Kapitel 4-4.2
Kapitel 4.3-4.4
Kapitel 4.5-4.6
Kapitel 4.7
Kapitel 4.8 – 4.9
4.1 Die Methode der Kritik der Politischen Ökonomie
4.3 Kapital, Mehrwert und Lohnarbeit
4.4 Der Zirkulationsprozess des Kapitals
4.6 Kreditwesen und fiktives Kapital
4.7 Monopol, Finanzkapital und Imperialismus
4.8 Konjunkturzyklus und Krise
4.9 Die Klassen im Kapitalismus
In diesem Kapitel beschäftigen wir uns mit der Kritik der Politischen Ökonomie. Was ist mit diesem etwas sperrigen Begriff gemeint?
Als Politische Ökonomie bezeichnete man zu Zeiten von Marx und Engels die damalige Wirtschaftswissenschaft. Engels definierte die Politische Ökonomie als „die Wissenschaft von den Bedingungen und Formen, unter denen die verschiedenen menschlichen Gesellschaften produziert und ausgetauscht, und unter denen sie demgemäß jedesmal die Produkte verteilt haben“ (Engels: Anti-Dühring, MEW 20, 139).
Die wichtigsten Vertreter der klassischen bürgerlichen Politischen Ökonomie waren die britischen Ökonomen Adam Smith und David Ricardo. Es ist kein Zufall, dass die damaligen Ökonomen von Politischer Ökonomie sprachen. Denn damals verstanden auch sie die Wirtschaftstheorie noch als eine politische Theorie. So beschäftigte Ricardo sich z.B. auch mit der Frage der Klassen in der kapitalistischen Gesellschaft – wobei für ihn, anders als für Marx, natürlich immer außer Frage stand, dass die Spaltung der Gesellschaft in Klassen eine „natürliche“, unabänderliche Ordnung darstellt. Die heute vorherrschende Wirtschaftstheorie, die sogenannte Neoklassik, versteht sich im Gegensatz dazu als „unpolitisch“ und behauptet, lediglich eine neutrale Theorie mit dem Ziel wirtschaftlicher Effizienz zu sein. In Wirklichkeit ist natürlich jede ökonomische Theorie politisch: Denn die ökonomische Theorie kann entweder die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise aufdecken oder sie verschleiern. Deckt sie die kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten wirklich auf, ist sie eine Theorie im Interesse der Arbeiterklasse – denn dann muss sie über die Entstehung des Profits durch die Ausbeutung der Arbeiter sprechen, über die Notwendigkeit der Krisen und darüber, dass der Kapitalismus sich sein eigenes Grab schaufelt. Verschleiert sie die kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten, indem sie „den Markt“ als eine neutrale Maschine zur effizienten Verteilung von Ressourcen darstellt oder behauptet, die kapitalistischen Krisen durch staatliche Eingriffe lösen zu können, ist sie eine Theorie im Interesse des Kapitals – eine Theorie, die Erkenntnis verhindert und damit zur Stützung der kapitalistischen Ordnung beiträgt.
Die bürgerliche Volkswirtschaftslehre lässt sich damit grob in zwei Phasen einteilen: Einerseits die klassische Politische Ökonomie von Ricardo, Smith und einer Reihe anderer bürgerlicher Ökonomen im 18. und 19. Jahrhundert, die trotz ihrer Begrenzungen noch wissenschaftlich vorging und wichtige Erkenntnisse zutage förderten. Andrerseits die Vulgärökonomie in der Zeit danach, die zur Erklärung der wirklichen ökonomischen Gesetze kaum noch Beiträge leistet und im Wesentlichen davon geprägt ist, den Ausbeutungscharakter und die Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Produktionsweise zu leugnen und zu verschleiern, auch wenn dies vollständig auf Kosten der wissenschaftlichen Brauchbarkeit der Theorie geht.
Zur Zeit der klassischen Ökonomen war die Bourgeoisie noch eine fortschrittliche Klasse: Sie kämpfte für die Überwindung des Feudalismus und Absolutismus, sie unterstützte die Naturwissenschaften in ihrem Kampf gegen den mittelalterlichen Aberglauben und sie ermöglichte in den Industriellen Revolutionen einen gewaltigen Aufschwung der Produktivkräfte. Es ist daher nicht verwunderlich, dass in dieser historischen Phase auch die bürgerliche Wissenschaft noch ehrlich daran interessiert war, die Funktionsweise der Gesellschaft zu verstehen. Allerdings hatte diese Offenheit auch damals klare Grenzen: Smith und Ricardo erkannten weder den Charakter des Mehrwerts als Produkt der Ausbeutung, noch die Notwendigkeit der Krisen, noch die zwangsläufige Entwicklung des Kapitalismus hin zum zunehmenden Parasitismus. Wenn sie über Gebrauchswert und Tauschwert sprachen, beschrieben sie diese zwar auf einer oberflächlichen Ebene weitgehend richtig, sie verstanden aber nicht, dass der Tauschwert überhaupt nur in einer Gesellschaft existiert, in der Waren getauscht werden. Was in Wirklichkeit nur Erscheinungsformen der kapitalistischen Produktionsweise sind, hielten diese bürgerlichen Ökonomen für allgemeine Prinzipien des Wirtschaftslebens.
Marx verfasste deshalb seine eigene Theorie als Kritik der Politischen Ökonomie. Das Wort Kritik kommt aus dem Griechischen und meint die Beurteilung einer Sache, nachdem man sie analysiert hat. Die Lehre von Marx ist nun einerseits eine Kritik der bürgerlichen Wirtschaftstheorien seiner Zeit, die trotz ihrer Verdienste letztlich daran scheiterten, die Entwicklungsgesetze des Kapitals aufzudecken. Andrerseits ist sie dadurch aber auch eine Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse, die durch die Theorie erstmals aufgedeckt und verständlich gemacht werden. Die Kritik der Politischen Ökonomie untersucht anders als die klassische Politische Ökonomie nicht einfach nur oberflächliche ökonomische Vorgänge, sondern hat den Anspruch, zum Wesen der Dinge, das heißt zu den zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten vorzudringen und sie zu erklären.
Natürlich heißt das nicht, dass Marx den Boden der Politischen Ökonomie mit seiner Theorie verlassen hätte. Auch Marx beschäftigt sich ja in seiner Theorie mit den Bedingungen, unter denen die Produktion und der Austausch des gesellschaftlichen Reichtums stattfinden. Daher kann man auch die Theorie von Marx zur Politischen Ökonomie zählen. Allerdings geht er eben auch entscheidend darüber hinaus, indem er zeigt, dass die klassische Politische Ökonomie den Kapitalismus für eine ewig gültige Naturordnung hielt und seinen historisch vorübergehenden Charakter nicht begriff.
Die Kritik der Politischen Ökonomie ist einer der drei Grundbestandteile des Marxismus-Leninismus und eng verbunden mit den beiden anderen, der Lehre vom Klassenkampf und der Erkämpfung des Sozialismus sowie der marxistisch-leninistischen Philosophie. Die Kritik der Politischen Ökonomie ist nichts anderes als die Analyse der Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise mit den Werkzeugen des historischen und dialektischen Materialismus. Indem sie die Bedingungen untersucht, unter denen der Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat entsteht, sich entwickelt und zuspitzt, ist sie zugleich auch Voraussetzung und Bestandteil der wissenschaftlichen Lehre vom Klassenkampf und der sozialistischen Revolution. Der Wissenschaftliche Sozialismus ist ja gerade deshalb wissenschaftlich und kein utopischer Sozialismus mehr, weil er die gesetzmäßigen Entwicklungen des Kapitalismus, die den Übergang zur sozialistischen Gesellschaft ermöglichen, zur Grundlage der Analyse macht. Daher nimmt die ökonomische Theorie eine zentrale Stellung im Gesamtwerk von Marx ein. „Das Kapital“ (Marx-Engels-Werke Band 23-25) ist das dreibändige Hauptwerk von Marx, wobei auch seine früheren Ausarbeitungen zur Politischen Ökonomie, wie vor allem die „Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie“ (MEW 42) ebenfalls relevant sind. Hinzu kommen außerdem noch die drei Bände „Theorien über den Mehrwert“ (MEW 26.1-3) und weitere Schriften. Als Einstieg in die Kritik der Politischen Ökonomie eignen sich kurze Schriften von Marx wie „Lohn, Preis und Profit“ und „Lohnarbeit und Kapital“.
Marx beschäftigte sich fast vier Jahrzehnte seines Lebens mit dem Thema. Allein das zeigt, dass die ökonomische Theorie aus seiner Sicht eine Grundsäule seines Gesamtwerks darstellt. Kommunistische Politik ohne diese Grundlage ist schlicht nicht möglich.
Arbeitsfragen:
- Was erforscht die Wissenschaft der Politischen Ökonomie?
- Worin besteht der Unterschied der klassischen Politischen Ökonomie, der Vulgärökonomie und der Kritik der Politischen Ökonomie?
4.1 Die Methode der Kritik der Politischen Ökonomie
Engels schreibt im Vorwort zum 2. Band des „Kapital“: „Die einen – die klassischen bürgerlichen Ökonomen – untersuchten höchstens das Größenverhältnis, worin das Arbeitsprodukt verteilt wird zwischen dem Arbeiter und dem Besitzer der Produktionsmittel. Die anderen – die Sozialisten – fanden diese Verteilung ungerecht und suchten nach utopischen Mitteln, die Ungerechtigkeit zu beseitigen. Beide blieben befangen in den ökonomischen Kategorien, wie sie sie vorgefunden hatten.“ (Marx: Das Kapital, Band II, MEW 24, 16f.). Marx geht hingegen mit seiner kritischen, dialektischen Methode an die Analyse der Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise: Er interessiert sich nicht nur dafür, wie z.B. die Preise gebildet werden und wie der Reichtum sich auf die verschiedenen Klassen verteilt, sondern fragt nach den Entwicklungstendenzen des Kapitalismus und wie dieser letztlich seinen eigenen Untergang hervorbringt. Weil die kapitalistische Produktionsweise zwangsläufig unerträgliche Widersprüche hervorbringt, weil sie mit dem Reichtum auch das Elend der Massen, die Krise und Zerstörung produziert, weil sie letztlich mit ihrem Untergang schwanger geht, ist die Untersuchung der kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten gleichbedeutend mit der Kritik des Kapitalismus.
Das Ziel des Marxschen „Kapital“ besteht darin, „das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen“ (Marx: Das Kapital, Band I, MEW 23, 15f). In dem Begriff „Bewegungsgesetz“ steckt bereits, dass es nicht um die Analyse eines gleichbleibenden Zustands geht, sondern um eine Gesellschaft, die sich nach bestimmten Gesetzen weiterentwickelt. Marx betont deshalb, „daß die jetzige Gesellschaft kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus ist“ (ebenda, S. 16). Daraus ergibt sich, dass die kapitalistische Produktionsweise verschiedene Stadien und Stufen der Entwicklung kennt. Marx entwickelte seine Theorie natürlich auf der Grundlage der Analyse des Kapitalismus seiner Zeit. Wie wir später sehen werden, kann man diese Phase des Kapitalismus als Kapitalismus der freien Konkurrenz bezeichnen. Marx konnte also die Besonderheiten des Monopolkapitalismus, der sich erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts herausbildete und unter dessen Herrschaft wir auch heute noch leben, nicht untersuchen, auch wenn er bereits die Gesetzmäßigkeiten erkannte, die zur Bildung von Monopolen führen mussten – die Konzentration und die Zentralisation des Kapitals. Trotzdem analysierte Marx nicht einfach nur eine bestimmte Entwicklungsphase des Kapitalismus, sondern die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise als solcher, die so lange Gültigkeit haben, bis der Kapitalismus endgültig auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet sein wird.
Marx erklärt, dass dabei die Forschungsmethode umgekehrt zur Darstellungsweise steht: „Allerdings muß sich die Darstellungsweise formell von der Forschungsweise unterscheiden. Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und deren innres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden.“ (ebenda, S. 27).
Das heißt also, dass die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise sich zuerst den Kapitalismus konkret, das heißt die Entwicklung seiner verschiedenen Erscheinungsformen ansehen muss: Marx begann seine Untersuchung, indem er sich z.B. detailliert mit dem englischen Fabriksystem, den Bewegungen der Preise auf dem Markt, der Entstehung der Bourgeoisie und des Proletariats, den Krisen seiner Zeit usw. usf. beschäftigte. Daraus bildete er theoretische Begriffe: z.B. den Begriff Kapital, den Begriff des Profits usw. Diese führte er dann wiederum auf grundlegendere Formen zurück: Das Kapital entstand aus dem Mehrwert, der Mehrwert aus dem Wert usw. Schließlich kam er zur Ware und dem Widerspruch zwischen Gebrauchswert und Wert als grundlegendster Form, aus der die kapitalistische Produktionsweise sich entwickelt. In den folgenden Unterkapiteln sollte besser verständlich werden, wie das gemeint ist. An dieser Stelle reicht es, festzuhalten, dass die Forschungsweise von Marx vom Konkreten zum Abstrakten fortschreitet.
Umgekehrt ist aber die Darstellung der Forschungsergebnisse: Hier geht Marx von den grundlegenden Grundstrukturen der kapitalistischen Produktionsweise aus und entwickelt daraus die immer komplexeren Formen, bis er schließlich zu konkreten Erscheinungen wie der Bewegung der Marktpreise und Profitraten, dem Kreditsystem usw. kommt.
Darin drückt sich eine grundsätzliche Vorgehensweise aus: Während die Forschung zunächst vom vorhandenen Material ausgehen und dieses analysieren muss, soll die Darstellung verständlich machen, welche fundamentalen Gesetzmäßigkeiten unter der sichtbaren Oberfläche wirken. Wie jeden Gegenstand kann man auch die kapitalistische Produktionsweise nur als einheitliches Ganzes betrachten. Es ist z.B. nicht möglich, nur das Kreditwesen zu analysieren, ohne seine Entstehung aus dem Warentausch, dem Geld, dem Kapital usw. mitzudenken. Die Einheit der Gesellschaft beruht aber gerade darauf, dass alle gesellschaftlichen Verhältnisse denselben grundlegenden Gesetzmäßigkeiten unterliegen. Es ist deshalb unerlässlich, mit diesen grundlegenden Gesetzen zu beginnen, um dann zu zeigen, wie sie in die Herausbildung und Entwicklung der konkreten kapitalistischen Gesellschaften münden.
Das bedeutet auch, dass nicht nur die Analyse dialektisch vorgeht, indem sie aufzeigt, wie sich die konkreten Begriffe aus den abstrakten entwickeln. Sondern die Analyse berücksichtigt den dialektischen Entwicklungsgedanken deshalb, weil sie lediglich die begriffliche Widerspiegelung des realen Entwicklungszusammenhangs der kapitalistischen Produktionsweise ist. Einige bürgerliche Marx-Spezialisten wie z.B. Michael Heinrich, dessen Bücher viel gelesen werden, stellen die gegenteilige These auf. Heinrich behauptet, dass Marx in Wirklichkeit eine rein logische Begriffsanalyse vorgenommen hätte. Marx hätte die kapitalistische Produktionsweise lediglich „in ihrem idealen Durchschnitt“ analysiert, nicht aber in ihrer historischen Entwicklung. Die Kritik der Politischen Ökonomie sei also nur ein logisches Begriffsgebäude, bei dem ein Begriff aus dem anderen folgt. Das ist allerdings eine vollkommen falsche, idealistische Herangehensweise. Denn hätte Marx in seiner Theorie einfach nur abstrakte Begriffe gebildet, deren Zusammenhang rein logischer Natur ist und keine reale Entwicklung abbildet, dann wäre seine Theorie auch zur Analyse des Kapitalismus wenig brauchbar geworden. Er hätte ein theoretisches System geschaffen, das eine reine Kopfgeburt ist, gerade so wie die mathematischen Modelle der heutigen neoklassischen Ökonomen, die mit der realen Entwicklung der Ökonomie nichts zu tun haben. Marx und Engels waren in dieser Frage auch entschieden anderer Meinung: Die logische Behandlungsweise der Begriffe des Kapitals, so schreibt Engels, sei „in der Tat nichts andres als die historische, nur entkleidet der historischen Form und der störenden Zufälligkeiten. Womit diese Geschichte anfängt, damit muss der Gedankengang ebenfalls anfangen, und sein weiterer Fortgang wird nichts sein als das Spiegelbild, in abstrakter und theoretisch konsequenter Form, des historischen Verlaufs; ein korrigiertes Spiegelbild, aber korrigiert nach Gesetzen, die der wirkliche geschichtliche Verlauf selbst an die Hand gibt“ (Engels: Karl Marx: ‚Zur Kritik der Politischen Ökonomie‘, MEW 13, S. 475).
Der abstrakteste, allgemeinste Ausdruck des Kapitalismus, mit dem Marx die Darstellung seiner Theorie beginnt, ist die Ware. Die Ware ist für Marx die Keimzelle der kapitalistischen Produktionsweise, oder ihr „elementarisches Dasein“, wie er sich ausdrückt. So wie sich aus einem Keim eine ausgewachsene Pflanze mit Ästen, Blättern, Früchten usw. entwickeln kann, so entwickelt sich aus der Ware das gesamte System der kapitalistischen Produktion und des Austauschs. Auch die Darstellung der Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise geht daher so vor, dass sie bei der Ware beginnt.
Marx hat hier also ein ganz anderes Vorgehen als die heutigen bürgerlichen Ökonomen, die an der Universität gelehrt werden: Diese Ökonomen nehmen in der Regel das Individuum als Ausgangspunkt ihrer Analyse und schreiben dem Individuum bestimmte Verhaltensweisen zu (z.B. Egoismus, Nutzenmaximierung usw.). Das ist aber ein unwissenschaftliches Herangehen, denn das herrschende System, die Produktionsweise ergibt sich nicht einfach aus der Summe der Handlungen der Individuen – sondern umgekehrt folgen die Handlungen der Individuen gerade den Gesetzmäßigkeiten der vorherrschenden Produktionsweise, die schon vor ihnen und unabhängig von den einzelnen Individuen existieren und wirken.
Arbeitsfragen:
- Was unterscheidet Marx von den heutigen bürgerlichen Ökonomen im Bezug auf die Analyse der Produktionsweise?
- Was ist damit gemeint, dass Forschungs- und Darstellungsweise bei Marx umgekehrt vorgehen?
4.2 Ware und Geld
Die Warenproduktion gibt es schon länger als den Kapitalismus, also auch in vorkapitalistischen Gesellschaften. Der Zerfall der Feudalordnung durch die Ausbreitung der Warenproduktion schuf die Grundlage für die Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise. Im Feudalismus nahm mit dem Wachstum der Produktivkräfte die Masse der Güter, die nicht für den unmittelbaren Gebrauch produziert, sondern auf dem Markt gehandelt wurden, immer weiter zu. Unter den Handwerkern und kleinen Händlern wuchsen nun die sozialen Unterschiede: Während einige von ihnen immer reicher wurden, konnten andere von ihrer Hände Arbeit immer schlechter leben und mussten schließlich ihr Eigentum an den Produktionsmitteln aufgeben. Auf der anderen Seite entstanden kapitalistische Betriebe, die Lohnarbeiter einstellten: Die sogenannten Manufakturen. Diese neue Produktionsweise stand aber im Widerspruch zu der noch geltenden Rechtsordnung des Feudalismus: Der Adel genoss Privilegien gegenüber der neu entstehenden Klasse reicher Kaufleute und Fabrikanten, die Zunftordnung beschränkte die Konkurrenz untereinander und die Leibeigenschaft hinderte die Bauern daran, in die Städte zu ziehen, um kapitalistische Lohnarbeiter zu werden. Das alte politische System war mit der neuen ökonomischen Basis der Gesellschaft unvereinbar geworden. Es musste abgeschafft werden, damit der Kapitalismus sich entfalten konnte und es wurde abgeschafft.
