Kapitel 8: Opportunismus und Revisionismus

Kapitel 8: Opportunismus und Revisionismus

8.1 Opportunismus und Revisionismus

8.2 Rechter Opportunismus

8.3 Linker Opportunismus

Die Arbeiterbewegung hat in ihrer Geschichte immer wieder sehr grundsätzliche Auseinandersetzungen über alle möglichen Aspekte ihrer Weltanschauung erlebt. So gut wie jede der grundlegenden Aussagen des Wissenschaftlichen Sozialismus ist an irgendeinem Punkt entweder von Teilen der Arbeiterbewegung, oder von anderer Seite infrage gestellt worden. Daran ist grundsätzlich nichts Schlechtes. Denn der Marxismus ist kein Dogma und er muss sich der wissenschaftlichen Auseinandersetzung stellen. Skepsis ist immer auch Teil dieses Prozesses. Der Marxismus ist auch kein „fertiges“ theoretisches System zum Auswendiglernen, sondern er entwickelt sich stetig weiter, was eben auch bedeuten kann, dass bestimmte Überzeugungen aufgegeben und neue übernommen werden.

8.1 Opportunismus und Revisionismus

8.1.1 Was sind Revisionismus und Opportunismus?

Aber heißt das, dass der Wissenschaftliche Sozialismus beliebig verändert werden kann, dass jede Änderung automatisch eine Weiterentwicklung ist? Das heißt es natürlich nicht. In der Geschichte hat es zahlreiche theoretische Ansätze gegeben, die von sich behaupteten, den Marxismus zu erweitern, ihn an die heutigen Bedingungen anzupassen oder Ähnliches, die aber in Wirklichkeit den Boden des Marxismus verlassen haben. Diese Art von Verfälschung des Marxismus, das Aufgeben von theoretischen und praktischen Grundsätzen des Marxismus, nennt man Revisionismus. Revisionismus bedeutet, dass die Weltanschauung der Arbeiterklasse, also der Wissenschaftliche Sozialismus, durch die Aufnahme von Elementen der bürgerlichen Ideologie untergraben wird. Es gibt dafür zahlreiche Beispiele. Bereits Marx und Engels setzten sich mit verschiedenen Auffassungen auseinander, die den Sozialismus seiner wissenschaftlichen Grundlage beraubten und zu einem utopischen Verständnis von sozialistischer Politik zurückkehren wollten.

Es ist also klar, dass der Revisionismus immer auch zu anderen politischen Schlussfolgerungen führt als der Marxismus. Weil der Revisionismus die strikte wissenschaftliche Grundlage der kommunistischen Politik untergräbt, führt er zwangsläufig zu Fehlorientierungen, die von falschen Annahmen ausgehen und daher auch zu falschen praktischen Schlüssen kommen, die der Arbeiterklasse nicht dienlich sind. Die praktische Politik, die sich aus revisionistischen Auffassungen ergibt, nennen wir Opportunismus. Opportunismus bedeutet, im Klassenkampf einen vermeintlich einfacheren, weil direkteren, schnelleren oder weniger opferreichen Weg zu wählen, der jedoch in Wirklichkeit der Erreichung des Ziels, der vollständigen Befreiung der Arbeiterklasse und Abschaffung jeder Form der Ausbeutung, nur neue Hindernisse in den Weg stellt. Grob unterscheiden lassen sich dabei zwei Grundrichtungen des Opportunismus, die einander scheinbar entgegengesetzt sind, jedoch in der Praxis oft ineinander übergehen: Der linke und der rechte Opportunismus.

8.1.2 Der Kampf von Marx und Engels gegen Opportunismus und Revisionismus

Die Auseinandersetzung mit dem Opportunismus und Revisionismus begleitet die Arbeiterbewegung also schon seit Anbeginn ihrer Entwicklung. Marx und Engels kritisierten ihr ganzes Leben über die opportunistischen Strömungen in der Arbeiterbewegung ihrer Zeit. So verfasste Marx 1875 eine scharfe Kritik am Programm der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD), in der er die darin vertretenen falschen ökonomischen Auffassungen, schwammigen Aussagen und illusorischen politischen Ziele angriff (Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 13-32). Marx schrieb seine wichtige Schrift „Elend der Philosophie“ als Kritik der Lehren des anarchistischen Theoretikers Pierre-Joseph Proudhon und dessen Werk „Philosophie des Elends“. Marx und Engels kritisierten auch die Lehre von Louis-Auguste Blanqui, wonach die Revolution nicht durch die Arbeiterklasse, sondern durch eine kleine Clique von Verschwörern gemacht werden müsste. Sie kämpften gegen den Einfluss Ferdinand Lassalles und seines preußisch-nationalistischen, bürgerlichen Pseudo-Sozialismus in der deutschen Arbeiterbewegung. Sie kämpften gegen den Anarchismus Michail Bakunins und seiner Anhänger in der Ersten Arbeiterinternationale.

