem Zusammenhang die Worte Lenins in der Imperialismusschrift in den Sinn. Dabei wird sehr anschaulich dargelegt, dass der ersten Kategorie eine besondere Bedeutung zukommt. Eine oder vielleicht die Besonderheit dieser Kategorie ist die Nicht-Kategorisierbarkeit der mächtigsten Player. Sie sind überall, aber auch nirgends. Sie sind in allen Kategorien präsent, aber selbst weder juristisch, noch ökonomisch, noch politisch fasslich. Die Funktionsweise und die Einflussmittel (S. 30 f.) werden nach und nach anhand greifbarer Beispiele erläutert. Interessant in diesem Zusammenhang ist die sehr breit gestreute Beteiligung von BlackRock (und Co) an unzähligen Konzernen weltweit. Rügemer beschreibt, wie mit wenig Aktienanteilen viel Einfluss ausgeübt werden kann (S. 29 ff.). Auch ein Thema bei Lenin, der zur Frage der Kontrolle über Konzerne durch das Beteiligungssystem schon Ähnliches zu sagen hatte.

Weitere Kapitel befassen sich mit dem Verhältnis der USA zur EU und behandeln die zwischenimperialistischen Widersprüche und Verwicklungen des transatlantischen Kapitals und den Entwicklungsweg Chinas. Die Entwicklung Chinas beschreibt Rügemer als einen „friedlichen“ Weg und legt Hoffnungen in das Potential des aufsteigenden, „von Kommunisten geführten Kapitalismus“, die brutale Vorherrschaft des Westens infrage zu stellen. Die Bedeutung der UNO, der Erklärung der allgemeinen Menschenrechte und des Völkerrechts wird von Rügemer als „vernünftiger“ Anspruch für die Aufstellung von Forderungen gegen die Macht der Finanzakteure betont. (S. 318 ff.)

Diese und andere Schlussfolgerungen, wie z.B. dass es gilt „im Sinne der in der UNO angelegten multipolaren, friedlichen, postkolonialen, demokratischen Weltordnung zu den Anfängen zurückzufinden“, (ebd., S. 324) sollten kritisch hinterfragt werden, weil sie potentiell viel Stoff für Illusionen in diese – letztlich bürgerlichen und damit klassenneutralen – Institutionen beinhalten.
 Und es lohnt sich wieder bei Lenin nachzuschlagen, um zu überprüfen, inwiefern die über hundert Jahre alten Einschätzungen dem hier von Rügemer beschriebenen Realitäten Stand halten und umgekehrt. Das gesamte Kapitel über das Finanzkapital (Lenin Werke 22, S. 229 ff.) und besonders die Aussagen zur Ausdehnung und zu den Kontrollmöglichkeiten, die durch die Entwicklung des Finanzkapitals entstehen und welche Folgen die Trennung des Kapitaleigentums von der Anwendung des Kapitals hat. Hier nur eine Kostprobe des Klassikers, der möglichst anregen soll, das hier vorgestellte Buch mit ernsthaftem und sachlichem Interesse zu lesen:

„Der Imperialismus oder die Herrschaft des Finanzkapitals ist jene höchste Stufe des Kapitalismus, wo diese Trennung gewaltige Ausdehnung erreicht. Das Übergewicht des Finanzkapitals über alle übrigen Formen des Kapitals bedeutet die Vorherrschaft des Rentners und der Finanzoligarchie, bedeutet die Aussonderung weniger Staaten, die finanzielle ‚Macht̒ besitzen.“ (Lenin Werke 22, S. 242)

■ Werner Rügemer: Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts, Köln: PapyRossa Verlag 2021. 365 Seiten.

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