4.2.1 Wert der Ware
Waren haben laut Marx einen Doppelcharakter. Sie sind einerseits Objekte mit bestimmten physischen Eigenschaften, die sie für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse nutzbar machen. Z.B. eignet sich ein Apfel so gut zum Essen, weil er Vitamine beinhaltet und gut schmeckt; Öl eignet sich zum Heizen, weil es in wenig Volumen viel Energie speichert usw. Solche nützlichen Dinge, die Bedürfnisse befriedigen können, nennt Marx Gebrauchswerte. In der kapitalistischen Gesellschaft werden Gebrauchswerte aber selten für den Eigenkonsum produziert und auch nicht, um verschenkt oder sonst irgendwie einfach verteilt zu werden.
Während sich früher noch viele Familien durch ihre Bauernhöfe und ihr Land selbst ernähren konnten, sind heute in den Industrieländern fast alle Menschen darauf angewiesen, sämtliche Mittel ihres Bedarfs zu kaufen. Die Gebrauchswerte nehmen dadurch Warenform an, womit sie eine zweite Seite erhalten: einen Tauschwert. Der Tauschwert einer Ware bezeichnet das Mengenverhältnis „worin sich Gebrauchswerte einer Art gegen Gebrauchswerte anderer Art austauschen, ein Verhältnis, das beständig mit Zeit und Ort wechselt“ (Marx: Das Kapital, Band I, MEW 23, S. 50). Obwohl dieses Verhältnis wechselt, ist es doch über kürzere Zeiträume und innerhalb einer Gesellschaft mit entwickelten Tauschbeziehungen mehr oder weniger auf einem bestimmten Niveau konstant. Ein Bauer, der sich einbildet, sein Getreide morgen für das Zehnfache verkaufen zu können, wird schnell merken, dass er zu solchen Preisen vermutlich gar nichts mehr verkaufen kann. Die Tauschverhältnisse sind also weder zufällig noch vom Willen Einzelner abhängig. Aber wie kommt dieses bestimmte Niveau, auf dem Güter einer Art gegen Güter einer anderen Art typischerweise getauscht werden (z.B. 3 kg Äpfel gegen 2 kg Baumwolle), eigentlich zustande? Offensichtlich gibt es ja niemanden, der diese Austauschverhältnisse einfach beliebig festsetzt.
Häufig hört man, die Antwort sei im Verhältnis von Angebot und Nachfrage zu finden. Das erklärt aber in Wirklichkeit nicht sehr viel. Denn wenn Angebot und Nachfrage sich verändern, schwanken zwar die Verhältnisse etwas (bei einem Mangel an Äpfeln bekommt man beispielsweise dann eine größere Menge Baumwolle für dieselbe Menge Äpfel), aber was ist, wenn Angebot und Nachfrage genau ausgeglichen sind? Warum kostet dann 1 kg Baumwolle beispielsweise so viel wie 1,5 kg Äpfel? Wenn man nur Angebot und Nachfrage als Erklärung heranzieht, gibt es keinen logischen Grund, warum man dafür nicht auch 1000 kg Äpfel oder auch 1000 kg Gold bekommen sollte.
Die Erklärung muss also woanders liegen. Die getauschten Güter müssen trotz ihrer verschiedenen physischen Eigenschaften eine gemeinsame Eigenschaft besitzen, die sie vergleichbar und damit tauschbar macht. Genau genommen sind sie ja sogar erst wegen ihrer unterschiedlichen physischen Eigenschaften tauschbar, denn Äpfel gegen gleiche Äpfel zu tauschen, wäre völlig sinnlose Zeitverschwendung. Diese gemeinsame Eigenschaft der Waren kann nicht in physischen Eigenschaften wie Masse, Volumen, Farbe etc. bestehen. Z.B. ist ein Smaragd nicht deshalb wertvoll, weil er grün ist, denn auch Gras ist grün.
Die gemeinsame Eigenschaft ist ihr Wert. Der Wertder Waren besteht darin, dass sie Arbeitsprodukte sind, die für den Tausch produziert wurden. Der Wert der Waren ist, im Gegensatz zum Gebrauchswert, als Größe messbar und zwar durch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit zur Produktion der Ware. Ein Schiff ist deswegen so viel teurer als eine Flasche Orangensaft, weil man viel mehr Arbeitszeit braucht, um ein Schiff zu bauen. Was zählt, ist hierbei nicht die individuelle Arbeitszeit, sondern wie gesagt die gesellschaftlich notwendige: Ein Tisch wird nicht dadurch mehr wert, dass der Tischler besonders ungeschickt ist und doppelt so lange braucht wie alle anderen. Die Preise sind ja für eine und dieselbe Warenart dieselben, denn niemand kauft einen Tisch, wenn er den gleichen Tisch beim benachbarten Händler für den halben Preis bekommt. Gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist die Arbeitszeit, die für die Produktion einer bestimmten Warensorte mit durchschnittlicher Technik, durchschnittlich ununterbrochener Rohstoffzufuhr, durchschnittlichem Geschick des Arbeiters usw. benötigt wird. Wert gibt es in Gesellschaften, in denen Privatpersonen unabhängig voneinander (das heißt, nicht unter einem gemeinsamen zentralen Wirtschaftsplan) produzieren und ihre Produkte auf dem Markt gegeneinander tauschen. Der Wert ist also letztendlich nichts anderes als eine Befähigung dazu, durch Tausch auf Reichtum zuzugreifen, der von anderen Menschen produziert wurde.
Der Wert ist außerdem nicht dasselbe wie der Tauschwert. Der Tauschwert ist nur Ausdrucksform des Werts. Dass eine Ware einen bestimmten Tauschwert hat (z.B. 1 kg Baumwolle entspricht 1,5 kg Äpfeln), liegt eben daran, dass sie einen bestimmten Wert hat (z.B. 1 kg Baumwolle entspricht 20 Minuten gesellschaftlich durchschnittlich notwendiger Arbeitszeit). Der Wert einer Ware entspricht also immer der gesellschaftlich durchschnittlich notwendigen Arbeitszeit, während sich der Tauschwert einer Ware immer im Bezug zu einer anderen Ware bestimmt.
Zwischen dem Wert und dem Gebrauchswert der Waren besteht ein dialektischer Widerspruch: Wert und Gebrauchswert sind einerseits Gegensätze. Der Gebrauchswert beschreibt die konkreten, stofflichen Eigenschaften der Ware: Als Gebrauchswert ist die Ware beispielsweise ein Liter Öl mit einem bestimmten Brennwert, oder eine Kuh, die Milch gibt. Der Wert sieht hingegen gerade von diesen konkreten Eigenschaften ab und reduziert alle Waren auf einen abstrakten Maßstab, die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit: Sehen wir uns den Wert der Ware an, dann ist es irrelevant, ob die Ware nun Öl oder Kuh oder etwas ganz anderes ist. Für den Wert zählt nur, dass sie eine bestimmte Menge gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit darstellt. Es ist also genau umgekehrt wie beim Gebrauchswert. Auch im Austauschprozess stellen Wert und Gebrauchswert einander ausschließende Gegensätze dar: Wird eine Ware verkauft, verzichtet der Verkäufer auf die Realisierung ihres Gebrauchswerts, um den Wert in Geldform zu erhalten. Der Käufer bekommt umgekehrt die Möglichkeit, den Gebrauchswert zu konsumieren – allerdings erst, nachdem er seinem Handelspartner den Wert der Ware in Geldform überlassen hat. Jeder von beiden gibt also etwas, um etwas anderes zu erhalten, Wert gegen Gebrauchswert. Gleichzeitig stellen die beiden Seiten aber in der Ware eine Einheit dar: Den Wert gibt es nicht ohne Gebrauchswert, denn eine Ware ohne Gebrauchswert, die für niemanden einen Nutzen hat, wird auch niemand kaufen, sie kann also auf dem Markt nicht getauscht werden.
Wie kommt Marx nun aber darauf, dass ausgerechnet die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit den Wert der Waren ausmachen soll?
Auf diese Erkenntnis ist Marx nicht alleine gekommen. Schon die großen bürgerlichen Ökonomen Adam Smith und David Ricardo vertraten eine sogenannte Arbeitswerttheorie, das heißt sie gingen ebenfalls davon aus, dass der Warenwert durch die durchschnittlich erforderliche Arbeitszeit zustande kommt. Adam Smith liefert in seinem Buch „Der Wohlstand der Nationen“ auch eine anschauliche Erklärung dafür: Er wählt das Beispiel eines Jägervolks, dessen einer Teil sich auf das Jagen von Bibern spezialisiert hat, während ein anderer Teil Rehe jagt. Wenn die Jagd eines Bibers durchschnittlich doppelt so viel Arbeitszeit kostet wie die eines Rehs, muss nach der Arbeitswerttheorie ein Biber so viel Wert sein wie zwei Rehe. Nach diesem Gesetz würden sich auf dem Markt die Jäger beider Tiere richten müssen, ob sie es wollen oder nicht. Denn würden beispielsweise einige Jäger der Rehe aus irgendeinem Grund nur noch ein Reh gegen einen Biber tauschen, dann wäre die Jagd auf Biber nicht mehr lohnend und viele Biber-Jäger würden auf die Jagd von Rehen umsteigen. Dadurch würde ein Überangebot an Rehen entstehen und ihr Austauschverhältnis zu den Bibern würde wieder sinken. Umgekehrt wäre es auf Dauer genauso unmöglich, für einen Biber drei Rehe zu verlangen, da dadurch die Reh-Jäger zu Biber-Jägern würden und der Umtauschkurs sich zugunsten der Rehe wieder ändern würde. Dieses extrem vereinfachende Beispiel trifft auf die heutige Realität natürlich nur bedingt zu: Es gibt mehrere Faktoren, die verhindern, dass der Wert so unmittelbar die Austauschverhältnisse bestimmt.
Denn in Wirklichkeit trifft der freie Fluss der Arbeitskräfte und des Kapitals zwischen den Produktionszweigen auf viele Hindernisse – beispielsweise kann ein Bäcker nicht einfach, nur weil die Brotpreise sinken, stattdessen plötzlich Aluminium oder Werkzeugmaschinen produzieren. Smiths Beispiel geht von einer Wirtschaft einfacher Produzenten aus, die kein großes Kapital in ihre Produktion investiert haben. Trotzdem erklärt es den grundlegenden Mechanismus, der auf einem kapitalistischen Markt wirkt: Das Wertgesetz. Smiths Beispiel macht verständlich, dass das Wertgesetz der Mechanismus ist, der durch die Regulierung der Austauschbeziehungen die Arbeit im Kapitalismus auf die verschiedenen Produktionszweige verteilt; und dass die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit zwar nicht unmittelbar, aber in letzter Instanz die Tauschverhältnisse bestimmt. Die verschiedenen Faktoren, die verhindern, dass das Wertgesetz unmittelbar die Tauschwerte bestimmt (dass also die Waren immer genau in dem Maße getauscht würden, wie es der darin verkörperten gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit entspricht), müssen auf Grundlage des Wertgesetzes erklärbar sein. Dazu werden wir später noch kommen. Aber gleichzeitig muss das Gesetz, das diesen Faktoren zugrunde liegt, den Ausgangspunkt der Analyse bilden, wenn man nicht bei der Beschreibung bloßer Oberflächenphänomene verbleiben will.
Die Erkenntnis von Smith und Ricardo, dass allein die menschliche Arbeit den Wert schafft, haben die heutigen bürgerlichen Ökonomen wieder „vergessen“. Stattdessen sprechen sie einfach darüber, dass bei der Produktion des Wertes drei sogenannte „Produktionsfaktoren“ mitwirken würden, nämlich neben der Arbeit auch das Kapital und der Boden. Diese Auffassung ist jedoch bereits sehr alt. Marx machte sich darüber lustig: Diese angeblichen Quellen des Reichtums, so schreibt er, „gehören ganz disparaten Sphären an und haben nicht die geringste Analogie untereinander. Sie verhalten sich gegenseitig etwa wie Notariatsgebühren, rote Rüben und Musik.“ (Marx: Das Kapital, Band III, MEW 25, S. 822). Der Grund, warum tatsächlich nur die Arbeit, nicht aber Kapital und Boden den Wert schaffen können, liegt darin, dass die Arbeit sowohl die Grundlage für das Leben und Überleben der Menschen ist, als auch die Grundlage, auf der alle gesellschaftlichen Beziehungen beruhen. Nur durch die Arbeit entstehen aus naturbelassenen Dingen Gegenstände, die für den Menschen nützlich sind. In einer warenproduzierenden Gesellschaft treffen die Menschen dann auf dem Markt aufeinander, um die Produkte ihrer Arbeit gegeneinander auszutauschen. Wie wir weiter oben bereits gesehen haben, lassen die Waren sich nicht anhand ihrer konkreten Gebrauchswerteigenschaften vergleichen. Ist der Geschmack des Apfels mehr oder weniger wert als die Festigkeit des Ziegelsteins? Diese Frage ist komplett unsinnig und lässt sich nicht beantworten. Der Vergleichsmaßstab der Waren kann nur die darin steckende gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeitszeit sein.
Das Wertgesetz ist also der grundlegende Mechanismus zur Regulierung der Austauschbeziehungen in allen Gesellschaften, in denen die kapitalistische Produktionsweise vorherrscht. Auch in vorkapitalistischen Gesellschaften gab es Warentausch, somit wirkte auch in diesen Gesellschaften das Wertgesetz schon innerhalb gewisser Grenzen. Erst in der kapitalistischen Produktionsweise wird er aber wirklich verallgemeinert, auf einen Großteil der gesellschaftlichen Beziehungen ausgeweitet und überhaupt der vorherrschende Regulierungsmechanismus, der den Austausch von Gütern und die Verteilung der Arbeitskraft auf die verschiedenen Produktionszweige regelt.
Der Doppelcharakter der Ware, ihre Eigenschaft, sowohl Gebrauchswert zu sein, als auch einen Wert zu haben, bedeutet, dass auch die Arbeit in einer warenproduzierenden Gesellschaft einen solchen Doppelcharakter annimmt. Sie ist nicht mehr nur konkrete Arbeit, also eine Arbeit, die ganz bestimmte Arbeitsvorgänge an einem bestimmten Gegenstand beinhaltet, um einen bestimmten, konkreten Gebrauchswert zu erzeugen. Diesen Charakter hat grundsätzlich jede Arbeit, egal in welcher Gesellschaft. Aber wenn die Arbeit Waren produziert, hat sie gleichzeitig auch den Charakter einer „abstrakten Arbeit“. Als abstrakte Arbeit zählt nicht mehr die konkrete Tätigkeit, sondern nur noch die Arbeitszeit selbst, also das Maß an gesellschaftlich durchschnittlich notwendiger Arbeitszeit, das geleistet wird. Denn nur diese abstrakte, von allen konkreten Eigenschaften absehende Arbeitszeit ist es, die den Wert ausmacht und beim Warentausch auf dem Markt überhaupt zählt.
4.2.2 Die Wertform
Wir haben also gesehen, wie der Wert im Austausch die Gleichsetzung von völlig unterschiedlichen Waren ermöglicht: Z.B. 1 kg Baumwolle entspricht 1,5 kg Äpfeln. Nun kann man diese Waren aber gegen andere weitertauschen. Beispielsweise 1,5 kg Äpfel gegen 3 kg Weizen, 3 kg Weizen gegen 25 Kugelschreiber, 25 Kugelschreiber gegen eine Mütze usw.
Dies bedeutet aber auch, dass jede dieser Waren als Gegenwert einer der anderen Waren dargestellt werden kann. Zum Beispiel: 1,5 kg Äpfel, 3 kg Weizen, 25 Kugelschreiber, eine Mütze, all diese Waren lassen sich jeweils als der Gegenwert von 1 kg Baumwolle darstellen. In diesem Fall kann spricht Marx davon, dass das 1 kg Baumwolle die allgemeine Äquivalentform der anderen Warenmengen ist.
Sobald sich in der historischen Entwicklung eine bestimmte Ware herauskristallisiert, die im Austauschprozess immer diese Rolle des allgemeinen Äquivalents spielt, kann man von der Geldform sprechen. In der Geschichte spielten verschiedene Waren die Rolle einer Geldware, die als Tauschmittel benutzt wurde, um andere Waren zu erhalten. Beispielsweise bestimmte Muscheln, Vieh oder Getreide. Mit der Zeit setzten sich aber Metalle als übliche Geldware durch, vor allem Kupfer, Silber und Gold. Die Edelmetalle waren durch ihre materiellen Eigenschaften dafür besonders geeignet: Sie sind nicht verderblich, transportierbar, leicht aufzuteilen und durch den hohen Aufwand bei ihrer Produktion konzentrieren sie einen vergleichsweise hohen Wert in einer geringen Masse.
Die Geldform stellt sich also so dar: 1 kg Baumwolle, 1,5 kg Äpfel, 3 kg Weizen, 25 Kugelschreiber, eine Mütze – all diese Waren entsprechen z.B. 1 g Gold, wobei Gold die allgemein anerkannte Geldware ist. Geld ist also allgemeines Äquivalent der Waren, es wird permanent gegen alle Waren getauscht.
4.2.3 Die Funktionen des Geldes
Das Geld hat im Kapitalismus unterschiedliche Funktionen: Es fungiert als Tauschmittel und als Maß der Werte wie im obigen Beispiel. Es kann auch als Wertaufbewahrungsmittel fungieren, wenn ich mir eine bestimmte Wertsumme für die Zukunft aufheben will. Es fungiert auch als Zahlungsmittel: Nehmen wir einen Tischler an, der eine Ladung Holz benötigt, allerdings gerade im Moment das benötigte Geld nicht auf Lager hat. Er stellt dann dem Holzhändler ein Zahlungsversprechen (einen sogenannten Wechsel) für die Zukunft aus, um das Holz dennoch zu bekommen. Sobald er genug Möbel verkauft hat, zahlt er seine Schulden zurück. Das Geld fungiert dann als Zahlungsmittel. Diese Möglichkeit, dass der Kaufakt und der Zahlungsakt nicht in einem Augenblick zusammenfallen, ist bedeutsam für die Entstehung des Kreditsystems und die Verstärkung von Krisen, wie wir später sehen werden. Im Kapitalismus hat das Geld zudem potenziell die Funktion, als Kapital fungieren zu können, wie sich im nächsten Kapitel zeigen wird.