8.1.3 Opportunismus und Revisionismus in der imperialistischen Epoche

Doch mit dem Übergang zur imperialistischen Epoche Ende des 19. Jahrhunderts gewann der Kampf gegen den Opportunismus und Revisionismus noch weiter an Bedeutung. Denn es bildete sich in den führenden imperialistischen Ländern zunehmend eine Schicht bessergestellter Arbeiter heraus, die sogenannte Arbeiteraristokratie, die bis heute existiert. Das Monopolkapital ist durch seine enormen Extraprofite imstande, dieser Schicht bessere Arbeits- und Lebensbedingungen zu bieten. Aufgrund seiner relativen Besserstellung wurde diese Schicht anfällig für die opportunistische Theorie, dass auch ohne konsequenten Klassenkampf um die Machteroberung die Arbeiterklasse durch Kompromisse dauerhaft ein gutes Leben erreichen könne. Es bildete sich zudem, vor allem auch aus den Reihen der Arbeiteraristokratie, eine bürokratische Führung der Arbeiterklasse heraus, die sogenannte Arbeiterbürokratie. Hierbei handelte es sich um Funktionäre der damaligen sozialistischen Arbeiterparteien, in Deutschland der SPD, sowie auch der Gewerkschaften. Nachdem Ende des 19. Jahrhunderts die Sozialdemokratie und anderen Organisationen der Arbeiterbewegung in Deutschland legalisiert wurden, erhielt sie auf Grundlage ihres massenhaften Zulaufs aus der Arbeiterklasse auch die finanziellen Mittel, um eine Arbeiterbürokratie auf Dauer zu finanzieren. Natürlich waren keineswegs alle Arbeiterführer um die Jahrhundertwende Opportunisten und Verräter an den Klasseninteressen des Proletariats, im Gegenteil brachte ja auch die deutsche Arbeiterbewegung solche herausragenden revolutionären Persönlichkeiten wie Rosa Luxemburg, Karl und Wilhelm Liebknecht, Franz Mehring und Clara Zetkin hervor. Es gab aber auch andere, die reformistische Illusionen schürten und für die Zusammenarbeit mit dem Staat und den Kapitalisten standen.

So startete in Deutschland der sozialdemokratische Führer Eduard Bernstein Ende des 19. Jahrhunderts einen Generalangriff auf den Marxismus. Er stellte die Notwendigkeit des revolutionären Bruchs infrage, was sich wiederum nur durch ein falsches Verständnis von der Entwicklung des Kapitalismus und durch ein bürgerliches Staatsverständnis begründen ließ. Denn die marxistische Analyse, wonach der Staat ein Organ der Klassenherrschaft ist, lässt sich nicht vereinbaren mit der Vorstellung, ihn einfach auf dem Reformweg, durch eine parlamentarische Mehrheit zu übernehmen. Man muss den Staat schon für ein an sich neutrales Gebiet halten, um davon auszugehen, dass die Arbeiterbewegung ihn einfach übernehmen kann, Bernstein stellte gleichzeitig auch die Dialektik, den Materialismus und die Arbeitswerttheorie grundlegend infrage. Das ist kein Zufall: Denn im Wissenschaftlichen Sozialismus sind grundlegende philosophische Standpunkte, ökonomische Analyse und politische Schlussfolgerungen eng miteinander verbunden. Wer nur einen Teil des Marxismus annehmen und den Rest verwerfen will, verwickelt sich zwangsläufig in logische Widersprüche.

Die SPD hatte sich von einer revolutionären Arbeiterpartei schrittweise hin zu opportunistischen Positionen entwickelt, indem Personen wie Eduard Bernstein, Karl Kautsky und später auch Friedrich Ebert und Gustav Noske immer mehr Einfluss gewannen. 1914 und 1918/19 musste die deutsche Arbeiterklasse die bitteren Konsequenzen tragen: 1914 wurde auf einen Schlag klar, dass die SPD bereits auf die andere Seite des Klassenkampfes übergelaufen war. Als der imperialistische Krieg ausbrach, schrieb die SPD-Führung all ihre früheren Versprechungen in den Wind, wonach sie im Kriegsfall zu energischen Aktionen gegen den Krieg und Militarismus schreiten würde. Stattdessen unterstützte sie den Krieg und schickte die Arbeiterklasse zum Sterben und zum Morden der Arbeiter und Bauern anderer Völker auf die Schlachtfelder. Als die Arbeiterklasse 1918 das Gemetzel satt hatte und den Kampf für die Revolution, für eine sozialistische Räterepublik Deutschland aufnahm, fand sie die SPD-Führung wiederum auf der anderen Seite. Die SPD-Führer Ebert und Noske arbeiteten mit den Freikorps zusammen, den Vorläufern der späteren faschistischen Bewegung, um die Führer der Arbeiterklasse Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sowie Tausende revolutionäre Arbeiter niederzumetzeln. Die Kommunisten zogen daraus damals die Lehre, dass die Reformisten sich letzten Endes zu Feinden der Arbeiterklasse, zu konsequenten Verfechtern der Konterrevolution entwickeln, gegen die Arbeiterbewegung daher einen ständigen Kampf führen muss.

Seitdem hat es viele weitere Beispiele dafür gegeben, wie der Marxismus durch revisionistische Auffassungen entstellt, seines wissenschaftlichen Charakters und seiner revolutionären Konsequenz entleert worden ist. Lenin und die Bolschewiki in Russland führten einen ständigen Kampf gegen die opportunistischen Theorien in der internationalen Arbeiterbewegung, vor allem gegen die der Menschewiki in Russland, die gegen den Aufbau einer revolutionären Kaderpartei waren und die Ansicht vertraten, dass in Russland die Bourgeoisie zuerst den Kapitalismus voll entwickeln müsse, bevor der Sozialismus möglich sei. Aber Lenin bekämpfte auch den Einfluss Kautskys, der die These verbreitete, dass der Imperialismus zu einer friedlichen Entwicklung imstande wäre und der zudem die Diktatur des Proletariats in Russland ablehnte.