Die bürgerlichen Vulgärökonomen der vorherrschenden „neoklassischen“ Schule stellen das Geld als eine Erfindung dar, die einfach gemacht wurde, um den Warenaustausch zu erleichtern, da es in ihren Marktmodellen keine eigenständige Rolle spielt. In der „Neoklassik“ hat das Geld daher nur die Funktionen als Tausch- und Zahlungsmittel sowie Recheneinheit für den Warentausch. Der Marxismus geht hingegen davon aus, dass das Geld gesetzmäßig mit der Warenwirtschaft entsteht, weil der Fortschritt der Produktivkräfte und die Entstehung immer umfassender und komplexer werdender Austauschverhältnisse notwendigerweise ein allgemeines Wertmaß sowie die Möglichkeit zur Wertaufbewahrung, zum Ausstellen von Schuldscheinen usw. erforderlich machen. Das Geld ist zudem auch die Grundlage der Entstehung von Krisen: Es fungiert auch als Wertaufbewahrungsmittel, was so viel bedeutet, wie dass es zeitweilig aus dem Wirtschaftskreislauf herausfällt und angespart wird. In diesen Zeiträumen, wo es eben nur Wert aufbewahrt und nicht zum Kauf neuer Waren verwendet wird, bildet es keine Nachfrage, wodurch es passieren kann, dass nicht genug Nachfrage vorhanden ist, um die angebotenen Waren zu kaufen. Gäbe es kein Geld, würden also die Waren einfach direkt gegeneinander getauscht, würde ein solches Ungleichgewicht, dass auf der einen Seite enorme Geldvermögen entstehen, auf der anderen Seite dagegen riesige unverkaufte Warenmassen sich anhäufen, gar nicht entstehen. Es zeigt sich damit, dass das Geld eben kein neutrales „Schmiermittel“ für die Wirtschaft ist, sondern die Möglichkeit von Überproduktionskrisen schafft.
. Dass gerade die prokapitalistischen Vulgärökonomen der heutigen Zeit dem Geld nur geringe Aufmerksamkeit widmen, erscheint paradox, da im modernen Kapitalismus große Teile der Wirtschaft auf den Handel mit und Verleih von Geld spezialisiert sind. Diese Sparten des Kapitals sind eben keine mehr oder weniger zufälligen Erscheinungen, sondern notwendige Entwicklungsstufen und -produkte des Kapitalismus in seinem heutigen Stadium. Doch dazu später mehr.
Wenn also jede Ware auf dem Markt gegen Geld gehandelt wird, bedeutet das, dass ihr Tauschwert in der Form des Geldes ausgedrückt wird. Mit anderen Worten: Jede Ware hat einen Preis. Und da der Tauschwert letzten Endes vom Wert der Ware bestimmt ist, werden auch die Preise vom Wertgesetz geregelt.
Marx ging davon aus, dass das Geld an eine bestimmte Ware gebunden ist, die einen eigenen Wert hat und dadurch in der Lage ist, seine Rolle als allgemeines Warenäquivalent zu spielen. Heutzutage gehen wir allerdings nicht mehr mit Gold- oder Silbermünzen einkaufen, sondern mit Scheinen und Münzen, die an sich nahezu wertlos sind. Zu Zeiten von Marx (und auch schon lange davor) gab es bereits das Papiergeld, allerdings stellte dieses Geld einen Anspruch auf Gold dar, den man einlösen konnte. Das heutige Geld entsteht durch Kredite der Banken entweder auf Bankkonten (Buchgeld) oder als Bargeld. Grundsätzlich liegt das Monopol der Geldschöpfung bei der Zentralbank. Heutzutage funktioniert das aber so, dass die Zentralbanken das Geld über die Geschäftsbanken schöpfen lassen: Die Zentralbank garantiert, dass die Geschäftsbanken immer liquide, also zahlungsfähig bleiben. Dadurch können die Geschäftsbanken nicht nur die Summe als Kredit vergeben, die sie zuvor als Kundeneinlagen erhalten haben, sondern können weit darüber hinaus Kredit schöpfen und damit Geld in den Wirtschaftskreislauf werfen.
Auch wenn es keinen eigenen Wert hat, wird dieses Geld als Geld akzeptiert, solange der kapitalistische Staat glaubwürdig garantieren kann, dass der Tauschprozess weiterhin von statten gehen wird, dass man also auch in Zukunft davon ausgehen kann, für sein Geld Waren kaufen zu können, obwohl das Geld eigentlich ja gar keinen eigenen Wert hat.
Heute kann man zwar mit Geld auch weiterhin Gold kaufen, so wie jede andere Ware auch, aber es gibt keinen festen Umtauschkurs mehr. Manche marxistische Ökonomen vertreten die Ansicht, dass dennoch aufgrund der besonderen Rolle des Goldes, beispielsweise als Wertaufbewahrungsmittel, das Gold faktisch immer noch Geldware ist. Diese Frage kann hier aus Platzgründen aber nicht diskutiert werden.
4.2.4 Fetischcharakter der Ware
Ein weiteres Thema soll in diesem Unterkapitel behandelt werden, dem Marx einige Aufmerksamkeit widmet: Der Fetischcharakter der Ware.
Die Waren sind, wie gezeigt wurde, nicht nur Gebrauchswerte, sondern haben auch einen Wert. Das bedeutet nichts anderes, als dass die Ware nicht mehr einfach nur ein Verhältnis zwischen Menschen und Gebrauchsgegenständen ist – etwa das Verhältnis, das jemand zu seinen selbst gezüchteten Tomaten hat, die für ihn einfach nur konsumierbare nützliche Gegenstände sind. Im Wert drückt sich dagegen immer eine gesellschaftliche Beziehung aus: Kaufen wir die Tomaten auf dem Markt gegen Geld, treten wir damit in eine gesellschaftliche Beziehung zu einer anderen Person oder einem Unternehmen, eine Tauschbeziehung zwischen zwei Privateigentümern.
Die Warenbewegungen, die in der Gesellschaft nun milliardenfach stattfinden, stehen aber unter keiner Kontrolle, weder durch die Gesellschaft oder durch ein besonders mächtiges Individuum. Das Verhältnis, zu dem sich eine Ware gegen eine andere tauschen lässt, also die Preise der Waren, werden im Kapitalismus nicht festgesetzt, sondern durch das Wertgesetz bestimmt. Wer seinen Lebensunterhalt durch Lohnarbeit verdienen muss und seine Lebensmittel auf dem Markt kaufen muss, ist diesen Bewegungen einfach ausgesetzt, ohne sie bestimmen zu können. Das bedeutet, dass der Mensch unter kapitalistischen Bedingungen die gesellschaftliche, wirtschaftliche und technische Entwicklung nicht beherrschen kann. Umgekehrt ist er gezwungen, sich nach den Gesetzen des Kapitalismus – oder wie es in der bürgerlichen Presse oft heißt, „der Märkte“ – zu verhalten. Die Menschen werden also durch die Bewegung toter Gegenstände beherrscht anstatt dass umgekehrt die Menschen sich die Dinge nutzbar machen und planmäßig anwenden, wie es in einer sozialistischen Gesellschaft der Fall wäre. So wie die Menschen in vielen alten Kulturen Götterstatuen und -bilder erschufen, die sie dann als heilig anbeteten und sich ihnen unterwarfen, so ähnlich sind sie im Kapitalismus gezwungen, sich seinen Bewegungsgesetzen zu unterwerfen: „Wie der Mensch in der Religion vom Machwerk seines eignen Kopfes, so wird er in der kapitalistischen Produktion vom Machwerk seiner eignen Hand beherrscht“ (Marx: Das Kapital, Band I, MEW 23, S. 649). Dass die Menschen der Herrschaft der Waren unterworfen sind, führt dazu, dass ihnen die gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus wie Naturgesetze und Beziehungen zwischen den Sachen selbst vorkommen. Es erscheint also so, als wären die Beziehungen, die die Individuen auf dem Markt miteinander eingehen, in Wirklichkeit einfach Beziehungen zwischen den Dingen selbst. Es ist dadurch nicht unmittelbar sichtbar, dass es sich um gesellschaftliche Beziehungen handelt, also um Beziehungen zwischen Menschen, die von Menschen auch wieder abgeschafft werden können. Dass die wahre Natur des Kapitalismus, seine grundlegenden Gesetzmäßigkeiten durch die einfache Betrachtung nicht erkennbar sind, trägt natürlich zu seiner Stabilisierung bei. Erst die wissenschaftliche Betrachtungsweise des dialektischen Materialismus enthüllt diese Gesetzmäßigkeiten, macht die grundlegende Funktionsweise der Gesellschaft erkennbar und damit auch veränderbar.
Arbeitsfragen:
- Was sind Tauschwert und Gebrauchswert? Wo ist der Unterschied zwischen Wert und Tauschwert der Ware? Wodurch ist der Wert bestimmt?
- Was ist Geld und wie hängt es mit dem Warentausch zusammen?
- Was ist der Fetischcharakter der Ware?
Diskussionsfrage:
- Ist die These von Marx plausibel, dass der Wert als gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit letzten Endes die Preise bestimmt?
4.3 Kapital, Mehrwert und Lohnarbeit
Wir haben also gesehen, dass Waren nichts anderes sind als für den Verkauf produzierte Gebrauchswerte. Der Verkauf einer Ware bringt dem Verkäufer eine bestimmte Geldsumme ein. Nun strebt man aber normalerweise nicht deshalb nach möglichst viel Geld, weil man gerne darin badet. In einer Gesellschaft, in der das Wertgesetz bereits durchgesetzt ist, wird Geld angestrebt als ein Mittel, mit dem man allgemeinen Zugriff auf den gesellschaftlichen Reichtum in all seinen Formen erhält. Es gibt kaum etwas, das von Menschen hergestellt wurde und nicht mit Geld zu kaufen ist. Der Verkauf von Waren gegen Geld ist also nur der erste Schritt; der zweite Schritt besteht in aller Regel darin, mit diesem Geld wieder andere Waren zu kaufen, mit denen dann Bedürfnisse befriedigt werden. Zum Beispiel: Ein Schuster verkauft Schuhe. Dann geht er mit dem Geld auf den Wochenmarkt und kauft Nahrung für sich und seine Familie. Das lässt sich als Formel folgendermaßen darstellen:
Ware-Geld-Ware oder kurz W-G-W. Diesen Vorgang nennt man einfache Warenzirkulation.
Ebenso möglich ist aber die Bewegung:
Geld-Ware-Geld, G-W-G.
Also der Kauf einer Ware, um sie wieder zu verkaufen. Ist das einfach nur dasselbe aus einer anderen Perspektive? Nein, denn das Ziel ist in der zweiten Formel ein grundsätzlich anderes als in der ersten. Im ersten Fall war das Ziel des ganzen Vorgangs, am Ende eine Ware zu erhalten, mit der Bedürfnisse befriedigt werden können. Im zweiten Fall steht am Ende aber keine Ware, sondern eine Geldsumme. Ergibt es irgendeinen Sinn, wenn ich eine Summe Geld ausgebe, um am Ende des ganzen Prozesses wieder mit einer Summe Geld dazustehen? Die Antwort liegt auf der Hand: Sinn ergibt das nur dann, wenn die Geldsumme am Ende des Austauschprozesses größer ist als die am Anfang. Um diesen Unterschied, diese größenmäßige Differenz auszudrücken, stellen wir das in der folgenden Formel dar:
G-W-G‘
Wobei das G‘ dafür steht, dass dem Händler am Ende eine größere Geldsumme zufließt als am Anfang. Wie können wir uns diesen Vorgang in der Realität vorstellen? Wahrscheinlich denkt man als erstes an die Möglichkeit, eine Ware zu kaufen, die man dann teurer wieder verkauft. Wenn unser Schuster seinen Beruf wechselt und stattdessen einen Schuhladen aufmachen würde, könnte er Schuhe bei den Schustern kaufen und sie für einen höheren Preis an seine Kunden verkaufen und so als Händler seinen Lebensunterhalt verdienen.
4.3.1 Mehrwert
In diesem Fall wäre aber offensichtlich kein neuer Wert entstanden. Der Händler kauft ja Gegenstände, die bereits existieren und verändert sie vor dem Verkauf nicht. Das bedeutet auch, dass es zwar möglich ist, dass bestimmte Menschen Geld dadurch verdienen, dass sie billig kaufen und teuer verkaufen – dass es aber unmöglich ist, dass die Gesellschaft insgesamt dadurch reicher wird. Denn was der eine auf diesem Wege mehr verdient, verliert der andere ja dadurch, dass er einen Preisaufschlag zahlen muss. Unternehmen beruhen aber ja gerade darauf, dass sie Profite machen. Würden diese Profite immer nur daher kommen, dass irgendjemand beim Tauschen übervorteilt oder hintergangen wird, wäre die Wirtschaft nur ein riesiger Umverteilungsprozess, bis schon nach kurzer Zeit sämtliche Reichtümer bei ein paar Händlern gelandet sind und alle anderen nichts mehr haben. Ein Blick auf die Wirklichkeit zeigt dagegen, dass es irgendwie möglich sein muss, neuen Wert zu schaffen, den sich die Unternehmen dann als Profit aneignen können.
Wo entsteht also in dem Prozess G-W-G‘ der Profit? Es gibt nur eine Möglichkeit, wie beim Tauschvorgang G – W – G ein Gewinn herausspringen kann, ohne dass es zu ungleichem Tausch kommt: Mit dem Geld vom Anfang muss eine Ware gekauft werden, die den besonderen Gebrauchswert hat, Wert zu schaffen. Erinnern wir uns daran, dass der Ursprung des Wertes, wie wir an früherer Stelle gelernt haben, allein in der menschlichen Arbeit liegt. Eine Ware, die selbst Wert schafft, kann also nur eine einzige Sache sein: Die menschliche Arbeitskraft.
Was bedeutet es, dass die Arbeitskraft eine Ware ist? Das bedeutet, dass es Menschen gibt, die anderen Menschen ihre Arbeitsfähigkeit gegen Geld zur Verfügung stellen. Oder anders gesagt: Es gibt Menschen, die für einen Lohn arbeiten gehen.
Sehen wir uns an, was jetzt passiert: Der Schuster, von dem eben die Rede war, will sein Geschäft ausweiten und einen weiteren Arbeiter einstellen. Dieser stellt nun 10 Stunden am Tag Schuhe für seinen neuen Chef her. Das Material, mit dem er arbeitet, kauft natürlich der Besitzer des Betriebs. Und die Endprodukte gehören ebenfalls dem Besitzer. Wenn er sie verkauft, gehört ihm auch der Erlös. Der Arbeiter hat für seine Arbeit dagegen nur seinen Lohn erhalten. Wovon hängt es nun ab, wie hoch dieser Lohn ist?
Wir wissen, dass der Arbeiter 10 Stunden am Tag arbeitet. Wenn wir davon ausgehen, dass der Arbeiter über eine durchschnittliche Geschicklichkeit und Ausbildungsniveau verfügt, heißt das, dass er am Tag einen Wert von zehn Stunden gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit produziert. Diesen durch die Arbeit des Arbeiters neu geschaffenen Wert nennt Marx den Neuwert. In Geld ausgedrückt könnten das z.B. 10 € pro Stunde sein, also 100 € am Tag.
Die Waren, die er produziert, sind dabei natürlich insgesamt mehr wert als dieser Neuwert von 100 €. Denn bei der Herstellung wurden ja Materialien verbraucht (z.B. Leder), die auch schon einen gewissen Wert hatten (da in ihnen ja auch schon Arbeitszeit steckt), der jetzt auf das Endprodukt übergegangen ist. Das ist aber an dieser Stelle nebensächlich, es wurde nur der Vollständigkeit halber dargestellt. Uns interessiert, wie der neu geschaffene Wert nun auf den Arbeiter und den Eigentümer des Betriebs aufgeteilt wird.
Der Besitzer des Betriebs kann nun seinem Arbeiter nicht den gesamten Neuwert von 100 € auszahlen, den er geschaffen hat. Wenn der Arbeiter 100 € neuen Wert geschaffen hat und sein Lohn ebenfalls 100 € beträgt, geht der Eigentümer leer aus, er macht keinen Gewinn. Er wird dem Arbeiter also einen Lohn zahlen, der deutlich niedriger ist als diese 100 €. Der Betriebseigentümer zahlt dem Arbeiter also nicht den Wert seines Arbeitsproduktes oder den gesamten neu geschaffenen Wert aus. Was aber bezahlt er ihm dann?
Er bezahlt nicht die produzierten Waren, sondern die Arbeitskraft des Arbeiters. Er kauft für einen bestimmten Zeitraum (in unserem Beispiel 10 Stunden) die Fähigkeit des Arbeiters, zu arbeiten. Weil damit die Arbeitskraft und auch die Rohstoffe bereits das Eigentum des Betriebseigentümers sind, ist automatisch auch das Produkt der Arbeit sein Eigentum. Wie hoch ist nun der Wert der Arbeitskraft, also der Arbeitslohn? Der Arbeiter muss ja auch in Zukunft weiterhin arbeiten können und dafür muss er von seinem Lohn seine lebensnotwendigsten Bedürfnisse befriedigen können. Zudem muss es auch in Zukunft Arbeiter geben, die für einen Lohn ihre Arbeitskraft zum Verkauf anbieten. Deshalb muss der Lohn auch ausreichen, um die Kinder des Arbeiters zu ernähren und ihnen die notwendige Ausbildung zu ermöglichen. Die Höhe des Lohns ist also bestimmt durch die Reproduktionskosten der Arbeitskraft. Was das genau bedeutet, dazu werden wir in ein paar Absätzen kommen.
Nehmen wir also z.B. an, ein Stundenlohn von 5 € würde diesen Zweck erfüllen. Dann bekommt der Arbeiter am Tag 50 € für seine Arbeit, obwohl seine Arbeit einen Wert von 100 € geschaffen hat. Die übrigen 50 € behält der Eigentümer des Handwerks als Gewinn. Diese Differenz zwischen dem neu geschaffenen Wert und dem Wert des Arbeitslohns nennt man den Mehrwert. An dieser Stelle genügt es zu sagen, dass der Profit oder Unternehmergewinn nichts anderes ist als Ausdruck dieses Mehrwerts in Geldform. Die Quelle des Mehrwerts ist die Ausbeutung. Erinnern wir uns: „Ausbeutung“ heißt nicht, dass eine Arbeit besonders unmenschlich ist, während andere Jobs angenehmer sind. Ausbeutung bezeichnet einfach die Tatsache, dass der Arbeiter für seine Arbeit weniger ausgezahlt bekommt, als er an Wert geschaffen hat.
Der Wert der gesamten Ware setzt sich jetzt so zusammen:
Wert der verarbeiteten Materialien und Rohstoffe + Wert des Arbeitslohns + Mehrwert.
4.3.2 Arbeitstag und Arbeitslohn
Der Arbeitstag des Arbeiters lässt sich auch unterteilen:
Einen Teil des Tages arbeitet der Arbeiter für sich selbst, er stellt den Wert des Arbeitslohns her, den er später bekommen wird. Einen anderen Teil des Tages arbeitet er für jemand anderen und schafft Mehrwert. Anders als im Feudalismus, wo teilweise der leibeigene Bauer eine bestimmte Anzahl Tage auf seinem eigenen Feld arbeiten durfte, dann aber einige Tage pro Monat Frondienste auf dem Acker des Herrn verrichten musste und damit die Ausbeutung klar sichtbar war, ist sie im Kapitalismus eben nicht unmittelbar ersichtlich. Denn der Arbeiter verkauft seine Arbeitskraft für den ganzen Arbeitstag. Es sieht also oberflächlich betrachtet so aus, als würde der Arbeiter für den ganzen Arbeitstag bezahlt. In Wirklichkeit arbeitet er aber nur einen Teil des Arbeitstages für sich selbst, für die Reproduktion seiner Arbeitskraft, während er einen anderen Teil des Tages über für denjenigen arbeitet, der ihn eingestellt hat. Würde der Arbeiter wirklich den ganzen Tag nur für sich arbeiten, gäbe es auch keinen Mehrwert. Die Ausbeutung ist im Kapitalismus also nicht unmittelbar sichtbar, sie muss erst durch die wissenschaftliche Analyse enthüllt werden.
Aber in beiden Fällen, im Kapitalismus wie im Feudalismus, ist die Ausbeutung deshalb überhaupt erst möglich, weil die Produktivkräfte so weit fortgeschritten sind, dass ein Mensch an einem Tag mehr produzieren kann, als er zum Überleben braucht.