Die Gründung der Kommunistischen Parteien nach der Sozialistischen Oktoberrevolution in Russland war eine Konsequenz aus dem Verrat der opportunistischen Arbeiterführer an der Revolution und dem proletarischen Internationalismus. Die konsequent internationalistischen und revolutionären Kräfte zogen daraus nach dem Krieg die Konsequenz, dass eine eigenständige Partei der Kommunisten notwendig ist, die den Opportunismus und Revisionismus bekämpft und die Arbeiterklasse im Kampf für die Revolution anführen kann. Die Gründung der KPD um die Jahreswende 1918/19 war ein enormer Meilenstein in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, denn endlich verfügte die Arbeiterklasse wieder über ihre eigene Partei – eine Partei auf der Grundlage des Marxismus, die dafür kämpfte, die Arbeiterklasse an die Macht zu bringen. Doch der Kampf um eine richtige revolutionäre Linie war damit nicht zuende. Auch in der KPD gab es jahrelange Auseinandersetzungen mit Abweichungen, die zu schweren Fehlern in der Politik der Partei beitrugen und über Jahre hinweg die Entwicklung der Partei hemmten. Hier sind besonders die linksradikale Strömung um Ruth Fischer und Arkadi Maslow, sowie die rechtsopportunistische Abweichung um August Thalheimer und Heinrich Brandler zu nennen.

Opportunismus bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Personen, die eine opportunistische Politik betreiben, auch charakterlich Opportunisten sind, in dem Sinne wie das Wort Opportunismus im Alltagsgebrauch üblich ist. Manchmal sind sie durchaus überzeugte und aufopferungsvolle Kämpfer, die sich für die Sache der Arbeiterklasse einsetzen wollen, aber von revisionistischen Fehlannahmen auf die falsche Fährte geführt worden sind. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Kampf gegen den Opportunismus und Revisionismus von den Kommunisten vernachlässigt werden darf. Zwar ist die Frage der subjektiven Absichten wichtig dafür, wie man mit Individuen umgeht, die opportunistische Positionen vertreten. Doch unabhängig von den persönlichen Absichten der beteiligten Individuen richten Opportunismus und Revisionismus großen Schaden an der Arbeiterbewegung an, wie im Folgenden verständlich werden sollte. Daher ist die Geschichte der Arbeiterbewegung bis heute ein Kampf zwischen den verschiedenen Schattierungen opportunistischer und revisionistischer Strömungen und der klassenkämpferischen, kommunistischen Linie.

Arbeitsfragen:

  • In welchen Ereignissen kam zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Entwicklung der SPD hin zum Opportunismus zum Ausdruck?
  • Welche Entwicklungen in der Arbeiterklasse schufen die Grundlagen für die Entstehung der opportunistischen Strömungen?

Diskussionsfragen:

  • Einerseits muss der wissenschaftliche Sozialismus sich ständig weiterentwickeln und dabei auch überholte Auffassungen über Bord werfen – andrerseits müssen opportunistische und revisionistische Tendenzen bekämpft werden. Wie können wir den Unterschied zwischen notwendigen Weiterentwicklungen und revisionistischen Verfälschungen erkennen?

8.2 Rechter Opportunismus

Der rechte Opportunismus besteht im Kern darin, den Kampf der Arbeiterklasse für kleine alltägliche Verbesserungen und Reformen zu verabsolutieren. Reformforderungen und taktische Manöver, die im Rahmen einer revolutionären Strategie durchaus richtig und notwendig sein können, werden aus dem Rahmen dieser Strategie gerissen, also vom Ziel der Revolution getrennt, das damit letztendlich aufgegeben wird. Eduard Bernstein sprach das offen aus: „Das, was man gemeinhin Endziel des Sozialismus nennt, ist mir nichts, die Bewegung alles“ (Bernstein 1984, S. 201). Der Kampf der Arbeiterbewegung um Reformen im Kapitalismus wird also zum Selbstzweck erhoben und der Sozialismus als Ziel entweder ganz aufgegeben (die ehrlichere Variante) oder als rein abstraktes, meist recht schwammiges Ziel einer gerechten Gesellschaft beibehalten, das aber ebenfalls durch schrittweise Verbesserungen erreicht werden soll. Der rechte Opportunismus führt also zum Reformismus, zur faktischen oder auch, wie im Fall Bernsteins, auch offen ausgesprochenen Aufgabe der revolutionären Strategie. Wie wir gesehen haben, ist der Reformismus eine realitätsferne Utopie, denn einen Weg zum Sozialismus ohne den revolutionären Sturz des Staates, ohne die tiefgreifende Umgestaltung der ganzen Gesellschaft durch die revolutionäre Macht der Arbeiterklasse gibt es nicht.