Widerspricht all das nicht der Annahme, dass die Waren zu ihren Werten getauscht werden? Wurde der Arbeiter nicht um den vollen Wert seines Arbeitslohnes betrogen? Nein, nach den Gesetzen des Kapitalismus wurde er das nicht. Denn der Arbeitslohn entspricht tatsächlich dem Wert der Arbeitskraft. Der Wert einer Ware ist die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, die zu ihrer Produktion notwendig ist. So ist es auch bei der Arbeitskraft: Der Wert der Arbeitskraft, der als Lohn ausgezahlt wird, ist das, was zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendig ist. Reproduktion der Arbeitskraft bedeutet einerseits die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit, also die Ernährung des Arbeiters und seiner Familie, seine Erholung, medizinische Versorgung und was er braucht, um weiterhin als Arbeiter funktionieren zu können; andrerseits umfasst es auch die Kosten für die Ausbildung der Arbeitskraft, also Schule, Berufsausbildung usw., sofern der Arbeiter diese selbst bezahlen muss.
Was genau alles zu den Reproduktionskosten der Arbeitskraft dazugehört, ändert sich je nach Land und historischer Epoche. Gehörte für einen einfachen Fabrikarbeiter in Deutschland Mitte des 19. Jahrhunderts kaum mehr als das nackte Überleben in einem Elendsviertel dazu, umfasst die Reproduktion der Arbeitskraft heute auch die Miete für Wohnung, die Kosten für Strom und Heizung, das Benzin für das Auto, mit dem man zur Arbeit fahren muss usw. Musste der Arbeiter Mitte des 19. Jahrhunderts für seine Arbeit nicht einmal Lesen und Schreiben können musste, setzen heute viele Arbeitsverhältnisse eine längere Ausbildung oder gar ein Studium voraus, außerdem Kenntnisse mit Computern oder Fremdsprachen und einiges mehr. Marx spricht davon, dass die Wertbestimmung der Arbeitskraft anders als bei den anderen Waren ein „historisches und moralisches Element“ enthalte, denn welche Lebensbedürfnisse der Arbeiter hat, ist „selbst ein historisches Produkt und hängt daher großenteils von der Kulturstufe eines Landes, unter andrem auch wesentlich davon ab, unter welchen Bedingungen, und daher mit welchen Gewohnheiten und Lebensansprüchen die Klasse der freien Arbeiter sich gebildet hat“ (Marx: Das Kapital, Band I, MEW 23, S. 185).
Tatsächlich finden wir in der Realität viele Beispiele dafür, dass das Kapital den Lohn auch unter den Wert der Arbeitskraft drücken kann und den Arbeitern dann nicht einmal genug zum Überleben zahlt. Wenn es ein Überangebot an Arbeitskräften gibt, also Arbeitslosigkeit, bestehen für den Kapitalisten viele Möglichkeiten dazu. Aber selbst wenn die Arbeiter es schaffen, ihre Arbeitskraft zu ihrem Wert zu verkaufen, ist der Lohn eben in der Regel nur an der Arbeitsfähigkeit des Arbeiters bemessen ist, reicht aber noch lange nicht für ein gutes Leben und die Befriedigung der weitergehenden Bedürfnisse des Arbeiters. Die Lohnarbeit ist für den Arbeiter also keineswegs eine glückliche Lage, sondern im Gegenteil Ausdruck der Abhängigkeit von einem Lohn, der nicht nach den Bedürfnissen eines menschenwürdigen Lebens bemessen ist. Der Lohn ist zudem so niedrig, dass er einigermaßen zuverlässig garantiert, dass der Arbeiter nie etwas anderes sein wird als ein Arbeiter. Weil er nur das Existenzminimum abdeckt, ist es nicht möglich, so viel davon anzusparen, bis man irgendwann „ausgesorgt“ hat, oder gar ein eigenes Unternehmen gründen und dann von der Arbeit anderer leben kann.
Bevor wir zum Mehrwert und der Ausbeutung zurückkehren, lohnt es sich, über einen Aspekt gesondert nachzudenken: Dass die Arbeitskraft eine Ware ist, ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Über den größten Teil der Menschheitsgeschichte war sie das nicht oder nur in vereinzelten Fällen. Solange der allergrößte Teil der Menschheit entweder Subsistenzwirtschaft betrieben hat (d.h. Landwirtschaft, in der man für sich und seine Familie das Lebensnotwendigste produziert), oder (im Feudalismus) Leibeigene, die keineswegs die Freiheit hatten, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, war die Arbeitskraft keine Ware. Auch die Sklaverei war etwas anderes: Hier verkaufte nämlich der arbeitende Mensch nicht seine Arbeitskraft als Ware, sondern er war selbst Ware, die man kaufen oder verkaufen konnte. Damit die Arbeitskraft zur Ware wird, müssen also bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Erstens müssen bestimmte Menschen sich überhaupt erst mal veranlasst sehen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen und sich ausbeuten zu lassen. Denn solange sie durch ihre eigene Arbeit leben können, z.B. als Bauern oder Fischer, haben sie meistens keinen Grund, eine Lohnarbeit anzunehmen, bei der sie nur einen Teil ihres Arbeitsprodukts als Lohn zurückerhalten. Die erste Voraussetzung ist also, dass es genügend Menschen gibt, die keine Subsistenzmittel (wie z.B. einen kleinen Bauernhof) besitzen. Sie dürfen nichts besitzen außer ihrer Arbeitskraft, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Zweitens müssen diese Menschen aber auch in der Lage sein, ihre Arbeitskraft auf dem Markt zu verkaufen. Sie dürfen also keine Sklaven oder Leibeigenen sein, die gezwungen sind, für einen Herrn zu arbeiten.
Marx spricht deshalb davon, dass die Arbeiter im Kapitalismus „doppelt frei“ sind – frei von allen Subsistenzmitteln und juristisch frei, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, an wen sie wollen. Diese Art von „Freiheit“ ist gegenüber der direkten Unterdrückung im Feudalismus und der Sklavenhaltergesellschaft tatsächlich ein Fortschritt. Wirkliche Freiheit in dem Sinne, dass ein Mensch sich gemäß seinen Bedürfnissen entwickeln und sein Leben gestalten kann, ist sie allerdings nicht, sondern sogar eine massive Beschränkung dieser Freiheit.
Diese Voraussetzung, also dass es eine Klasse von Menschen gibt, die von allen Produktionsmitteln getrennt sind, war historisch nicht immer schon gegeben. Vor der Entstehung des Kapitalismus bestand ein Großteil der Bevölkerung aus Bauern, die auf einem kleinen oder mittelgroßen Stück Land ihren Lebensunterhalt verdienten. Als der Feudalismus durch die Entstehung der neuen kapitalistischen Produktionsweise aufgelöst wurde, ging dies auch damit einher, viele Bauern von ihrem Land zu trennen und sie dadurch in die Städte zu treiben und zur Lohnarbeit zu zwingen. Diesen Prozess nannte Marx die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals. In England beispielsweise lief er durch brutale staatliche Gewalt ab, mit der die Bauern unter Androhung der Verstümmelung oder der Todesstrafe in das Fabriksystem gezwungen wurden. In den Kolonien in Amerika, später auch in Afrika und Asien ging die Enteignung der indigenen Bevölkerung mit massenhaftem Völkermord einher. Marx schreibt darüber, dass das Kapital „von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend“ zur Welt gekommen sei (Marx: Das Kapital, Band I, MEW 23, S. 788). Der Prozess der ursprünglichen Akkumulation findet jedoch nicht nur beim historischen Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus statt, sondern auch während der kapitalistischen Epoche, sogar bis heute. Auch heute noch werden in vielen Teilen der Welt Kleinbauern enteignet und von ihrem Land vertrieben, um ihr Land z.B. kapitalistischen Agrar- oder Bergbaumonopolen verfügbar zu machen, oder um die Menschen zur Lohnarbeit in den Städten zu zwingen. Der Kapitalismus entstand also durch brutale staatliche Gewalt gegen die Volksmassen und hat seinen gewalttätigen Charakter bis heute weiter verstärkt.
4.3.3 Kapital
Der Mehrwert beruht also darauf, dass es im Kapitalismus eine Klasse von Menschen gibt, die keine andere Wahl haben, als ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Gekauft wird die Arbeitskraft nur, weil der Käufer glaubt, damit einen Profit machen zu können. Was passiert aber nun mit diesem Profit?
Einen Teil des Profits wird der Eigentümer des Betriebs dafür nutzen, um sich und seine Familie ernähren zu können. Beschäftigt er nicht nur einen, sondern viele Arbeiter und kann er sich einen entsprechend großen Mehrwert aneignen, muss er selbst gar nicht mehr arbeiten, sondern kann allein von den Einkünften aus der Ausbeutung fremder Arbeitskraft leben.
Der übrige Teil des Profits wird dagegen wieder in die Produktion investiert, beispielsweise um neue Maschinen und Technologien zu kaufen, oder die Produktion auszuweiten, z.B. durch ein neues Fabrikgebäude. Dieser Mehrwert, der erneut investiert wird, verwandelt sich damit in Kapital. Oft wird Kapital mit Geld im Allgemeinen verwechselt. Das ist jedoch falsch: Weder ist Geld an sich Kapital, noch ist Kapital immer Geld. Die Fähigkeit, sich in Kapital zu verwandeln, ist nur eine der Funktionen des Geldes im Kapitalismus. Kapital ist sich selbst verwertender Wert – Wert, der investiert wurde, um Mehrwert zu schaffen. Dieser Mehrwert kann dann neu investiert werden, um neuen Mehrwert zu schaffen. Der Eigentümer des Kapitals, der das Kapital investiert, um sich den Mehrwert anzueignen, heißt Kapitalist.
Der einfache Kreislauf des Kapitals sieht also folgendermaßen aus:
Geld wird zum Kauf von Waren verwendet, genauer gesagt von Arbeitskraft und Produktionsmitteln. Mit diesen beginnt nun die Produktion, in der neuer Wert geschaffen wird. Die produzierten Waren haben also einen höheren Wert als die Waren, die zu Beginn in den Produktionsprozess eingegangen sind. Die Produkte werden nun verkauft. Das Geld, das der Kapitalist für sie erhält, ist eine größere Summe als das Geld, das er in die Produktion investiert hat. Als Formel ausgedrückt:
G – W (AK, Pm)…Produktion…W‘-G‘
Stellen wir uns also einen Betrieb vor, der ein Betriebskapital von 1 Mio. € in die Produktion investiert hat. Davon werden 600.000 € für Rohstoffe, Vorprodukte sowie die Instandhaltung und Neuanschaffung von Maschinen und Werkzeugen investiert 400.000 € als Arbeitslohn an die Arbeiter ausbezahlt. Die erste Summe nennt Marx das konstante Kapital (abgekürzt c), weil die Rohstoffe und aufgrund ihres langsamen Verschleißes auch die Maschinen ihren Wert lediglich auf die Waren übertragen und keinen neuen Wert schaffen können. Sie stellen „tote“, in der Vergangenheit geleistet Arbeit dar. Die zweite Summe, den Arbeitslohn, nennt er variables Kapital (abgekürzt v) – denn dieses Kapital wird direkt in lebendige Arbeit investiert und dient unmittelbar der Schaffung von neuem Wert.
Während des Produktionsprozesses wächst der Wert dieses Kapitals also an. Nehmen wir an, dass die Arbeiter des Betriebs nur die Hälfte des Arbeitstages brauchen, um den Wert ihrer Löhne zu produzieren. Das heißt, dass sie während der anderen Hälfte des Arbeitstages reinen Mehrwert (abgekürzt m) schaffen. Der Neuwert, den sie durch ihre Arbeit schaffen, beträgt dann also 400.000 €, die sie als Arbeitslohn ausbezahlt bekommen und weitere 400.000 €, die der Kapitalist als Mehrwert einstreicht.
Die Wertsumme der Waren, die die Arbeiter geschaffen haben, lautet dann also:
c im Wert von 600.000 € + v im Wert von 400.000 € + m im Wert von 400.000 € = 1,4 Mio. €
Diese 1,4 Mio. € gehören nun zunächst vollständig dem Kapitalisten. Allerdings kann er sie nicht einfach komplett für seinen persönlichen Konsum benutzen. Täte er das, wäre das das Ende seines Unternehmens. Um die Produktion fortzusetzen, muss der Kapitalist nun zuerst die verbrauchten Rohstoffe und Maschinen, also sein verbrauchtes konstantes Kapital ersetzen. Von den 1,4 Mio. € werden also schon mal 600.000 € abgezogen. Aber auch die Arbeiter müssen weiterhin bezahlt werden, damit die Maschinen nicht stillstehen. Wenn ihre Zahl und das Lohnniveau gleich bleiben, werden also weitere 400.000 € abgezogen. Wir sehen also: Um die Produktion auf dem gleichen Niveau aufrechtzuerhalten, muss eine konstante Summe an Kapital immer wieder neu investiert werden.
Übrig bleibt dann aber immer noch der Mehrwert. Von diesem Mehrwert kann der Kapitalist nun eine gewisse Summe für seinen persönlichen Luxuskonsum abziehen, sagen wir 100.000 €. Die übrigen 300.000 € investiert der Kapitalist erneut in sein Unternehmen, indem er z.B. zusätzliche Maschinen kauft und die Arbeiter einstellt, die diese bedienen. Bleibt es bei demselben Größenverhältnis zwischen konstantem und variablem Kapital, würde das konstante Kapital damit um 180.000 € auf insgesamt 780.000 € erhöht und das variable Kapital um 120.000 € auf 520.000 €. Da nun mehr Arbeiter an der Produktion beteiligt sind, würde ebenfalls der Mehrwert auf 520.000 € steigen.
Der Wert der produzierten Waren in der zweiten Runde beträgt dann:
780.000 € (c) + 520.000 € (v) + 520.000 € (m) = 1,82 Mio. €
Wir sehen also: Das Geschäft des Kapitalisten ist bedeutend gewachsen. Auch diesen neuen Mehrwert wird er natürlich wieder zum großen Teil investieren. Diese Bewegung kann beliebig oft wiederholt werden und das Kapital kann somit prinzipiell unbegrenzt wachsen. Man spricht hier von der Akkumulation (Anhäufung) oder auch Verwertung des Kapitals. Wir können an diesem Beispiel auch sehen, wie hoch der Grad ist, zu dem die Arbeiter ausgebeutet werden. Wir haben hier angenommen, dass die Arbeiter jeweils die Hälfte des Arbeitstages für sich selbst und die andere Hälfte für den Kapitalisten arbeiten, also variables Kapital und Mehrwert gleich groß sind. Das kann sich natürlich in der Realität auch anders verhalten. Die Exploitationsrate (das heißt Ausbeutungsrate) oder auch Mehrwertrate bezeichnet genau dieses Verhältnis: Der Mehrwert geteilt durch das variable Kapital, m/v. In diesem Fall wäre das Ergebnis 1 (oder 100%).
Weil der Mehrwert die Quelle ist, aus der die Kapitalisten sowohl ihren eigenen Konsum als auch die Ausweitung ihrer Geschäfte finanzieren, streben sie ständig danach, den Anteil des Mehrwerts an ihrem Kapital zu vergrößern. Dafür gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten.
Erstens können sie die Arbeitszeit verlängern, indem sie den Arbeitstag verlängern oder die Arbeiter auch am Wochenende arbeiten lassen. Der Anteil der Mehrarbeit (dem Teil des Arbeitstags, an dem der Arbeiter Mehrwert für den Kapitalisten produziert) lässt sich gegenüber dem Anteil der notwendigen Arbeit (dem Teil des Arbeitstags, an dem der Arbeiter den Wert seines Lohns produziert) vergrößern, indem die Arbeitszeit absolut verlängert wird. Das heißt, dass die Arbeiter für den gleichen Lohn länger arbeiten, dass also ihr Stundenlohn gesenkt wurde. Es ist auch möglich, nur den Lohn zu senken, ohne die Arbeitszeit auszuweiten. Wenn der Lohn nur das Existenzminimum abdeckt, werden die Arbeiter dadurch unter diese Grenze gedrückt. Das ist im Allgemeinen nur möglich, wenn es ein Überangebot an Arbeitskräften gibt, sodass die Arbeiter jede Lohnarbeit annehmen müssen, selbst wenn diese nicht zum Überleben ausreicht. Diese Form des Kapitals, sich Mehrwert anzueignen, bezeichnet man deshalb als Produktion des absoluten Mehrwerts.
Offensichtlich ist aber die Verlängerung des Arbeitstages nicht unbegrenzt möglich: Der Tag hat 24 Stunden und die Woche 7 Tage. Außerdem braucht der Arbeiter Zeit zum Schlafen, zum Ruhen und zum Essen, wenn er am Leben bleiben soll. Daher ist die Wochenarbeitszeit immer geringer als 7 x 24 Stunden. Außerdem können Arbeiter sich organisieren und gegen allzu unmenschliche Arbeitszeiten kämpfen, was die Höchstgrenze für den Arbeitstag weiter nach unten drücken kann.
Trotzdem wollen die Kapitalisten natürlich ihren Mehrwert weiter steigern und die Konkurrenz untereinander spornt sie dazu an. Die zweite Möglichkeit, den Mehrwert zu erhöhen, besteht darin, das bei gleichbleibender Arbeitszeit zu tun. Wenn die Dauer des Arbeitstags gleich bleibt, kann der Teil des Arbeitstags, in dem Mehrwert produziert wird, nur dann größer werden, wenn der Teil, an dem die notwendige Arbeit stattfindet, kleiner wird. Dieser Teil, an dem die Arbeiter den Wert ihres Arbeitslohns produzieren, kann nur dann kleiner werden, wenn der Wert der Arbeitskraft sinkt – wenn also die Wiederherstellung der Arbeitskraft billiger wird. Der Wert der Arbeitskraft sinkt dann, wenn die Konsumgüter, die der Arbeiter sich von seinem Lohn kauft, um seine Arbeits- und Lebensfähigkeit zu erhalten, an Wert verlieren. Und an Wert verlieren diese Waren dann, wenn die gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeitszeit zu ihrer Produktion fällt. Wenn also eine neue Produktionsmethode eingeführt wird, die gesamtgesellschaftlich die Produktion von Nahrungsmitteln, Kleidung, Wohnungen usw. effizienter und in kürzerer Zeit organisiert, sinkt deren Wert und damit auch der Wert der Arbeitskraft. Durch den Fortschritt der Produktivkräfte ist es dann möglich, den Arbeitern einen geringeren Lohn zu zahlen, ohne sie unter das Existenzminimum zu drücken. Diese Möglichkeit ergreifen die Kapitalisten natürlich gerne, denn dadurch steigt unmittelbar der Anteil des Mehrwerts an ihrem investierten Kapital. Weil damit der Mehrwert steigt, ohne dass der Arbeitstag verlängert wird, spricht man von der Produktion des relativen Mehrwerts.
Die meisten Arbeitsprozesse, die zuvor unter selbstständiger Leitung stattfanden, werden mit der Entstehung und Entfaltung des Kapitalismus zunehmend vom Kapital absorbiert und unter das Kommando eines Kapitalisten gestellt. Oft ändert sich dabei aber zunächst der Arbeitsprozess selbst nicht oder kaum. In diesem Fall spricht Marx von einer bloß formellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital. In anderen Fällen ist es hingegen so, dass durch die Unterordnung der Arbeit unter das Kapital auch der Arbeitsprozess selbst verändert wird, um dem Profitziel und der Akkumulation des Kapitals bestmöglich zu entsprechen. Die Arbeiter produzieren also disziplinierter, regelmäßiger, mit besserer Arbeitsteilung usw., sodass die Kapitalisten mehr Mehrwert aus ihnen herauspressen können. Dies nennt Marx die reelle Subsumtion unter das Kapital, da eben nicht nur der Form nach die Arbeit untergeordnet wird, sondern tatsächlich auch in den Arbeitsvorgang eingegriffen wird. Die reelle Subsumtion unter das Kapital geht vor allem mit der Produktion des relativen Mehrwerts einher, weil dabei, anders als bei der absoluten Mehrwertproduktion, Produktivitätssteigerungen stattfinden.
Kehren wir also zurück zum Begriff des relativen Mehrwerts: Produktivitätssteigerungen in der Konsumgüterindustrie haben für das Kapital also den angenehmen Effekt, dass sich damit der Mehrwert steigern lässt, ohne die Arbeiter zu mehr Arbeit oder weniger Konsum zwingen zu müssen, was ja in vielen Fällen den erbitterten Widerstand der Arbeiter herausfordern würde.
Lohnen sich neue Maschinen für die Kapitalisten also nur dann, wenn sie die Produktion von Konsumgütern verbessern? Das kann offensichtlich nicht sein, denn auch in der Rüstungsindustrie oder in der Produktion von Produktionsmitteln (Maschinen, Technologie usw.) hat der Kapitalismus gewaltige Fortschritte ermöglicht. Sehen wir uns genauer an, was passiert, wenn ein Kapitalist eine neue Maschine zur Verbesserung der Produktion anschafft.
Er kann jetzt mit einer neuen Maschine z.B. Mähdrescher von gleicher (womöglich sogar besserer) Qualität in kürzerer Zeit herstellen als vorher. So lange er als einziger die neue Maschine hat, kann er aber auch in kürzerer Zeit produzieren als alle anderen. Die gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeitszeit, also der Wert der Mähdrescher, ist dann immer noch hoch, während in seinem Unternehmen die individuell notwendige Arbeitszeit gesunken ist! Der Kapitalist kann seine Produkte nun entweder genauso teuer verkaufen wie vorher und streicht dann einen Extraprofit ein, denn die Produktionszeit und daher auch die Entlohnung der Arbeiter für einen einzelnen Mähdrescherist gesunken. Oder er kann seine Hemden deutlich billiger verkaufen als die Konkurrenz, nämlich zu dem Preis, der sich aus seinen niedrigeren Produktionskosten plus dem Durchschnittsprofit ergibt. Dann realisiert er zwar keinen Extraprofit mehr, schädigt aber dafür die Konkurrenz. Denn natürlich hat sein billigeres Produkt nun einen Vorteil auf dem Markt und wird eher gekauft werden als die der Konkurrenz. Indem der Kapitalist seine Verkaufszahlen erhöhen kann, kann er somit trotzdem die absolute Profitmasse, die ihm zufließt, erhöhen. Zusätzlich verdrängt er seine Konkurrenten, was langfristig ein größerer Vorteil sein kann als der kurzfristige Extraprofit, der ihm durch die niedrigen Verkaufspreise entgeht. Diesen Vorteil hat der Kapitalist allerdings nur bis zu dem Zeitpunkt, wo die neue Technologie allgemeine Anwendung findet und sein Vorsprung somit verschwunden ist.
Der Kapitalismus ist eine Wirtschaft, in der es immer viele Kapitalisten gibt, die gegeneinander konkurrieren. Die Jagd nach Extraprofiten und das Streben nach der Verdrängung der Konkurrenten zwingt die Kapitalisten dazu, ohne Pause nach effizienteren Produktionsmethoden und moderneren Technologien zu suchen, die es ermöglichen, Waren in kürzerer Zeit zu produzieren. Dem kann sich der einzelne Kapitalist nicht entziehen, sonst sieht er sich schnell einer Situation gegenüber, in der seine Konkurrenten produktiver sind als er und ihre Waren entsprechend billiger zum Verkauf anbieten können.
Dieser ständige Trieb der Kapitalisten nach Erhöhung der Arbeitsproduktivität ist der Grund, weshalb der Kapitalismus viel massiver als alle früheren Produktionsweisen die Entfaltung der Produktivkräfte gefördert hat. Das ist das ganze Geheimnis hinter den unglaublichen Produktivitätsfortschritten, die es seit der Industriellen Revolution gegeben hat. Gleichzeitig sehen wir aber auch hier schon, wie der Kapitalismus den technologischen Fortschritt im Vergleich zum Sozialismus als der nächsthöheren Produktionsweise behindert: Denn der einzelne Kapitalist will die neue Technologie nur für sich haben und wird so lange wie möglich verhindern, dass seine Konkurrenten sie ebenfalls anwenden und damit seinen Produktivitätsvorsprung neutralisieren. Je länger die Wirtschaft insgesamt rückständig bleibt, desto besser für den Kapitalisten. Aus diesem Grund gibt es das Patentrecht, das einer allgemeinen Nutzung der besten Technologien durch die ganze Gesellschaft entgegensteht.
Da der Profit den Antrieb für die kapitalistische Akkumulation darstellt, ist die Neueinstellung und Entlassung von Arbeitskräften ebenfalls davon abhängig, wie die Aussichten auf Profit gerade sind. Das Kapital wirft ständig einen Teil der Arbeiter aus dem Produktionsprozess hinaus, weil es für sie keine profitable Beschäftigung findet. Die Masse der Arbeiter, die zur Arbeitslosigkeit gezwungen sind, also ohne Lohn und Brot dastehen, nennt Marx die industrielle Reservearmee, weil sie für die Kapitalisten eine Reserve darstellt, die sie im Aufschwung wiedereinstellen und in der Zwischenzeit zum Drücken der Löhne einsetzen können. Je weiter entwickelt die kapitalistische Produktionsweise ist, desto größer wird nach Marx die industrielle Reservearmee im Verhältnis zu den Arbeitern, die Lohnarbeit verrichten. Und mit dieser größeren industriellen Reservearmee, diesem permanenten Anteil der Arbeitslosen in der Gesellschaft, sind auch zunehmende Armut und Elend verbunden. Marx nennt dies „das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation“ (Marx: Das Kapital, Band I, MEW 23, S. 675). Dieses Gesetz drückt sich in einer Verelendung der Arbeiterklasse aus.
Relative oder absolute Verelendung der Arbeiterklasse?
Es gab in der Arbeiterbewegung immer wieder Diskussionen darüber, ob die Verelendung der Arbeiterklasse, die nach Marx durch den Kapitalismus notwendigerweise stattfindet, absolut oder relativ zu verstehen ist.
Relative Verelendung bedeutet, dass der Anteil der Arbeiterklasse am Reichtum der Gesellschaft ständig abnimmt, also immer mehr Reichtum bei der herrschenden Klasse konzentriert wird.
Marx schrieb dazu: „Das Gesetz endlich, welches die relative Überbevölkerung oder industrielle Reservearmee stets mit Umfang und Energie der Akkumulation in Gleichgewicht hält, schmiedet den Arbeiter fester an das Kapital als den Prometheus die Keile des Hephästos an den Felsen. Es bedingt eine der Akkumulation von Kapital entsprechende Akkumulation von Elend. Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol“, also bei der Arbeiterklasse. Und: „Je größer aber diese Reservearmee im Verhältnis zur aktiven Arbeiterarmee, desto massenhafter die konsolidierte Überbevölkerung, deren Elend im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Arbeitsqual steht. Je größer endlich die Lazarusschicht der Arbeiterklasse und ihre industrielle Reservearmee, desto größer der offizielle Pauperismus.“ (Marx: Das Kapital, Band I, MEW 23, S. 673f).
Lenin betonte, dass es sich dabei um eine absolute Verelendung handele, indem direkt der Lebensstandard der Arbeiterklasse immer weiter sinkt: „Der Arbeiter verelendet absolut, das heißt, er wird geradezu ärmer als früher, er ist gezwungen, schlechter zu leben, sich kärglicher zu ernähren, sich immer weniger satt zu essen, in Kellerräumen und in Dachstuben zu hausen“ (Lenin: Die Verelendung in der kapitalistischen Gesellschaft, LW 18, S. 428).
Dagegen wird heute oft darauf verwiesen, dass mit der Entwicklung des Kapitalismus zwar durch den Anstieg der Mehrwertrate eine relative Verelendung zu beobachten ist, jedoch nicht insgesamt ein absolutes Absinken des Lebensstandards. Zwar gebe es verschiedene Tendenzen zur absoluten Verelendung (z.B. Zunahme der Arbeitsintensität, von arbeitsbedingten Krankheiten, tendenzielle Verschärfung von Krisen und Kriegen usw.), aber auch Gegentendenzen. So würde durch den Fortschritt der Produktivkräfte auch die Arbeiterklasse langfristig gewisse Verbesserungen ihres Lebensstandards erfahren, wenn auch nicht proportional zum Anstieg des gesellschaftlichen Reichtums. Damit wird nicht nur die These einer allgemeinen absoluten Verelendung infrage gestellt, sondern auch die entgegengesetzte Position des Revisionisten Eduard Bernstein, der davon ausging, dass es im Kapitalismus ein stetiges Ansteigen des Lebensstandards der Arbeiterklasse geben könne. Zudem wird auch oft infrage gestellt, dass die entsprechenden Aussagen von Marx (s.o.) im Sinne eines allgemeinen Gesetzes zur absoluten Verelendung zu interpretieren sind.
Die Diskussion darüber, ob es im Kapitalismus zwangsläufig zu einer absoluten Verelendung kommt, können wir an dieser Stelle jedoch nicht darstellen und auch nicht klären.
Arbeitsfragen:
- Wie entsteht Mehrwert? Welche Voraussetzungen sind notwendig für die Produktion von Mehrwert?
- Was ist der Unterschied zwischen Mehrwert und Kapital? Wie funktioniert die Akkumulation des Kapitals?
- Was ist konstantes und variables Kapital und warum werden sie so genannt?
- Was bewirkt die Jagd der Kapitalisten nach Extraprofiten?
Diskussionsfragen:
- Ist im heutigen Kapitalismus die Bedeutung des relativen oder des absoluten Mehrwerts entscheidender?
- Wenn wir uns die Entwicklung des Kapitalismus ansehen, können wir dann von einer relativen Verelendung der Arbeiterklasse sprechen? Gibt es auch eine absolute Verelendung der Arbeiterklasse?
4.4 Der Zirkulationsprozess des Kapitals
Die bisherigen Unterkapitel zur Kritik der Politischen Ökonomie haben sich mit den Begriffen von Ware und Wert und dann vor allem damit auseinandergesetzt, wie das Kapital produziert wird. Das war der Inhalt des ersten Bands von „Das Kapital“ (MEW 23). Im zweiten Band (MEW 24) geht es dagegen um die Zirkulation des Kapitals.
Wenn der Kapitalist den gesamten Mehrwert selbst konsumiert, spricht man von einfacher Reproduktion, denn außer dem Ersatz des verausgabten Kapitals wurde keine produktive Investition getätigt. Wie wir jedoch gesehen haben, ist das Ziel des Kapitalisten aufgrund der Konkurrenz nicht die einfache Reproduktion, sondern die erweiterte Reproduktion seines Kapitals. Erweiterte Reproduktion bedeutet, dass ein Teil des Mehrwerts vom Kapitalisten reinvestiert, also akkumuliert wird.
Das Wesen der Waren besteht darin, dass sie nicht einfach nur Produkte sind, die irgendwelche Bedürfnisse befriedigen können, sondern dass sie für den Verkauf produziert werden. Sie kommen also auf den Markt und werden dort gehandelt. Diesen Prozess bezeichnet man als Zirkulationsprozess der Waren, der zu unterscheiden ist von ihrem Produktionsprozess. Der Zirkulationsprozess umfasst all jene Vorgänge, die zur Realisierung des Warenwerts beitragen, aber für die Produktion und Bereitstellung der Ware nicht zwingend erforderlich sind. Der Zirkulationsprozess verursacht, genauso wie der Produktionsprozess, Kosten für den Kapitalisten, die als Zirkulationskosten zusammengefasst werden. Unter Zirkulationskosten fallen Kauf- und Verkaufszeit, Aufbewahrungskosten und ein Teil der Transportkosten. Obwohl er Kosten verursacht, produziert der Zirkulationsprozess die Ware nicht und kann ihr daher auch keinen Wert zusetzen – der Wert entsteht ausschließlich in der Produktionssphäre.
Bis eine produktive Investition einen Gewinn in Geldform abwirft, muss mindestens eine Ware produziert und verkauft worden sein. Während des Zeitraums davor hat der Kapitalist nur Geld ausgegeben, ohne Geld einzunehmen. Falls er für seine Investition einen Kredit aufgenommen hat, fallen nun möglicherweise auch schon Zinsen an, die er zahlen muss. In jedem Fall hat der Kapitalist ein Interesse daran, dass das von ihm investierte Kapital so schnell wie möglich umschlägt, er so schnell wie möglich den realisierten Mehrwert in den Händen hält und ihn so schnell wie möglich wieder investieren kann, um seine Position in der Konkurrenz zu verbessern. Die Zeit, während der das Kapital sich im Umlauf (in der Zirkulation/Realisierung) befindet, dient es nicht der Produktion von Mehrwert. Der Kapitalist strebt also danach, die Umlaufszeit des Kapitals zu verkürzen. Und das ist wiederum ein wichtiges Mittel, um die Umschlagszeit des Kapitals ebenfalls zu verkürzen – das ist die Zeitspanne, die ein Kapital braucht, um den Kreislauf G – W – G‘ einmal zu durchlaufen und den Mehrwert auf das investierte Kapital zu realisieren.
4.4.1 Die Umschlagszeit des Kapitals – fixes und zirkulierendes Kapital
Die Umschlagszeit eines bestimmten Kapitals hängt von seiner physischen Natur, seiner Rolle im Produktionsprozess ab. Beispielsweise Rohstoffe wie Eisenerz werden im Produktionsprozess verbraucht und gehen in das Produkt ein (z.B. als Stahlträger einer Brücke). Nach vollendeter Arbeitsperiode (der Zeit zur Produktion einer Ware eines bestimmten Typs) muss der verbrauchte Rohstoff ersetzt werden, damit der Arbeitsprozess wiederholt werden kann. Das Produkt ist zu diesem Zeitpunkt fertig und kann verkauft werden. Auch Hilfsstoffe wie z.B. Heizöl geben ihren Wert während eines Arbeitsprozesses vollständig an das Produkt ab. Dasselbe gilt schließlich für die verausgabte Arbeitskraft, deren voller Wert zuzüglich dem Mehrwert immer auf das Produkt übergeht. Diese Art von Kapital, die nach jeder vollendeten Arbeitsperiode zirkuliert und sich verwertet, nennt Marx flüssiges oder zirkulierendes Kapital.
Andere Investitionen sind längerfristig angelegt und das Kapital wird während einer Arbeitsperiode nur zu einem Teil verbraucht. Maschinen können normalerweise sehr viele Waren produzieren, bis ihr physischer Verschleiß so weit fortgeschritten ist, dass sie ersetzt werden müssen. Nur in dem Maße, wie sie durch die Produktion der einzelnen Ware im Durchschnitt verschleißen, geben sie ihren Wert auf das Produkt ab. Beispiel: Eine Maschine, die 10.000 € wert ist und mit der man 100.000 Glühbirnen produzieren kann, gibt auf jede Glühbirne 10 Cent ihres Wertes ab. Es gibt aber nicht nur den physischen Verschleiß durch Abnutzung: Weil sich die Technik im Kapitalismus ständig revolutioniert und die neueste Technologie meistens nicht lange die neueste Technologie bleibt, werden viele Maschinen nicht erst abgelöst, wenn sie tatsächlich nicht mehr funktionieren, sondern sobald eine bessere Maschine auf dem Markt ist. Deshalb verliert die Maschine nicht nur durch Abnutzung und den „Zahn der Zeit“ ihren Wert, sondern auch dadurch, dass sie gemessen am jeweils aktuellen Stand der Technologie irgendwann veraltet ist. Diese Art von „Verschleiß“ (besser gesagt Wertverlust) nennt Marx „moralischen Verschleiß“. Weil diese zweite, in Maschinen und Gebäuden ausgelegte Art von Kapital während eines Arbeitsprozesses fast unverändert bleibt, nennt Marx sie fixes Kapital. „In derselben Zeit, worin das fixe Kapital einmal umschlägt, schlägt das flüssige Kapital mehrmals um“ (Marx: Das Kapital, Band II, MEW 24, S. 168).
Die Unterscheidung zwischen fixem und zirkulierendem Kapital ist nicht zu verwechseln mit der zwischen konstantem und variablem Kapital. Der Unterschied zwischen konstantem und variablem Kapital liegt im Produktionsprozess begründet; nämlich darin, ob das Kapital in lebendiger, wertschaffender Arbeit oder vergegenständlichter, vergangener, „toter“ Arbeit angelegt wird, die ihren Wert nur auf das Produkt überträgt. Dagegen entspringt der Unterschied zwischen fixem und zirkulierendem Kapital der Zirkulationssphäre, da es hier darum geht, wie lange ein bestimmter Teil des investierten Kapitals braucht, bis er vollständig umgeschlagen ist. Die Begriffe fixes und zirkulierendes Kapital stammen anders als das Begriffspaar konstantes und variables Kapital auch nicht von Marx, sondern er übernahm diese von Adam Smith. Das fixe Kapital ist ein Teil des konstanten Kapitals, während das zirkulierende Kapital sowohl das variable Kapital als auch einen Teil des konstanten Kapitals (z.B. Rohstoffe) umfasst.
Auch wenn der Zirkulationsprozess selbst nicht wertschaffend ist, können Kapitalisten sich auf Operationen der Zirkulationssphäre spezialisieren und ein kapitalistisches Unternehmen darauf aufbauen. Beispiele dafür sind Supermärkte, die Handelsschifffahrt, aber auch Werbe- und Marketingagenturen, die alle dem Zweck dienen, die Waren schneller und gezielter zu ihren Käufern zu kriegen. Die Kapitalisten, die diese Dienste anbieten, verkürzen damit die Umlaufszeit und Umschlagszeit des in der Industrie tätigen Kapitals, d.h. sie unterstützen den Industriekapitalisten dabei, schneller an seinen Mehrwert zu kommen und ihn schneller wieder investieren zu können. Damit erhöhen sie die Mehrwertmasse, die jeder einzelne Kapitalist produzieren kann und die gesamtgesellschaftlich produziert wird. Sie tun das aber nicht aus Solidarität gegenüber ihren Klassenbrüdern, sondern sie lassen sich dafür so gut entschädigen, dass es möglich ist, ganze Unternehmen auf bestimmte Aspekte des Zirkulationsprozesses zu spezialisieren. Ähnliches gilt für das zinstragende Kapital, zu dem wir später kommen werden.
4.4.2 Die Reproduktionsschemata
Wenn eine Ware auf dem Markt verkauft wird, muss die zahlungsfähige Nachfrage nach dieser Ware irgendwo hergekommen sein. Werden in einer Gesellschaft mehr Waren produziert, als Geld vorhanden ist, um sie zu kaufen, kommt es zur Überproduktion – diese Möglichkeit werden wir uns später noch ausführlicher ansehen. Doch es reicht nicht aus, dass irgendwo in der Gesellschaft Geld vorhanden ist, mit dem die Waren gekauft werden könnten. Stellen wir uns z.B. vor, dass 10 Millionen Kaffeemaschinen zu viel produziert wurden, weil die Löhne der Arbeiter zu niedrig sind, um diese Geräte zu kaufen. Könnten dann nicht die Kapitalisten von ihren Profiten die überschüssigen Kaffeemaschinen kaufen? Das könnten sie natürlich, aber sie werden es nicht tun, wenn sie keine Verwendung dafür haben. Denn die Kapitalisten sind nur wenige und selbst wenn jeder von ihnen fünf Villen besitzt, können sie nur eine begrenzte Zahl an Kaffeemaschinen darin unterbringen und sinnvoll nutzen.