8.2.1 Die Strategie des Rechtsopportunismus

Dass die Rechtsopportunisten die revolutionäre Strategie des Kommunismus im Namen taktischer Forderungen aufgeben, bedeutet natürlich nicht, dass sie deshalb keine Strategie mehr hätten. Die Taktik ist ja immer nur ein Teil der Strategie und ihr untergeordnet. Die Strategie des rechten Opportunismus besteht eben im Reformismus, im Eintreten für diese oder jene Änderungen an der kapitalistischen Ausbeutung, aber nicht im Sturz der Ausbeuterordnung selbst. Eine andere Variante des Reformismus besteht darin, den Kapitalismus verbal abzulehnen, aber gleichzeitig die Illusion zu verbreiten, dass dieser durch Reformen schrittweise überwunden werden könne, ohne dass es dafür einer Revolution unter Führung der KP bedürfe. Diese strategische Orientierung wirkt sich nun aber auch negativ auf die Reformkämpfe aus, da diese nun nicht mehr konsequent geführt und unter falsche Parolen gestellt werden, die Illusionen schüren statt die Entwicklung des Klassenbewusstseins zu fördern. Wer nur noch die bestehende kapitalistische Gesellschaft mitverwalten und „verbessern“ will, muss wie jede bürgerliche Regierung die Kapitalakkumulation am Laufen halten und fördern. Auch ohne selbst an der Regierung zu sein, werden reformistische Bewegungen darauf achten, nur noch „realistische“, das heißt mit dem Kapitalismus und der erfolgreichen Kapitalakkumulation vereinbare Forderungen zu stellen, die keine zu tiefen Einschnitte in die Profite der Kapitalisten einschließen. Sie sehen das Kapital nicht mehr als unversöhnlichen Gegner, sondern als Verhandlungspartner, mit dem man besser „vernünftige“ Kompromisse aushandelt, statt die Arbeiterklasse zum Kampf gegen ihn zu mobilisieren. Diese Kompromisse bringen in der Regel aber keine dauerhaften Verbesserungen für die Arbeiterklasse, weil sie nicht mit einer Stärkung des Klassenbewusstseins, einer besseren Organisierung der Klasse und damit einer Verbesserung des Kräfteverhältnisses einhergehen. Eher ist es umgekehrt so, dass diese Kompromisse nur zustande kommen, wenn die Arbeiterklasse schon in einem gewissen Maße organisiert und zum Kampf bereit ist. Das Potenzial zur Politisierung und Radikalisierung der Arbeiterbewegung wird durch die reformistischen Führungen dann aber gerade nicht realisiert, sondern verhindert.

Da die Rechtsopportunisten ihre ganze Politik auf der Illusion basieren, es wäre möglich, innerhalb des Kapitalismus die Probleme der Massen zu lösen, stellen sie auch entsprechend illusorische Forderungen und Parolen auf. Statt die Machtübernahme der Arbeiterklasse selbst rufen sie zur Bildung einer „linken“ Regierung auf; statt konkrete Verbesserungen im Betrieb zu erkämpfen, fordern sie „gute Arbeit“ oder „gerechte Löhne“, so als wäre nicht die Ausbeutung selbst bereits eine Ungerechtigkeit. Solche illusorischen Forderungen mögen einen Teil der Arbeiter zunächst mobilisieren und sogar begeistern, aber da sie zwangsläufig an der Realität scheitern müssen, führen sie nicht zu einer besseren Organisierung der Klasse, sondern zur Enttäuschung und Resignation. Sie unterstützen nicht den Prozess der Entwicklung von Klassenbewusstsein, bei dem die Arbeiter sich über ihre eigene Lage, ihren Gegner und die Mittel zur Änderung ihrer Lage bewusst werden. Im Gegenteil verankern sie in den Köpfen der Arbeiter falsche Antworten auf die richtigen Fragen und tragen damit zur Erhaltung der kapitalistischen Ordnung bei.

8.2.2 Der Kampf gegen den rechten Opportunismus

Wir haben bereits Bernstein als einen Vertreter des rechten Opportunismus kennen gelernt. Seiner Position schlossen sich weitere Führer der Sozialdemokratie an, wie in Deutschland Karl Kautsky, in Frankreich Alexandre Millerand, in Russland der ehemalige Marxist Georgi Plechanow usw. Ihre Gegner waren unter anderem Rosa Luxemburg und Lenin. Rosa Luxemburg begründete 1899 in ihrer bedeutenden Schrift „Sozialreform oder Revolution“ die Unmöglichkeit des Reformwegs zum Sozialismus: „Wer sich daher für den gesetzlichen Reformweg anstatt und im Gegensatz zur Eroberung der politischen Macht und zur Umwälzung der Gesellschaft ausspricht, wählt tatsächlich nicht einen ruhigeren, sicheren, langsameren Weg zum gleichen Ziel, sondern auch ein anderes Ziel, nämlich statt der Herbeiführung einer neuen Gesellschaftsordnung bloß unwesentliche Veränderungen in der alten“. Dadurch werde auch die Existenz der Arbeiterbewegung selbst langfristig infrage stellt. Denn für Luxemburg war klar, „daß ohne die grundsätzliche Basis auch der praktische Kampf wertlos und zwecklos wird, daß mit dem Aufgeben des Endziels auch die Bewegung selbst zugrunde gehen muß“ (Luxemburg 1899).