Natürlich ist das auch umgekehrt möglich: Wenn zu viele Werkzeugmaschinen produziert werden, hilft es auch nichts, den Arbeitern die Löhne zu erhöhen. Denn sie werden sich davon vielleicht Autos, Fernseher oder Eigentumswohnungen kaufen, aber sicher keine Industriemaschinen.
Wir sehen also, dass die Frage, wie viel von welchen Waren produziert wird und wie das gesellschaftliche Gesamteinkommen auf die Klassen verteilt ist, entscheidend dafür ist, ob die Kapitalakkumulation einigermaßen im Gleichgewicht ist, oder ob sie auf eine Krise zusteuert.
Marx erstellte dafür ein stark vereinfachtes Modell, in dem die Produktion aus zwei Abteilungen und die Gesellschaft aus zwei Klassen besteht. Abteilung I umfasst das Kapital, das Produktionsmittel produziert. Abteilung II umfasst das Kapital, das Konsumtionsmittel (Konsumgüter) produziert. Käufer der Güter von Abteilung I sind nur die Kapitalisten. Käufer von Abteilung II sind vor allem die Arbeiter (weil sie zahlenmäßig viel mehr sind) und zu einem geringeren Maß die Kapitalisten. Wenn man nun weiß, wie viel Wert in beiden Abteilungen produziert wird, wie viele Konsumgüter die Kapitalisten konsumieren und nach welchem Verhältnis das investierte Kapital jeweils in konstantes und variables Kapital aufgeteilt ist, ergibt sich daraus, ob die produzierten Produktionsmittel und Konsumgüter auch wirklich gekauft werden oder nicht. Das folgende Zahlenbeispiel soll dem besseren Verständnis dienen, wie ein Ungleichgewicht in der Reproduktion des Kapitals entstehen kann. Aber wem es zu kompliziert ist, der kann es natürlich auch überspringen.
Beispiel: Abteilung I hat ein Volumen von 1 Mrd. €. Davon sind 700 Mio. € konstantes Kapital, 200 Mio. € variables Kapital und 100 Mio. € Mehrwert.
Darstellbar ist das als folgende Gleichung (mal Faktor 1.000.000):
Gesamt (I) = c (I) + v (I) + m (I) = 700 + 200 + 100 = 1000
Abteilung II hat ein Volumen von 2 Mrd. €. Davon sind 600 Mio. € konstantes Kapital, 1,2 Mio. € variables Kapital und 200 Mio. € Mehrwert:
Gesamt (II) = c (II) + v (II) + m (II) = 600 + 1200 + 200 = 2000
Wenn man v (I) und v (II) zusammenrechnet, werden also 1,4 Mrd. € als Löhne ausgezahlt. Wenn man m (I) und m (II) zusammenrechnet, ergibt sich ein Mehrwert von 300 Mio. €. Wenn man c (I) und c (II) zusammenrechnet, ergibt sich ein konstantes Kapital von 1,3 Mrd. €. Angenommen, die Kapitalisten konsumieren von den 300 Mio. € Mehrwert 50 Mio. € persönlich und investieren 250 Mio. € wieder in die Produktion. Dann könnte man den Mehrwert wie folgt aufteilen:
m (I) = m (I, Konsum) + m (I, Investition)
m (II) = m (II, Konsum) + m (II, Investition)
Die gesellschaftliche Nachfrage N, die notwendig ist, um die Produkte beider Abteilungen vollständig abzusetzen, ist 2 Mrd. € für Abteilung II und 1 Mrd. € für Abteilung I, also
N (I) = Gesamt (I)
und N (II) = Gesamt (II). Die Nachfrage für beide Abteilungen kommt nun wie folgt zustande:
N (I) = c (I) + c (II) + m (I, Investition) + m (II, Investition)
N (II) = v (I) + v (II) + m (I, Konsum) + m (II, Konsum)
Der Gleichgewichtszustand ist erreicht, wenn:
N (I) = Gesamt (I) c (I) + v (I) + m (I) = c (I) + c (II) + m (I, Investition) + m (II, Investition)
N (II) = Gesamt (II) c (II) + v (II) + m (II) = v (I) + v (II) + m (I, Konsum) + m (II, Konsum)
In unserem Fall kommt für N (I) ein Wert von 1,55 Mrd. € und für N (II) 1,45 Mrd. € heraus. Damit ist der Gleichgewichtszustand nicht gegeben: In Abteilung I ist die Nachfrage um 550 Mio. € höher als das Angebot. Das ist erst mal kein Problem, im Gegenteil. Denn solange Nachfrage nach Produktionsmitteln besteht, werden die Kapitalisten in Abteilung I ihre Produktion einfach ausweiten, bis die Nachfrage durch ein entsprechendes Angebot befriedigt werden kann. Anders sieht es in diesem Beispiel in Abteilung II aus. Dort ist die Nachfrage um 550 Mio. € niedriger als das Angebot. Wir haben es daher mit einer Überproduktion im Konsumgütersektor zu tun. Was die Folge eines solchen Ungleichgewichts ist, damit werden wir uns im Unterkapitel zur Krise befassen.
Das Modell weist auf ein grundsätzliches Problem im Kapitalismus hin. Weil es keine zentrale Stelle gibt, die festlegen kann, was produziert wird und was nicht, weil im Gegenteil eine Anarchie der Produktion herrscht und jeder Kapitalist nur gemäß den Erfordernissen seines eigenen Unternehmens Investitionsentscheidungen trifft, gibt es keine Garantie, dass die produzierten Waren auch verkauft werden können. Die an den Universitäten heute vorherrschende neoklassische Lehre geht aber genau davon aus – sie glaubt, dass sich jedes Angebot automatisch seine Nachfrage schafft und der Markt daher nicht zur Überproduktion führt (das sogenannte Say’sche Gesetz). Einen Grund, warum diese Annahme falsch ist, haben wir nun gesehen.
Man bezeichnet das oben dargestellte Modell als Reproduktionsschemata, weil es eine schematische Darstellung davon ist, wie die Reproduktion (d.h. die erneute Wiederherstellung) der Aufteilung von Einkommen und Investitionen in einer kapitalistischen Ökonomie ist. Die Reproduktionsschemata sind also eine Formel, die einerseits schematisch darstellt, wie es zu Ungleichgewichten kommen kann, die andrerseits aber auch zeigt, wie es trotz der Anarchie der Produktion immer wieder zu vorübergehenden Wachstumsphasen oder Gleichgewichtszuständen kommt.
Arbeitsfragen:
- Was ist die Umschlagszeit des Kapitals?
- Was sind fixes und zirkulierendes Kapital? Worin besteht der Unterschied zu konstantem und variablem Kapital?
- Wie können Ungleichgewichte zwischen den verschiedenen Abteilungen der Produktion entstehen?
4.5 Die Profitrate
Wir hatten bisher den Profit einfach als Geldausdruck des Mehrwerts verstanden – so, wie wir den Warenpreis als Geldausdruck der Werte angenommen hatten. Das war jedoch nur eine vereinfachende Annahme, die an dieser Stelle zum Verständnis notwendig war, und keine Aussage über die Wirklichkeit.
Zunächst einmal ist der Profit des industriellen Kapitalisten nur ein Teil des Geldausdrucks des Mehrwerts. Ein anderer Teil ist der Zins, den der industrielle Kapitalist an die Bank zahlt. Dazu kommen wir im nächsten Unterkapitel. Ein weiterer Teil ist die Grundrente, um die es im Unterkapitel 4.10 kurz gehen wird. Und natürlich wird ein Teil des Mehrwerts auch als Steuern an den Staat bezahlt. An dieser Stelle genügt die Feststellung, dass das produktive Kapital zwar den Mehrwert von seinen Arbeitern produzieren lässt, aber sich nur einen Teil davon wirklich aneignen kann. Doch wie wir gleich sehen werden, gibt es noch einen anderen Grund, warum der Profit des einzelnen Kapitalisten nicht dem Mehrwert entspricht. Dafür müssen wir uns zunächst mit der Profitrate beschäftigen.
4.5.1 Was ist die Profitrate?
Für den Kapitalisten ist die absolute Höhe des Profits nicht entscheidend. Für einen Kleinkapitalisten können 10 Millionen € Profit sehr viel sein. Für einen großen Konzern ist es dagegen verschwindend wenig und ein großes Problem. Entscheidend ist also vor allem das Verhältnis des Profits zum investierten Kapital. Oder wenn wir es in Wertgrößen ausdrücken: Mehrwert, geteilt durch konstantes plus variables Kapital.
m/ (c+v)
Marx und vor ihm die Klassiker der Nationalökonomie (Smith, Ricardo) nennen dieses Verhältnis die Profitrate. Die Profitrate spielt für die Kapitalakkumulation eine extrem wichtige Rolle. Denn sie bestimmt darüber, ob der Kapitalist überhaupt in der Lage ist, neue Investitionen zu tätigen, ob es also wirtschaftliches Wachstum gibt und ob Arbeiter eingestellt oder entlassen werden. Die Schwankungen und die langfristige Entwicklung der Profitrate sind also entscheidend für die Gesamtentwicklung des Kapitalismus. Und den Gesamtprozess der kapitalistischen Akkumulation, das heißt die Einheit aus Produktions- und Zirkulationsprozess, um die es im Band III von „Das Kapital“ geht, werden wir uns nun ansehen.
Wir haben an früherer Stelle schon gesehen, dass die Profitrate vor allem von zwei Faktoren abhängt: Erstens von der Mehrwertrate, also davon, wie groß der Anteil des Mehrwerts am neu geschaffenen Wert ist. Und zweitens von dem Verhältnis zwischen konstantem und variablem Kapital. Weil nur das variable Kapital wertschaffend ist, bedeutet ein sinkender Anteil des variablen Kapitals auch weniger Mehrwert und damit, wenn das investierte Kapital insgesamt gleich groß bleibt, eine sinkende Profitrate. Diese zweite Größe, das Verhältnis zwischen c und v, hängt von der technischen Zusammensetzung des Kapitals ab. Ein Unternehmen, das Textilien produziert, braucht z.B. nur eine relativ geringe Menge konstantes Kapital und dafür sehr viele Arbeitskräfte. Eine Handelsschifffahrtsgesellschaft muss dagegen viele Schiffe besitzen, die sehr teuer sind. Hier ist also das konstante Kapital hoch und das variable relativ niedrig. Dieses Verhältnis, das von der technischen Struktur der Branche bestimmt ist, nennt Marx die organische Zusammensetzung des Kapitals.
Sehen wir uns das noch mal an einem Zahlenbeispiel an:
In der Branche A ist ein konstantes Kapital von 600.000 € und ein variables Kapital von 400.000 € investiert und die Mehrwertrate beträgt 100% (d.h. dass die Arbeiter die Hälfte des Tages nur den Mehrwert produzieren). Der Mehrwert beträgt dann also ebenfalls 400.000 €.
In Branche B ist ein höherer Einsatz von Maschinen notwendig ist und im Vergleich dazu wird weniger Kapital für Arbeitskräfte ausgegeben. Das konstante Kapital beträgt 1 Mio. € und das variable Kapital 300.000 €. Weil die Mehrwertrate auch 100% beträgt, liegt der Mehrwert bei 300.000 €.
A: 600.000 € (c) + 400.000 € (v) + 400.000 € (m) = 1,4 Mio. €
Die Profitrate beträgt hier also bei einem investierten Kapital von 1 Mio. € 40%.
B: 1 Mio. € (c) + 300.000 € (v) + 300.000 € (m) = 1,6 Mio. €
Hier beträgt die Profitrate bei einem investierten Kapital von 1,3 Mio. € ungefähr 23%.
4.5.2 Der Ausgleich der Profitraten
Die beiden Produktionszweige produzieren also unterschiedliche Massen an Mehrwert und haben unterschiedliche Profitraten. Wenn wir davon ausgehen, dass Kapital und Arbeitskräfte einigermaßen beweglich sind, wird dieser Zustand allerdings nicht so bleiben. Denn für die Kapitalisten in Branche B gibt es keinen Grund, auf Dauer eine niedrigere Profitrate zu akzeptieren als die anderen Kapitalisten. Sie werden daher ihr Kapital abziehen und in der profitableren Branche A investieren. Dadurch steigt in Branche A das Warenangebot, während es in Branche B sinkt. Das wirkt sich natürlich auf die Preise der Waren in den beiden Branchen aus, die sich jetzt tendenziell aufeinander zubewegen werden, bis zu dem Punkt, wo die Profitrate in beiden Branchen gleich hoch liegt. Die Profitraten der verschiedenen Branchen nähern sich der Durchschnittsprofitrate der Gesamtwirtschaft an. Auf diese Weise ist es möglich, dass Unternehmen die viel mehr Mehrwert produzieren als andere am Ende trotzdem denselben Profit realisieren.
Das bedeutet aber, dass die Warenpreise auch nicht direkt von der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit bestimmt sein können. Denn der Ausgleich zur Durchschnittsprofitrate beruht ja gerade darauf, dass die Preise durch den Ab- und Zufluss von Kapital aus den verschiedenen Sektoren stark von den Werten der jeweiligen Produkte abweichen. Das heißt, die Vorstellung, wonach die Preise um die Warenwerte schwanken, wie wir es bisher angenommen hatten, ist bei genauerem Hinsehen falsch. Durch den Ausgleich der Profitraten entsteht eine andere Größe, um die die Marktpreise sich bewegen: Den Produktionspreis. Der tatsächlich gehandelte Marktpreis ist manchmal höher und manchmal niedriger als der Produktionspreis, abhängig von kurzfristigen Schwankungen des Angebots und der Nachfrage. Letzten Endes sind die Produktionspreise aber das Zentrum, um das die Marktpreise schwanken.
Bedeutet das nicht, dass die Arbeitswerttheorie widerlegt ist? Wenn die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit überhaupt nicht die Warenpreise bestimmt, wozu braucht man dann den Wertbegriff überhaupt noch? Nun, die Aussage des Wertgesetzes ist nur, dass letzten Endes die Preise durch die Werte reguliert werden. Und das werden sie auch, denn wenn die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit zur Produktion einer Ware sinkt bzw. steigt, dann sinkt bzw. steigt auch der Preis. Da die Produktionspreise ja durch eine Umverteilung von Wert entstanden (und nicht durch neu entstandenen Wert), ist gesamtgesellschaftlich gesehen die Summe der Preise trotzdem weiterhin gleich der Summe der Werte. Auch die Summe der Profite entspricht der Summe des Mehrwerts. Warum außerdem der Begriff des Werts für das Verständnis der kapitalistischen Produktionsweise unverzichtbar ist, sollte klar geworden sein: Durch den Wert wird überhaupt erst verständlich, warum Waren in einem bestimmten Verhältnis gegeneinander getauscht werden. Und auf Grundlage der Marxschen Arbeitswerttheorie wird erklärbar, woher der Profit kommt.
4.5.3 Der tendenzielle Fall der Profitrate
Die Erkenntnis, dass die Profitrate von der organischen Zusammensetzung des Kapitals bestimmt wird, hat noch eine andere sehr wichtige Konsequenz. Denn natürlich variiert die organische Zusammensetzung nicht nur zwischen verschiedenen Branchen und Unternehmen, sondern sie verändert sich auch mit der Zeit bei einem einzelnen Unternehmen. Nehmen wir uns dafür wieder das Kapital aus Branche A als Beispiel. Seine Zusammensetzung war:
600.000 € (c) + 400.000 € (v) + 400.000 € (m) = 1,4 Mio. €
Durch eine Erfindung steigt nun aber die organische Zusammensetzung. Eine neue Maschine ersetzt viele Arbeiter, sodass jetzt c 700.000 € beträgt, aber v nur noch 200.000 €. Der Kapitalist hat also insgesamt weniger Ausgaben, nämlich nur noch 900.000 € statt 1 Mio. €. Was passiert aber nun mit dem Mehrwert? Wenn die Mehrwertrate gleichbleibt, also der Mehrwert genauso groß ist wie das variable Kapital, beträgt der Mehrwert jetzt nur noch 200.000 €. Die Profitrate beträgt dann 200.000 € geteilt durch 900.000 €, also 22,2%.
Aber wie ist das möglich? Der Kapitalist hat die neue Maschine ja gerade eingeführt, um produktiver zu sein und einen Extraprofit zu erzielen. Das stimmt und zunächst wird daher seine individuelle Profitrate auch steigen. Seine Waren werden ja billiger, wodurch er einen Extraprofit einstreichen kann. Der Extraprofit bedeutet ja, dass Wert, der an anderer Stelle produziert wurde, nun an den Kapitalisten mit der fortgeschritteneren Produktionstechnik fließt.
Aber was passiert gesamtgesellschaftlich, wenn die organische Zusammensetzung des Kapitals steigt? Im Verlauf der Entwicklung des Kapitalismus ist das unweigerlich der Fall, denn der Fortschritt der Produktivkräfte geht langfristig immer damit einher, dass bestimmte Arbeitsschritte von Maschinen übernommen und dadurch menschliche Arbeitskräfte eingespart werden. Der Umfang der notwendigen Investitionen in immer komplexere Maschinen und Technologien, die immer größere Mengen an Material verarbeiten können, steigt deshalb unweigerlich an, während die Zahl der Arbeiter und der Umfang der Löhne, die sie erhalten, nicht in demselben Maß steigt.
Wenn nun die lebendige Arbeit im Verhältnis zur „toten“ Arbeit immer weniger wird, bedeutet das nichts anderes, als dass eine vorgegebene Masse an investiertem Kapital immer weniger Mehrwert produziert. Oder anders gesagt: Mit der steigenden organischen Zusammensetzung des Kapitals sinkt gesamtgesellschaftlich gesehen die Profitrate.
Marx schrieb über das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate: „Es ist dies in jeder Beziehung das wichtigste Gesetz der modernen politischen Ökonomie und das wesentlichste, um die schwierigsten Verhältnisse zu verstehen.“ (Marx: Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, MEW 42, S. 641). Es handelt sich dabei aber nur um ein tendenzielles Gesetz, da die Profitrate keineswegs immer und überall fällt. Es gibt Phasen mit steigender Profitrate und es gibt Faktoren, die dem Fall der Profitrate entgegenwirken. Marx führt einige dieser Faktoren auf: Die Erhöhung der Ausbeutungsrate der Arbeit, das Herunterdrücken des Arbeitslohns unter seinen Wert, die Verbilligung der Bestandteile des konstanten Kapitals (indem z.B. ältere Maschinen durch den technischen Fortschritt an Wert verlieren), relative Überbevölkerung, auswärtigen Handel und die Zunahme des Aktienkapitals. Hier ist nicht der Ort, diese Faktoren im Einzelnen zu untersuchen. Marx zeigt jedenfalls, warum sie alle den Fall der Profitrate zwar verlangsamen und zeitweilig auch umkehren, aber langfristig dennoch nicht aufhalten können.