Auch in der KPD gab es in den 1920er Jahren noch rechtsopportunistische Tendenzen. Als es 1923 eine revolutionäre Situation in Deutschland gab, bildete die KPD unter der Führung von August Thalheimer und Heinrich Brandler gemeinsam mit der SPD zwei sogenannte Arbeiterregierungen in Sachsen und Thüringen. Der Kapitalismus wurde dadurch nicht abgeschafft. Die Komintern hatte jedoch 1922 die Bildung solcher Regierungen als mögliche Übergangsform eingeschätzt, um näher an die sozialistische Revolution heranzukommen. Die Arbeiterregierungen in Deutschland wurden von der Komintern später jedoch kritisiert, weil die KPD-Führung um Brandler und Thalheimer ihre Regierungsbeteiligung nicht genutzt hatte, um die Arbeiterklasse zu bewaffnen, sondern sich wie eine normale Regierung auf dem Boden des Kapitalismus verhalten hatte.

Lenin betonte, dass der Opportunismus nicht einfach aus theoretischen Fehlleistungen entsteht und auch nicht einfach, weil manchen Menschen der Klassenkampf zu hart ist und sie nach einem vermeintlich leichteren Weg suchen. Natürlich sind auch das Quellen opportunistischer Abweichungen. Aber wie Lenin herausgestellt hat, entsteht der Opportunismus in der imperialistischen Gesellschaft gesetzmäßig auf der Grundlage der Entstehung einer Arbeiteraristokratie. Indem ein Teil der Arbeiterklasse durch die Extraprofite des Monopolkapitals besser bezahlt werden kann, gelingt es dem Kapital, diese Arbeiter weitgehend in das System zu integrieren und mit Zugeständnissen ruhigzustellen. Ein Teil der Arbeiterbewegung wird auch als bezahlte Funktionäre der Gewerkschaften und reformistischen Parteien aus dem industriellen Arbeitsprozess geholt und mit besseren Löhnen und Arbeitsplatzsicherheit für die Klassenzusammenarbeit mit der Bourgeoisie gewonnen. Ähnliches gilt für viele Personen mit kleinbürgerlichem Hintergrund, die sich der Arbeiterbewegung immer wieder anschließen, aber von ihrer persönlichen Klassenlage her nicht dieselben Voraussetzungen wie die Arbeiterklasse haben, um das System als Ganzes zu durchblicken, den Grundwiderspruch in ihm zu erkennen und dementsprechend konsequent für den Sozialismus zu kämpfen.

Deshalb ist der Opportunismus auch nicht dadurch zu besiegen, dass man ihn theoretisch widerlegt. In der Geschichte der Arbeiterbewegung tauchte der rechte Opportunismus in verschiedenen Varianten immer wieder auf. Wo kommunistische Parteien den Kampf gegen ihn unterschätzten oder im Namen der Einheit der Bewegung gar einstellten, hatte das verheerende Niederlagen für die gesamte Arbeiterklasse zur Folge. Auf der anderen Seite gab es in der Geschichte der kommunistischen Bewegung aber auch immer wieder Leute, die glaubten, in jedem einen Opportunisten zu erkennen, der in der einen oder anderen Frage eine andere Meinung vertrat. Das ist natürlich falsch und spaltet die kommunistische Bewegung, daher ist es wichtig, den Begriff des Opportunismus wissenschaftlich zu verwenden und nicht als Totschlagargument gegen jede abweichende Ansicht.

8.2.3 Der rechte Opportunismus nach dem Zweiten Weltkrieg

In der kommunistischen Weltbewegung entwickelte sich der Rechtsopportunismus in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer existenziellen Bedrohung. Tendenzen in diese Richtung waren schon am Ende des Krieges zu erkennen: Viele kommunistische Parteien hatten durch ihre führende und aufopferungsvolle Rolle im antifaschistischen Widerstand großen Masseneinfluss gewonnen. Sie waren aber nicht in der Lage, den erfolgreichen antifaschistischen Kampf mit dem Kampf um die Macht zu verbinden. So kam es, dass kommunistische Parteien in Europa (z.B. in Italien und Griechenland), die nach dem Krieg entstehende revolutionäre Situation nicht ausnutzten und stattdessen inakzeptable Zugeständnisse an die Bourgeoisie machten.

Im Jahr 1956 hielt dann die Kommunistische Partei der Sowjetunion ihren 20. Parteitag ab. Nach dem Tod Stalins rechnete der neue Generalsekretär der Partei Nikita Chruschtschow nun nicht nur mit seinem Vorgänger ab, sondern leitete auch einen politischen Kurswechsel in die Wege. Der Parteitag beschloss nun, ein freundschaftliches Verhältnis zum US-Imperialismus anzustreben, und behauptete die Möglichkeit eines parlamentarischen und friedlichen Wegs zum Sozialismus. Diese Orientierungen wurden von kommunistischen Parteien auf der ganzen Welt übernommen und förderten die Herausbildung von strategischen Orientierungen, die statt auf den revolutionären Sturz des Kapitalismus auf einen „demokratischen“ Übergang mithilfe von Wahlen und Regierungsbeteiligungen abzielten. In Deutschland wurde diese Strategie als „Antimonopolistische Demokratie“ verfolgt.

In einigen Ländern Westeuropas, aber auch teilweise außerhalb Europas, entstand schließlich in den 1960ern der sogenannte „Eurokommunismus“ als nächste Stufe der rechtsopportunistischen Degeneration der Kommunistischen Parteien. Unter dem Deckmantel der Beachtung „nationaler Besonderheiten“ wurde von den „Eurokommunisten“ die These aufgestellt, dass in Westeuropa das „Modell“ der Oktoberrevolution keine Gültigkeit habe und ein friedlicher Übergang zum Sozialismus möglich sei. Große Parteien wie die französische und die italienische KP distanzierten sich nun immer offener von der Sowjetunion und den Ländern des realen Sozialismus, propagierten die Zusammenarbeit mit der herrschenden Klasse und sogar, dass die NATO als Schutzschild für den italienischen Weg zum Sozialismus fungieren könne. Mit dem „Eurokommunismus“ verloren diese Parteien also endgültig ihren kommunistischen und proletarischen Charakter und wurden zu bürgerlichen Systemparteien. Konsequenterweise lösten sich viele dieser Parteien nach einigen Jahren auf oder verloren ihren Masseneinfluss, nachdem sie das hart erkämpfte Vertrauen der Arbeiterklasse wieder verspielt hatten. Auf diese Weise ist der Rechtsopportunismus maßgeblich dafür verantwortlich, dass die meisten der großen KPen Europas heute verschwunden sind und die kommunistische Bewegung in den meisten Ländern praktisch neu aufgebaut werden muss.

Arbeitsfragen:

  • Was sind die Kernpositionen des rechten Opportunismus?
  • Welche historischen Beispiele für rechten Opportunismus hat es in der Arbeiterbewegung gegeben?

Diskussionsfragen:

  • Wie kann eine Kommunistische Partei sich vor rechtsopportunistischen Einflüssen schützen?

8.3 Linker Opportunismus

Neben dem rechten existiert auch ein linker Opportunismus, der ebenfalls durch revisionistische Auffassungen über die Welt genährt wird und ein ständiges Problem für die Arbeiterbewegung darstellt. Der Kern des Linksopportunismus oder auch Linksradikalismus besteht darin, im Namen des revolutionären Ziels die Erfordernisse der Organisierung der Massen zu vernachlässigen. Dies äußert sich darin, dass Kämpfe um Verbesserungen der Lebenssituation und Kampfbedingungen vernachlässigt oder gar abgelehnt werden oder indem taktische Manöver wie Bündnisse und Kompromisse aus Prinzip abgelehnt werden. Im Namen der Reinheit des revolutionären Ziels wird der Bewusstseinsstand der Arbeiterklasse in der praktischen Arbeit nicht mehr berücksichtigt. Es werden Parolen aufgestellt und in die Klasse hineingetragen, die dort nur auf Unverständnis und Ablehnung stoßen können, weil sie der Entwicklung des Klassenbewusstseins weit vorausgreifen. Während also beispielsweise der rechte Opportunismus dazu führt, dass gewerkschaftliche und betriebliche Kämpfe nur auf moderate betriebliche Forderungen beschränkt bleiben und die Arbeiterbewegung keine weitergehenden politischen Ziele zum Sturz des Kapitalismus verfolgt, stellt der linke Opportunismus das entgegengesetzte Extrem dar. Ein Beispiel für Linksradikalismus wäre es demnach, im Betrieb jeden Kampf unter die Parole der Diktatur des Proletariats zu stellen oder auf der Betriebsversammlung nicht über die täglichen Probleme der Arbeiter zu sprechen, sondern nur über die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution.

Linksradikale Tendenzen finden sich in der Arbeiterbewegung immer wieder. Oft treten sie als fehlgeleitete Reaktion auf den Rechtsopportunismus oder als Reaktion auf besonders repressive Phasen der bürgerlichen Herrschaft auf. So kann die Ablehnung des revolutionären Kampfes durch die Reformisten dazu führen, dass radikalere Strömungen in der Arbeiterbewegung aus revolutionärer Ungeduld nach vermeintlichen „Abkürzungen“ zur Revolution suchen; der scheinbar überwältigende Einfluss der Sozialdemokratie in den Gewerkschaften kann dazu führen, dass Kommunisten deshalb aus den Gewerkschaften austreten und stattdessen „reine“ kommunistische Gewerkschaften gründen, was aber oft nur bedeutet, den rechten Opportunisten das Feld kampflos zu überlassen und sich selbst von der Arbeiterklasse zu isolieren. Um linken Opportunismus handelt es sich dann, wenn ein solcher Schritt vollzogen wird, um den mühsamen Kampf um die Köpfe der reformistisch beeinflussten Arbeiter zu umgehen und somit einen vermeintlich einfacheren Weg zu gehen.

8.3.1 Lenins Kampf gegen den linken Opportunismus

Lenin widmete der Auseinandersetzung mit dem Linksradikalismus im Jahr 1920 seine berühmte Schrift „Der ‚linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus“ (LW 31, S. 1-91). Einige seiner Kritikpunkte an den damaligen „ultralinken“ Strömungen in der Arbeiterbewegung einiger Länder bleiben bis heute aktuell.

Die Linksradikalen vertraten unter anderem die Auffassung, dass es falsch sei, wenn Kommunisten in Gewerkschaften mit reaktionären Führungen arbeiten und sich an Wahlen zum bürgerlichen Parlament beteiligen würden. Sie waren der Meinung, dass jede Form des Kompromisses nur eine Abkehr vom Weg zum Kommunismus wäre und daher abzulehnen sei. Ebenso lehnten sie die Anwendung legaler Kampfmethoden ab, weil sie darin eine Anpassung an das kapitalistische Rechtssystem sahen. Lenin wandte sich scharf gegen diese Auffassungen: „Nicht in den reaktionären Gewerkschaften arbeiten heißt die ungenügend entwickelten oder rückständigen Arbeitermassen dem Einfluß der reaktionären Führer (…) überlassen“ (ebenda, S. 38). Im Gegenteil sei es notwendig, unter allen Umständen in den Gewerkschaften zu arbeiten, um den Kontakt zu den darin organisierten Arbeitern nicht zu verlieren. Er sprach sich auch gegen die Gründung von „reinen“ kommunistischen Gewerkschaften aus, bei denen die Zustimmung zur Diktatur des Proletariats schon zur Voraussetzung für die Mitgliedschaft gemacht würde. Denn dadurch würde man die Masse der Arbeiter ausschließen und dem Einfluss der politischen Gegner überlassen.