Im tendenziellen Fall der Profitrate zeigt sich die historische Endlichkeit des Kapitalismus. Die Profitrate ist, wie bereits gezeigt wurde, die für die Kapitalakkumulation bestimmende Größe, von der die Entwicklung des Kapitalismus abhängt. Da der tendenzielle Fall der Profitrate ein sich langfristig zwangsläufig durchsetzendes Gesetz des Kapitalismus ist, verlangsamt sich mit der Zeit auch die Akkumulation des Kapitals und Krisenphasen mit niedrigen oder gar negativen Profitraten vertiefen sich tendenziell.
Viele Studien aus verschiedenen Ländern zeigen, dass tatsächlich in den meisten entwickelten kapitalistischen Ländern über viele Jahrzehnte hinweg die Profitrate gefallen ist. Damit gibt es einen weiteren empirischen Beleg für die Richtigkeit der Marxschen These vom tendenziellen Fall der Profitrate und indirekt auch für die Richtigkeit der Arbeitswerttheorie, die dieser These zugrunde liegt.
Arbeitsfragen:
- Was ist die Profitrate und warum gleicht sie sich zur Durchschnittsprofitrate aus? Was bedeutet das für die Preise der Waren?
- Warum kommt es zum tendenziellen Fall der Profitrate?
Diskussionsfragen:
- Obwohl die Warenpreise nicht den Warenwerten entsprechen, argumentiert der Text, dass die Arbeitswerttheorie trotzdem gültig ist. Ist das plausibel?
- Was sind die Auswirkungen des tendenziellen Falls der Profitrate auf die Gesellschaft?
4.6 Kreditwesen und fiktives Kapital
Im Kapitalismus hat das Geld neben seinen sonstigen Funktionen auch den besonderen Gebrauchswert, als Kapital zu fungieren: Wer eine Geldsumme besitzt, kann diese so investieren, dass sie einen Profit abwirft. Geld schafft, als Kapital angelegt, also mehr Geld. Wie andere Gebrauchswerte lässt sich auch dieser Gebrauchswert auf dem Markt handeln. Wird Geld ausgeliehen, so wird dieser Gebrauchswert, als Kapital zu fungieren, für einen bestimmten Zeitraum verkauft. Das Kapital selbst wird dabei wie eine Ware gehandelt, es wird gekauft und verkauft. Der Preis dafür ist ein Teil des produzierten Mehrwerts, den der Schuldner (der den Kredit aufgenommen hat) dem Gläubiger (der den Kredit vergeben hat) auszahlt. Diesen Preis des Geldkapitals nennt man Zins.
4.6.1 Der Kredit
Das Kreditwesen entfaltet sich notwendigerweise mit der Entwicklung des Kapitalismus. Wenn die Kapitalisten nur mit ihrem Eigenkapital produzieren und akkumulieren könnten, wäre ihre Fähigkeit zur Akkumulation sehr beschränkt. Sie müssten mit ihren Investitionen immer so lange warten, bis sie genug Einkommen angehäuft haben, um die erforderlichen Ausgaben aus der eigenen Tasche bestreiten zu können. Durch das Kreditwesen wird diese Schranke der Kapitalakkumulation überwunden. Der Kapitalist kann nun zur Bank gehen und einen Kredit aufnehmen, wodurch sich seine Möglichkeit zur Kapitalakkumulation vergrößert. Hat ein Kapitalist beispielsweise ein Eigenkapital von 1 Mio. €, so würde er bei einer Durchschnittsprofitrate von 10% einen Mehrwert von 100.000 € produzieren. Wenn er nun aber einen Kredit von 1 Mio. € bei der Bank aufnimmt, verdoppelt sich das Kapital, das er investieren kann. Er investiert also nun 2 Mio. € und realisiert dementsprechend einen Mehrwert von 200.000 €. Natürlich hat die Bank dem Industriellen den Kredit aber nicht aus Freundlichkeit gewährt, sondern weil sie dafür einen Zins erhält. Nehmen wir an, der Zinssatz liegt bei 5%. Dann müsste der industrielle Kapitalist also 50.000 € Zinsen an die Bank zahlen. Er hätte dann aber bei einem Ausgangskapital von 1 Mio. € immer noch einen Profit von 150.000 € übrig, oder eine Profitrate von 15%. Solange der Zinssatz niedriger ist als die Profitrate, was meistens der Fall ist, lohnt es sich also für die produktiven Kapitalisten, Kredite aufzunehmen, ihre Produktion damit auszuweiten und ihre Profitrate auf diese Weise zu erhöhen.
Die Entstehung des Kreditgeschäfts ist aber nicht nur ab einer gewissen Stufe Voraussetzung für die weitere Ausdehnung der Kapitalakkumulation – sondern die Akkumulation des Kapitals bringt umgekehrt auch das Kreditgeschäft hervor. Denn die industriellen Kapitalisten müssen für jede größere Investition erst einmal genug von ihrem Profit ansparen, bis sie sich die Investition leisten können. In der Zwischenzeit häufen sie also Profit in Form von Geld an, das vorläufig nicht in die Produktion von Mehrwert angelegt werden kann, also nicht als Kapital fungiert. Aus Sicht des Kapitalisten, der immer danach bestrebt sein muss, dass sein Geld möglichst zu jeder Zeit Profit abwirft, ist das eine Verschwendung. Dieses Geld ist „absolut unproduktiv, läuft dem Produktionsprozeß in dieser Form parallel, liegt aber außerhalb desselben. Es ist ein Bleigewicht (dead weight) der kapitalistischen Produktion. Die Sucht, diesen als virtuelles Geldkapital sich aufschatzenden Mehrwert sowohl zum Profit wie zur Revenue (d.h. Einkommen, Anmerkung der KO) brauchbar zu machen, findet im Kreditsystem und in den ‚Papierchens‘ (gemeint ist das Aktiensystem, Anmerkung der KO) das Ziel ihres Strebens.“ (Marx: Das Kapital, Band II, MEW 24, S. 494). Indem dieses Geld des industriellen Kapitalisten in das Kredit- und Aktiensystem fließt, kann es anderswo in produktive Anlagen kanalisiert werden und wirft für den Kapitalisten dann immerhin einen Zins ab.
Der Bankkredit hat auch gesamtgesellschaftlich eine Auswirkung gehabt: Hier wurde nicht einfach nur Einkommen umverteilt, sondern der produktive Kapitalist wurde durch den Kredit in die Lage versetzt, mehr Arbeiter einzustellen und schneller zu investieren. Das Kreditwesen erhöht somit also die Umschlagsgeschwindigkeit des Kapitals bzw. verringert die Umschlagszeit. Das Kapital kann schneller einen Mehrwert realisieren und schneller wieder investieren. Indem dieser Kreislauf in kürzerer Zeit von statten geht, wird dadurch insgesamt mehr Mehrwert produziert als es sonst der Fall gewesen wäre.
4.6.2 Das fiktive Kapital
Wie wir gesehen haben, wird das Kreditgeschäft zu einem eigenen Tätigkeitsfeld des Kapitals. Tatsächlich existieren Geldverleiher und Banken schon lange vor dem Kapitalismus, aber erst im Kapitalismus können sie eine wirklich zentrale Rolle spielen. Denn erst im Kapitalismus wird systematisch Mehrwert produziert und akkumuliert, sodass es überhaupt möglich ist, im großen Stil Kredite aufzunehmen und Zinsen zu zahlen, ohne dass der Schuldner dabei notwendigerweise verarmt. Den Teil des Kapitals, der sein Einkommen überwiegend aus Zinsen bezieht, wird zinstragendes Kapital genannt. Das Einkommen des zinstragenden Kapitals ist abhängig davon, wie viele vertrauenswürdige Kreditnehmer es vorfindet, ob die Kredite auch zurückgezahlt werden (denn natürlich ist jeder Kreditausfall ein Verlust für die Bank) und schließlich vor allem davon, wie hoch der Zinssatz ist. Den Zinssatz kann die Bank nicht beliebig festlegen, sondern sie muss sich an dem durchschnittlichen Zinssatz auf dem Kreditmarkt orientieren. Im Gegensatz zur durchschnittlichen Profitrate, die von der Mehrwertproduktion abhängig ist, wird der Zinssatz vom Angebot und der Nachfrage nach Leihkapital bestimmt.
Das zinstragende Kapital vollzieht nun nicht die Bewegung Geld – Ware – Geld‘ (G-W-G‘), wie es das produktive Kapital tut. Stattdessen wird das Geld an einen produktiven Kapitalisten verliehen, der es dann investiert, um damit Waren zu produzieren, damit einen Mehrwert zu realisieren und einen Teil dieses Mehrwerts schließlich als Zins zurückzuzahlen. Die Bewegung des zinstragenden Kapitals, wenn es auf dem produktiven Kapital beruht, sieht also so aus:
G – G – W – G‘ – G‘
Vom Standpunkt des zinstragenden Kapitals ist es aber unerheblich, was in der Zwischenzeit mit dem ausgeliehenen Geld passiert. Die Bank interessiert nur, dass der Kredit mitsamt dem Zins fristgerecht zurückgezahlt werden. Für die Bank ist die Formel der Kapitalakkumulation also einfach: G – G‘. Geld, das mehr Geld schafft. Das zinstragende Kapital sieht also so aus, als würde es einfach aus dem Nichts einen Profit schaffen. Man sieht ja nicht mehr, dass der Profit in der Produktion entsteht. Ähnlich wie der Warenfetisch die Illusion erzeugt, dass die Beziehungen der Waren einfach natürliche Bewegungen von Dingen seien, so erzeugt der Zinsfetisch die Vorstellung, dass man einfach „sein Geld für sich arbeiten lassen“ kann, also dass Geld sich irgendwie auf wundersame Weise von selbst vermehren könne.
Neben dem klassischen Kreditgeschäft, bei dem ein Kapitalist zu einer Bank geht und mit ihr einen Kredit zu bestimmten Bedingungen aushandelt, gibt es auch andere Formen des zinstragenden Kapitals als das Bankkapital. Die an dieser Stelle wichtigste Form ist das Aktienkapital. Große Unternehmen gehen meistens an die Börse und werden zu Aktiengesellschaften, deren Anteile jeder Mensch mit Geld kaufen kann. Wer eine Aktie, ein Wertpapier eines Unternehmens kauft, gibt damit dem Unternehmen einen Kredit und wird durch diesen Akt formal zum Miteigentümer des Unternehmens, auch wenn der Besitz von einer oder wenigen Aktien in Wirklichkeit keine realen Mitbestimmungsrechte verleiht. Die Aktie ist (anders als der Bankkredit) ein Anspruch auf einen Anteil der Firma. Anders als der Bankkredit wird sie auch nicht einmal zurückgezahlt und erlischt, sondern bleibt bestehen und wirft eine regelmäßige Dividende ab, also einen Anteil am Profit der Firma.
Es kommt also zu einer eigenartigen „Verdopplung“ des Kapitals: Das in der Produktion investierte Kapital, z.B. in Form von Maschinen, Strom, Fabrikgebäuden usw. existiert weiterhin und wird zur Produktion von Mehrwert eingesetzt. Aber gleichzeitig existiert mit dem Wertpapier dieses Kapital ein zweites Mal als Eigentumsanspruch. Das Wertpapier selbst ist nichts wert, aber es wird so behandelt und gehandelt, als wäre es das wirkliche Kapital. Dieses Kapital wird als fiktives Kapital bezeichnet, weil im strengen Sinne kein wirkliches Kapital ist, sondern nur der Anspruch auf das wirkliche Kapital, als Eigentumstitel, mit dem man Anspruch auf erwartete zukünftige Gewinne (im Fall der Aktien) oder bereits in der Vergangenheit geschaffene Werte (Unternehmensanleihen, Staatsanleihen usw.) erhebt. Der fiktive Charakter dieses Kapitals zeigt sich auch daran, dass sein Preis nur noch indirekt mit der realen Wertproduktion zusammenhängt. Denn die Wertpapiere werden auf dem Kapitalmarkt nach einem Preis gehandelt, der von Angebot und Nachfrage nach dem Wertpapier bestimmt ist. Da Angebot und Nachfrage verschiedenen Faktoren folgen, kann die Preisbildung der Wertpapiere sich relativ unabhängig von den realen Profitaussichten vollziehen.
So wie das Kapital sich mit der Entstehung des fiktiven Kapitals „verdoppelt“, so zerfällt auch der Kapitalist in zwei verschiedene Funktionen. Zum einen gibt es den fungierenden Kapitalisten, den Anwender des Kapitals, der die Akkumulation des Kapitals und Ausbeutung der Arbeitskraft beaufsichtigt und organisiert. Zum anderen gibt es den Kapitalisten als Eigentümer, der nicht in den Produktionsprozess involviert ist, aber trotzdem einen Eigentumsanspruch auf das Kapital erhebt. Beide Funktionen können in derselben Person vereint sein, wie es heute noch bei den meisten kleineren Familienunternehmen der Fall ist. Sie können aber auch getrennt sein: Dann gehört einem (oder mehreren) Kapitalisten das Unternehmen, während sie einen Manager einstellen, der sich für ein Gehalt um das operative Geschäft kümmert. Doch auch wenn der fungierende Kapitalist der Form nach einen „Lohn“ bekommt, ist er kein Arbeiter, sondern Kapitalist, da er die Ausbeutung der Arbeitskraft organisiert.
Eine häufig gehörte Meinung zum zinstragenden/fiktiven Kapital ist die, dass die Banken eine besonders kritikwürdige Form des Kapitals seien, weil sie ein Zinseinkommen erhalten, ohne selbst etwas dafür zu tun. Diese Sichtweise ist aus zwei Gründen falsch: Erstens ist jedes Kapital eine Form von sozialem Parasitismus. Denn auch der industrielle Kapitalist produziert den Mehrwert nicht selbst, sondern gewinnt ihn aus der Ausbeutung fremder Arbeit. Zweitens gehört das zinstragende Kapital zwangsläufig zum Kapitalismus dazu und erfüllt eine Funktion in ihm, indem es die Umschlagszeit des Kapitals verkürzt und damit insgesamt die Kapitalakkumulation fördert. Es ergibt also keinen Sinn, nur den Zins abschaffen zu wollen, während die Ausbeutung an sich weiter besteht.
Arbeitsfragen:
- Warum entsteht im Kapitalismus ein Kreditwesen? Welche Funktionen erfüllt es?
- Was ist fiktives Kapital und warum wird es so genannt?
Diskussionsfragen:
- Verschiedene Theorien schlagen ein Wirtschaftsmodell vor, in dem es zwar weiterhin private Unternehmen und Lohnarbeit gäbe, aber keinen Zins mehr. Wäre das eine Lösung oder zumindest eine Verbesserung?
4.7 Monopol, Finanzkapital und Imperialismus
Die Entwicklung des Kapitalismus geht gesetzmäßig damit einher, dass sich in den Händen der Kapitalisten immer mehr Kapital konzentriert. Die Akkumulation des Kapitals bedeutet ja nichts anderes, als dass Mehrwert immer wieder investiert wird, um das Kapital des Unternehmens immer weiter wachsen zu lassen, sodass die Menge an Kapital, die ein einzelner Kapitalist unter seinem Kommando hat, immer größer wird. Akkumulation und Konzentration des Kapitals sind somit nur verschiedene Ausdrücke für denselben Vorgang.
Die Konkurrenz der Kapitale untereinander führt gleichzeitig auch dazu, dass stärkere Kapitalisten die schwächeren vom Markt drängen, indem sie ihre Waren billiger verkaufen können als diese (oder mit höherer Qualität usw.). Sie übernehmen dann deren Marktanteile und beschäftigen mehr Arbeiter, um ihre Produktion ausdehnen zu können. Oder aber sie kaufen andere Kapitale auf oder schließen sich mit ihnen zusammen (Fusionen und Übernahmen). In all diesen verschiedenen Fällen ist das Ergebnis letztlich dasselbe, nämlich dass anstelle der vielen kleineren Kapitale wenige größere nun die Produktion und den Warenverkauf kontrollieren. Diesen Prozess bezeichnet man als Zentralisation des Kapitals. Während die Konzentration des Kapitals einfach Wachstum des Betriebskapitals eines einzelnen Kapitalisten durch Anhäufung von Mehrwert ist, bezeichnet die Zentralisation die Zusammenführung von bereits vorhandenen, aber getrennt akkumulierenden Kapitalen in weniger Einheiten und unter dem Kommando einer kleineren Zahl von Kapitalisten.
Beide Prozesse schreiten im Kapitalismus unaufhaltsam voran. Sie führen dazu, dass immer größere Bereiche der Wirtschaft von einer immer kleineren Anzahl von Unternehmen beherrscht werden. Während in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den allermeisten Industriezweigen noch eine Vielzahl von Unternehmen miteinander konkurrierte, änderte sich das am Ende des 19. Jahrhunderts. Es entstanden nun riesige Konzerne, die ganze Branchen untereinander aufteilten und es schafften, diese weitgehend zu beherrschen. In Deutschland war z.B. die Elektroindustrie Anfang des 20. Jahrhunderts von den beiden Konzernen AEG und Siemens dominiert, die Chemieindustrie von BASF, Hoechst, Bayer und Agfa, die Eisen- und Stahlindustrie ebenfalls von wenigen Konzernen wie Thyssen, Krupp, Hoesch und Mannesmann und der Bankensektor von der Deutschen Bank, der Darmstädter Bank (später Danat-Bank), der Dresdner Bank, Commerzbank und Disconto-Gesellschaft. In England, Frankreich, den USA oder Japan sah es ähnlich aus.
Das Kreditwesen hat sich als ein sehr wichtiger Hebel der Konzentration und Zentralisation des Kapitals erwiesen. Indem es untätiges Kapital aus allen Bereichen der Wirtschaft sammelt und in profitversprechende Investitionen kanalisiert, indem es Großunternehmen leichteren Zugang zu frischem Kapital ermöglicht als kleinen Kapitalisten, indem es durch das Aktiensystem den großen Unternehmen neue Möglichkeiten der Finanzierung, aber auch der Übernahme anderer Firmen erschließt, trägt das Finanzsystem enorm dazu bei, dass sich immer größere Massen an Kapital unter einem Kommando zusammenballen.
4.7.1 Das Monopolkapital
Die Großunternehmen, die ganze Wirtschaftszweige alleine oder mit wenigen Konkurrenten gemeinsam kontrollieren können, nennt man Monopolkapital. In der marxistischen Theorie spricht man auch dann von Monopolen, wenn es mehrere, aber wenige Unternehmen gibt, die einen Zweig kontrollieren, obwohl Monopol aus dem Altgriechischen übersetzt eigentlich „einziger Verkäufer“ bedeutet. Trotzdem ist diese weiter gefasste Verwendung des Monopolbegriffs sinnvoll, weil das ökonomische Phänomen grundsätzlich dasselbe ist, ob ein Wirtschaftsbereich von einem oder wenigen Konzernen beherrscht wird. In beiden Fällen kann das Monopolkapital durch seine Kontrolle des Verkaufs die Preise heraufsetzen. Denn auch wenn es mehrere Monopolkapitalisten in einer Branche gibt, lassen diese sich erfahrungsgemäß nur selten auf einen Unterbietungswettbewerb bei den Preisen ein, sondern nutzen viel eher gemeinsam ihre Stellung aus, um Extraprofite durch höhere Preise zu erzielen. Diese Extraprofite bedeuten nichts anderes, als dass ein Teil des Mehrwerts, den andere, nichtmonopolistische Unternehmen schaffen, wegen der Monopolpreise an die Monopolkapitalisten fließt und die Profite der kleinen Kapitalisten verringert. Oft können die Monopole aber umgekehrt auch ihren Zulieferern niedrige Preise aufzwingen, weil diese mit ihren Lieferbeziehungen an dem großen Monopol hängen und diesem weitgehend ausgeliefert sind. Natürlich besteht aber für die Arbeiterklasse kein Anlass, irgendein Mitleid mit den nichtmonopolistischen Kapitalisten zu empfinden – denn diese sind immer noch ihre Ausbeuter und gerade weil ihre Spielräume sich durch das Monopolkapital verringern, versuchen sie umso mehr, ihren Profit zu erhöhen, indem sie den Arbeitern niedrige Löhne zahlen und oft einen regelrechten Krieg gegen jede Form der gewerkschaftlichen Organisierung entfesseln.