Auch in der KPD gab es in den ersten Jahren starke linksradikale Tendenzen. So gab es 1919, also im ersten Jahr nach der Gründung der Partei, eine Mehrheit für einen Wahlboykott, weshalb die KPD sich dagegen entschied, bei den Wahlen zu kandidieren. Die Begründung dafür war, dass das Parlament eine kapitalistische Institution sei und die Kommunisten sich deshalb nicht daran beteiligen dürften. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg kritisierten diese Haltung und setzten sich im folgenden Jahr in der Partei auch durch.

Auf das Argument der linksradikalen Kommunisten, dass der Parlamentarismus „historisch erledigt“ sei, entgegnete Lenin, dass es nicht darum gehe, was die Kommunisten für „erledigt“ halten, sondern ob die Massen den Parlamentarismus ebenfalls als erledigt betrachteten. Und da immer noch große Teile des Volkes Illusionen in das Parlament setzten, seien die Kommunisten verpflichtet, „den tatsächlichen Bewußtseins- und Reifegrad eben der ganzen Klasse (und nicht nur ihrer kommunistischen Avantgarde), eben der ganzen werktätigen Masse (und nicht nur ihrer fortgeschrittensten Vertreter) nüchtern zu prüfen“. Weshalb „die Beteiligung an den Parlamentswahlen und am Kampf auf der Parlamentstribüne für die Partei des revolutionären Proletariats unbedingte ‚Pflicht ist, gerade um die rückständigen Schichten ihrer Klasse zu erziehen, gerade um die unentwickelte, geduckte, unwissende Masse auf dem Lande aufzurütteln und aufzuklären.“ (ebenda, S. 44).

Die Kommunisten müssten „in allen Ländern durchweg und restlos die Notwendigkeit erkennen, in ihrer Taktik äußerst elastisch zu sein“ (ebenda, S. 89). Sie müssten auch bereit sein, Kompromisse einzugehen, wenn diese dem Ziel des Sozialismus dienlich seien. Die Kommunisten und ihre Führung müssen daher das notwendige Fingerspitzengefühl haben, um einzuschätzen, welche Kompromisse im Klassenkampf notwendig sind und die Arbeiterbewegung voranbringen und welche Kompromisse in Wirklichkeit eine Unterwerfung unter die Ziele des Gegners sind. Sie müssen grundsätzlich bereit und fähig sein, sowohl die illegalen als auch die legalen Kampfmethoden anzuwenden. Während die einseitige Ablehnung aller illegalen Methoden eine Form des Rechtsopportunismus darstellt, ist die Fixierung auf illegale Methoden Linksradikalismus. Beides führt dazu, dass die Kommunistische Partei unfähig wird, die Arbeiterklasse unter allen Bedingungen führen zu können.

Nachdem in der KPD die linksradikale Position des Wahlboykotts zurückgedrängt wurde, vollzog die Partei 1923 unter Thalheimer und Brandler eine Wende zum Rechtsopportunismus (s. Kapitel 8.1). Diese Führung wurde jedoch 1924 wieder abgesetzt und durch die linksradikale Führung um Ruth Fischer, Werner Scholem und Arkadi Maslow ersetzt. Während andere Genossen in der Parteiführung wie Ernst Thälmann oder Wilhelm Pieck argumentierten, dass die KPD die gemeinsame Aktion mit den sozialdemokratisch beeinflussten Arbeitern suchen und auch auf die Arbeit in den SPD-dominierten Gewerkschaften orientieren müsse, wurde ein solches Herangehen an die Massen von der linksradikalen Parteiführung torpediert. Die Komintern intervenierte nun mit einer Kritik am linken Opportunismus von Fischer, Maslow und Scholem, woraufhin diese im August/September 1925 die Mehrheit in den Führungsgremien der KPD verloren.

Lenin sieht die gesellschaftliche Grundlage des Linksradikalismus im Kleinbürgertum, das in seiner Existenz ständig vom Kapital bedroht ist. Er argumentiert, „daß der Kleineigentümer, der Kleinbesitzer (…), weil er unter dem Kapitalismus ständiger Unterdrückung und sehr oft einer unglaublich krassen und raschen Verschlechterung der Lebenshaltung und dem Ruin ausgesetzt ist, leicht in extremen Revolutionarismus verfällt, aber nicht fähig ist, Ausdauer, Organisiertheit, Disziplin und Standhaftigkeit an den Tag zu legen.“ (ebenda, S. 16). Eine ähnliche Haltung beobachtet man heute am ehesten bei Studenten und Akademikern, die oft ebenfalls in ihrer sozialen Stellung nicht gesichert sind, aber denen die Erfahrungen der Disziplin und der Organisation am Arbeitsplatz fehlen. Solche linksradikalen Auswüchse sind, wie schon Lenin feststellte, oft nicht von großer Dauer und können „schnell in Unterwürfigkeit, Apathie und Phantasterei“ umschlagen (ebenda, S. 16f). Eine Herausforderung besteht darin, die Radikalisierung dieser Personen in fruchtbare und organisierte Bahnen zu lenken und damit für den Kampf der Arbeiterklasse nutzbar zu machen.

8.3.2 Andere Beispiele für linken Opportunismus

In der Geschichte fanden sich linksradikale Elemente oft bei anarchistischen Gruppen oder der Strömung der Narodniki („Volkstümler“) im zaristischen Russland. Diese propagierten zum Teil individuelle Terroranschläge gegen Vertreter des Systems anstelle der Organisierung der Arbeiterklasse für einen gesellschaftlichen Umsturz. Der Anarchismus oder „Rätekommunismus“ lehnt zudem die Machtübernahme der Arbeiterklasse in der sozialistischen Revolution, die Führung durch die Kommunistische Partei und den Aufbau eines Arbeiterstaates ab, weil er aus Prinzip jede Form des Staates ablehnt. Anarchisten gehen also nicht von den notwendigen Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung und des Klassenkampfes aus, sie leugnen die Notwendigkeit, dass auch die Arbeiterklasse ihre Revolution konsolidiert und verteidigt und dafür einen Staatsapparat benötigt. Auch Leo Trotzki und seine Anhänger vertraten nach der Oktoberrevolution teils linksopportunistische Standpunkte. Als in den 1930ern in großen Teilen der Welt der Faschismus auf dem Vormarsch war, lehnte Trotzki beispielsweise die Versuche der Sowjetunion ab, durch Kompromisse mit den nicht-faschistischen bürgerlichen Staaten ein Bündnis gegen die faschistischen Achsenmächte (vor allem Deutschland, Italien und Japan) aufzubauen. Nachdem diese Versuche an der Weigerung der westlichen kapitalistischen Staaten gescheitert waren, musste die Sowjetunion sich 1939 durch einen Nichtangriffsvertrag mit dem faschistischen Deutschen Reich absichern, um einen Krieg vorerst zu vermeiden. Auch diesen Kompromiss lehnte Trotzki ab und diffamierte die sowjetische Führung als Lakaien Hitlers. Die Position, faktisch alle außenpolitischen Kompromisse abzulehnen, hätte aber nur zur internationalen Isolation der Sowjetunion geführt und sie im schlimmsten Fall ohne Verbündete in einen Zweifrontenkrieg gegen das faschistische Deutschland und das Japanische Kaiserreich geführt.

Die Kommunistische Partei Chinas und die Partei der Arbeit Albaniens, also zwei Kommunistische Parteien, die in ihren Ländern erfolgreiche Revolutionen angeführt hatten, gingen in den 1960ern ebenfalls auf linksopportunistische Positionen über. Zunehmend verabsolutierten sie die Kritik an der rechtsopportunistischen Abweichung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion auf ihrem 20. Parteitag. In der zweiten Hälfte der 1960er und in den 1970ern sprachen albanische und chinesische Vertreter der gesamten sowjetischen Gesellschaft dann grundsätzlich ihren sozialistischen Charakter ab und diffamierten die Sowjetunion als „sozialimperialistische Supermacht“, teilweise sogar als „faschistische Diktatur“. Dabei gingen sie von revisionistischen theoretischen Auffassungen aus: Indem sie ein Land, in dem immer noch gesellschaftliches Eigentum an den Produktionsmitteln und eine zentrale Planwirtschaft herrschten, als kapitalistisch und sogar imperialistisch und „faschistisch“ bezeichneten, verwarfen sie das marxistische Verständnis vom Kapitalismus und Imperialismus vollkommen. Gleichzeitig ist die These vom „Sozialimperialismus“ aber auch ein gutes Beispiel dafür, dass linker und rechter Opportunismus oft nah beieinander liegen und ineinander übergehen. Denn die KP Chinas unter Mao Tse-tung nahm ausgehend von dieser Position eine immer feindseligere Haltung gegenüber den anderen Ländern des sozialistischen Lagers ein und ging seit Beginn der 1970er schließlich ein außenpolitisches Bündnis mit dem US-Imperialismus gegen die Sowjetunion ein. Fortan unterstützte die Volksrepublik China reaktionäre und konterrevolutionäre Kräfte auf der ganzen Welt gegen die antiimperialistischen und revolutionären Befreiungsbewegungen, allein weil diese von der Sowjetunion unterstützt wurden. Vom Standpunkt einer falschen linksradikalen Kritik am realen Sozialismus wurde somit eine pro-imperialistische, rechte Außenpolitik gerechtfertigt. In Westdeutschland und anderen Ländern waren es oft studentische Kreise (viele der sogenannten „K-Gruppen“), unter denen diese vordergründig „ultra-linke“, in Wirklichkeit aber rechte Position auf fruchtbaren Boden fiel.

Arbeitsfragen:

  • Was sind die Kernpositionen des linken Opportunismus?
  • Welche historischen Beispiele für linken Opportunismus hat es in der Arbeiterbewegung gegeben?

Diskussionsfrage:

  • Ist der linke oder der rechte Opportunismus grundsätzlich gefährlicher für die Arbeiterbewegung? Welche Variante hat historisch den größeren Schaden angerichtet? Welche stellt aktuell das größere Problem dar?