Formen des Monopols
In der Geschichte des Kapitalismus haben sich verschiedene Formen des Monopolkapitals herausgebildet. Die einfachsten Formen des Monopols sind kurzfristige Abmachungen über Verkaufspreise. Bildet sich daraus eine längerfristige Partnerschaft, in der Vereinbarungen über die Menge des Warenausstoßes, die Preise, Aufteilung der Absatzmärkte und ähnliches getroffen werden, spricht man von einem Kartell. Beim Kartell sind die einzelnen Unternehmen weiterhin eigenständig. Im Gegensatz dazu ist ein Trust ist ein Monopol, wo verschiedene Unternehmen zusammengeschlossen wurden, um gemeinsam eine Monopolstellung zu erringen und die Preise kontrollieren zu können. Eine wiederum andere Form des Monopols ist der Konzern, bei dem es weiterhin untergeordnete Einzelunternehmen gibt, die formal selbstständig sind, aber sich unter der Kontrolle und in finanzieller Abhängigkeit von der Zentrale des Konzerns befinden. Der Konzern ist heute eine überaus einflussreiche und verbreitete Form des Monopols.
Der Übergang zum Zeitalter des Monopolkapitalismus war kein Zufall, sondern wurde mit der Entwicklung des Kapitalismus zwangsläufig. Die Einführung neuer Produktionsverfahren im Verlauf der zweiten Welle der Industriellen Revolution am Ende des 19. Jahrhunderts führte dazu, dass die organische Zusammensetzung des Kapitals sprunghaft anstieg. Das heißt, es wurden immer teurere Produktionsverfahren eingesetzt, die einen riesigen Investitionsaufwand bedeuteten, den kleinere Unternehmen sich gar nicht leisten konnten. Die Produktion in den neuen Industriezweigen (wie der Elektro- und Chemieindustrie, dann zunehmend auch der Automobilindustrie) war nur im großen Maßstab überhaupt rentabel und sinnvoll organisierbar. Dadurch kam es zwangsläufig zu Monopolen, denn die Schwelle an Mindestkapital, das ein Kapitalist investieren musste, um in diese Branchen überhaupt einsteigen zu können, wurde immer höher, wodurch es immer weniger Konkurrenten für die großen Monopole gab.
4.7.2 Das Finanzkapital
Die stürmische Entwicklung der Industrie in den führenden kapitalistischen Ländern (zu denen nun auch das Deutsche Reich gehörte) förderte die Zentralisation des Kapitals einerseits immer weiter, setzte sie aber andrerseits auch voraus, da immer größere Kapitalmassen notwendig waren, um die Industrieproduktion auf dem modernen technischen Niveau zu ermöglichen. Hier spielte das zinstragende Kapital in Form der Banken und Aktiengesellschaften eine unverzichtbare Rolle. Die Banken waren nicht nur Kreditgeber der Industrie, sondern entwickelten auch enge Beziehungen zu den Industriekonzernen, indem sie Vertreter in ihre Aufsichtsräte entsandten und Anteile an den industriellen Unternehmen erwarben. Die Aktiengesellschaften entwickelten sich als eine alternative Form der Finanzierung von industriellen Unternehmen.
In beiden Fällen haben wir es mit einer neuartigen Beziehung zwischen dem zinstragenden und dem produktiven Kapital zu tun. Lenin spricht aufgrund der oben beschriebenen Entwicklungen und in Anlehnung an den sozialdemokratischen Ökonomen Rudolf Hilferding von immer engeren Beziehungen zwischen dem Bankkapital und dem Industriekapital und sogar von einer Verschmelzung der beiden Kapitalsorten. Diese Verschmelzung bedeutet allerdings nicht, dass Banken und Industriekonzerne aufhören, als getrennte Unternehmen zu existieren. Aber durch das Aktiensystem an der Börse haben Banken und auch andere Unternehmen die Möglichkeit, Anteile eines Industriekonzerns zu kaufen und darüber auch Einfluss auf seine Geschäftsstrategie zu nehmen.
Lenin schreibt dazu: „Zugleich entwickelt sich sozusagen eine Personalunion der Banken mit den größten Industrie- und Handelsunternehmungen, eine beiderseitige Verschmelzung durch Aktienbesitz, durch Eintritt der Bankdirektoren in die Aufsichtsräte (oder die Vorstände) der Handels- und Industrieunternehmungen und umgekehrt“ (Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, LW 22, S. 224). Und: „Die Folge ist einerseits eine immer größere Verschmelzung oder, nach einem treffenden Ausdruck von N.I. Bucharin, ein Verwachsen des Bankkapitals mit dem Industriekapital, und anderseits ein Hinüberwachsen der Banken in Institutionen von wahrhaft ‚universalem Charakter‘.“ (ebenda, S. 226).
Die Trennung des Kapitaleigentums vom fungierenden Kapital durch das fiktive Kapital führt dazu, dass aus der Sicht der Investoren auch das industrielle Kapital die Bewegung des fiktiven Kapitals vollzieht: Auch das in die Aktien eines Industriekonzerns investierte Kapital wirft einfach Rendite ab (die Bewegung G – G‘), ohne dass der investierende Kapitalist es selbst in die Produktion angelegt hätte, um Maschinen zu kaufen, Arbeiter zu bezahlen usw. Lenin schreibt dazu: „Die Trennung des Kapitaleigentums von der Anwendung des Kapitals in der Produktion, die Trennung des Geldkapitals vom industriellen oder produktiven Kapital, die Trennung des Rentners, der ausschließlich vom Ertrag des Geldkapitals lebt, vom Unternehmer und allen Personen, die an der Verfügung über das Kapital unmittelbar teilnehmen, ist dem Kapitalismus überhaupt eigen.“ (Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, LW 22, S. 242). Aber im Monopolkapital erreichen diese Phänomene eine neue Qualität. Auch die Industriemonopole selbst sind also so organisiert, dass sie an der Akkumulation von fiktivem Kapital, von Eigentumstiteln am Kapital orientiert sind. Was Lenin hier beschreibt, ist also eine neue Art von Kapital. Diese Verschmelzung von Bank- und Industriekapital nennt er Finanzkapital. Das Finanzkapital besteht also nicht einfach nur aus Banken, Versicherungen usw., sondern auch aus industriellen Monopolen. Die Kapitalisten, die dieses monopolistische Finanzkapital kontrollieren, kann man auch als Finanzoligarchie bezeichnen, da es sich um eine kleine Schicht von Personen handelt, die allein aufgrund ihres Eigentums am Finanzkapital riesige Renditen erwirtschaften, den Großteil der Wirtschaft kontrollieren, einen Teil des Mehrwerts von den nichtmonopolistischen Kapitalisten abpressen und dadurch in ihren Händen enorme Macht konzentrieren können. „Das Übergewicht des Finanzkapitals über alle übrigen Formen des Kapitals bedeutet die Vorherrschaft des Rentners und der Finanzoligarchie“ (ebenda, S. 242; mit „Rentner“ sind hier Personen gemeint, die ohne eigene Arbeit und ohne produktive Investitionen allein durch ihr Eigentum an Geldkapital ein ständiges Geldeinkommen erhalten, Anmerkung KO).
Diskussionen über die Bestimmung des Begriffs „Finanzkapital“
Es gibt eine Diskussion darüber, ob die Bestimmung des Finanzkapitals als Verschmelzung von Industrie- und Bankkapital noch geeignet ist, die heutige Realität richtig zu beschreiben. Auf der einen Seite gibt es die Position, dass Lenins Definition des Finanzkapitals, wie sie oben dargestellt wurde, weiterhin uneingeschränkt gültig ist. Demnach sind nationale Besonderheiten bei der Unternehmensfinanzierung von zweitrangiger Bedeutung und ändern nichts daran, dass wir weiterhin vom Finanzkapital als der Verschmelzung von Bank- und Industriekapital sprechen können.
Diese Position wurde in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder kritisiert. Zahlreiche Autoren haben darauf verwiesen, dass das enge Geflecht aus Banken und Industrieunternehmen, wobei die Banken die Industrie über Aktieneigentum und Aufsichtsratsmandate kontrollieren würden, eher eine spezifische Form darstellte, die in Deutschland und manchen anderen Industrieländern vorherrschte, aber nicht überall so vorzufinden sei. Zudem habe sich dieses Geflecht auch in Deutschland seit den 1980er/90er Jahren zu einem großen Teil aufgelöst, da die Banken den Großteil ihrer Anteile an Industriekonzernen verkauft hätten. Der Begriff „Finanzkapital“ für diese Art der „Verschmelzung“ sei daher wenig sinnvoll. Meistens verwenden die Vertreter dieser Position den Begriff Finanzkapital daher einfach für das fiktive Kapital.
Es gibt noch eine dritte Position zu dieser Frage: Vertreter dieser Interpretation teilen die Kritik, dass die Definition des Finanzkapitals als Verschmelzung der Banken mit der Industrie zu kurz greift und dass sie eher nationale Besonderheiten und bestimmte Entwicklungsphasen des imperialistischen Kapitalismus beschreibt. Demnach spielen z.B. Banken nicht überall eine gleich wichtige Rolle, zudem gebe es auch andere Formen des zinstragenden Kapitals, die heute eine wichtige Rolle spielten (z.B. Investmentfonds, Rentenfonds, Versicherungen usw.). Diese Autoren argumentieren jedoch anders als die Vertreter der zweiten Position, dass der Begriff des Finanzkapitals sich nicht auf die Verschmelzung der Institutionen von Bank und Industrieunternehmen oder ihrer jeweiligen institutionellen Funktionen bezieht, sondern auf ein Verschmelzen des Eigentums. Das Kapitaleigentum in den Händen der Finanzoligarchie verselbstständigt sich mit der Entwicklung des Monopolkapitalismus zunehmend gegenüber der Produktion des Mehrwerts und die unmittelbare Realisierung von Rendite (also der Prozess G – G‘ anstelle von G – W – G‘) zunehmend zur vorherrschenden Form der Kapitalakkumulation wird. Das Finanzkapital ist nach dieser Position also mehr als nur fiktives Kapital, sondern bezeichnet den Zusammenhang der Akkumulation von fiktivem und produktivem Kapital unter der Vorherrschaft des fiktiven Kapitals und damit die Verschmelzung des monopolisierten Kapitaleigentums der unterschiedlichen Kapitalsorten in den Händen der Finanzoligarchie.
Die Diskussion über den Begriff des Finanzkapitals werden wir im Rahmen des Klärungsprozesses führen.
Die Begriffe Finanzkapital und Monopolkapital hängen untrennbar miteinander zusammen. Es war der Übergang vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Monopolkapitalismus, der die Entstehung der riesigen Aktiengesellschaften und des engen Geflechts aus Banken und Industrie hervorgebracht hat. Die Entstehung und Konkurrenz der Monopole erforderte notwendigerweise die Form des Finanzkapitals, da nur so die riesigen Kapitalmassen aufzubringen waren, die für die modernen Technologien im Kapitalismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts und beginnenden 20. Jahrhunderts erforderlich waren.
4.7.3 Das imperialistische Stadium des Kapitalismus
Der Monopolkapitalismus ist aber keine bloß technische Veränderung im Kapitalismus, sondern eine eigene Epoche, ein Entwicklungsstadium des Kapitalismus. Lenin spricht vom monopolistischen Kapitalismus als dem imperialistischen Stadium des Kapitalismus. Laut Lenin weist der Imperialismus fünf grundlegende Merkmale auf:
„1. Konzentration der Produktion und des Kapitals, die eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, daß sie Monopole schafft, die im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen.
2. Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses „Finanzkapitals“.
3. der Kapitalexport, zum Unterschied vom Warenexport, gewinnt besonders wichtige Bedeutung.
4. es bilden sich internationale monopolistische Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen,
und 5. die territoriale Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet.“ (ebenda, S. 270f)
Die ersten beiden Punkte haben wir schon behandelt. Die Punkte 3 bis 5 betreffen die internationale Expansion des Monopolkapitals. Lenin zeigte, dass das Monopolkapital einen ständigen Kapitalüberschuss akkumuliert, also dass die Monopole mehr Mehrwert anhäufen, als sie im eigenen Land rentabel investieren können. Dass das so ist, ergibt sich aus dem Wesen des Monopolkapitals: Weil der Markt für ein bestimmtes Produkt bereits unter wenige Monopolkapitalisten aufgeteilt ist und von ihnen beherrscht wird, sind die Möglichkeiten, die Produktion weiter auszudehnen, begrenzt. Tun die Monopolkapitalisten es trotzdem, vergrößern sie das Warenangebot und drücken damit die Preise ihrer eigenen Waren nach unten, die sie ja gerade durch ihre Monopolstellung erhöhen konnten. In eine Ausweitung der Produktion zu investieren, führt unter diesen Bedingungen also nur zu niedrigeren Preisen, aber nicht zu höheren Profiten für die Monopole.
Die Profitrate ist aber auch für das Monopolkapital die entscheidende Größe, von der die Investitionsentscheidungen abhängen. Deshalb muss das Monopolkapital an anderer Stelle nach profitablen Investitionsmöglichkeiten suchen. Diese findet es oftmals nur im Ausland, in anderen entwickelten imperialistischen Ländern, oder in weniger entwickelten Ländern. Für die imperialistische Epoche ist daher eben nicht nur der Export von Waren kennzeichnend, der natürlich auch weiterhin eine große Rolle spielt, sondern besonders der Export von Kapital. Die Monopole suchen auf der ganzen Welt nach günstigen Möglichkeiten, Profite zu machen, sie etablieren Zweigstellen und Filialen, kaufen andere Unternehmen auf oder fusionieren mit ihnen. Dadurch entstehen die internationalen Monopolverbände, von denen Lenin spricht. Diese werden aber nicht „global“ in dem Sinne, dass sie keine Nationalität und keine besonderen Verbindungen zum Nationalstaat mehr hätten.
Im imperialistischen Entwicklungsstadium des Kapitalismus ist auch die territoriale Aufteilung der Welt beendet. Das heißt, es gibt keine größeren Gebiete mehr, die von niemandem beansprucht werden. Der einzige Weg für die Monopole und ihre Staaten, neue Absatz- und Investitionsgebiete zu erobern, besteht darin, anderen Mächten und Kapitalgruppen diese Gebiete zu entreißen. Und dieser Kampf findet in der Tat ständig statt: Der beendeten Aufteilung der Welt folgt also zwangsläufig ein ständiger Kampf um die Neuaufteilung der Welt, der mal mit „friedlichen“ Mitteln, also durch Waren- und Kapitalexport, Diplomatie, Geheimdienste usw., aber immer wieder auch durch Krieg ausgetragen wird.
Es ist ein Gesetz des Kapitalismus und besonders auch des imperialistischen Kapitalismus mit seinen international zugespitzten Widersprüchen, dass die Kapitalakkumulation sich regional und von Land zu Land sehr unterschiedlich entwickelt. Das komplexe Wechselspiel aus Konkurrenzkämpfen, politischen Strategien der Bourgeoisie, Auseinandersetzungen zwischen den Kapitalisten, Kriegen und Wirtschaftskrisen lässt bestimmte Länder und Regionen in der Hierarchie des imperialistischen Weltsystems aufsteigen, während andere relativ gesehen absteigen. Dadurch besteht grundsätzlich die Möglichkeit, dass auch Länder mit ehemals rückständiger kapitalistischer Entwicklung (z.B. China, teilweise Indien, Brasilien usw.) in der internationalen imperialistischen Hierarchie aufsteigen und die alten imperialistischen Führungsmächte herausfordern (Siehe Kasten).
Sind China und Russland imperialistische Länder?
Die These, dass einige ehemals rückständige Länder wie China, Südkorea, Brasilien, Indien usw., aber auch Russland innerhalb des imperialistischen Weltsystems ihre Position verbessert haben, ist in der kommunistischen Bewegung sehr umstritten. Nach Auffassung vieler kommunistischer Parteien oder Einzelpersonen aus dem marxistischen Spektrum sind diese Länder nicht als imperialistisch einzuschätzen, vielmehr wird Staaten wie China oder Russland oft sogar ein antiimperialistischer Charakter zugesprochen, da sie auch anders als die USA oder die führenden EU-Länder keine aggressive Außenpolitik betrieben. Im Kern geht es hier also um die Frage, ob der Imperialismus als weltweites System auf einer bestimmten Entwicklungsstufe des Kapitalismus zu begreifen ist oder vor allem als aggressive Außenpolitik. Im Rahmen des Klärungsprozesses beschäftigen wir uns auch mit dieser Frage ausführlich.
Der Krieg um Ressourcen, um Absatzmärkte, Handelswege usw. wird im Imperialismus zur Notwendigkeit. Oftmals handelt es sich um Kriege der führenden imperialistischen Mächte, um unterentwickelte Länder unter Kontrolle zu kriegen oder zu behalten. Es kommt aber auch ständig zu Spannungen zwischen den führenden imperialistischen Staaten und Blöcken, in denen immer die Gefahr enthalten ist, dass sie sich zur direkten kriegerischen Konfrontation ausweiten. Die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts waren das Ergebnis dieser zwischenimperialistischen Konflikte. Mit der immer weiteren Entwicklung der Waffentechnologie steigt auch das Maß der Zerstörung und des menschlichen Leides, das die imperialistischen Kriege verursachen.
So furchtbar der Krieg für den Großteil der Menschen ist, die davon betroffen sind – aus Sicht des Kapitals ist er nur die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, genauso wie umgekehrt die Politik in Friedenszeiten nur die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln darstellt. Der Imperialismus bringt aus sich heraus zwingend die Tendenz zur Aggression nach außen hervor.
Wenn der Imperialismus vor allem in der Vorherrschaft der großen Monopole besteht, also einer winzigen Minderheit von Großkapitalisten, müssten dann nicht fast alle Menschen gegen dieses System sein? Das ist in der Regel nicht der Fall, denn zum einen sind auch die nicht-monopolistischen Kapitalisten weiterhin an der Ausbeutung der Arbeiterklasse interessiert und verteidigen weiter ihre immer noch privilegierte Stellung als Ausbeuter. Zum anderen kommt es in den führenden imperialistischen Ländern auch in der Arbeiterklasse zu einer Differenzierung. Aufgrund der monopolistischen Extraprofite, die das Kapital in den entwickelten imperialistischen Ländern akkumulieren kann, vergrößert sich für diese Kapitalisten der Spielraum, um auch einem Teil der Arbeiterklasse höhere Löhne zu zahlen, sie mit sicheren Arbeitsbedingungen zu locken usw. Für einen Teil der Arbeiterklasse in entwickelten imperialistischen Ländern wie Deutschland, den USA usw. steigt also der Lebensstandard deutlich an. Andere Arbeiter, oft im selben Unternehmen, aber natürlich auch in anderen Branchen und erst recht in anderen Ländern, haben weniger Glück und müssen weiterhin von Löhnen leben, die gerade einmal zum Überleben reichen, oder nicht einmal das. Die Schicht der privilegierten Arbeiter, die „Arbeiteraristokratie“, wie Lenin sie nennt, versucht nun, tendenziell ihren Lebensstandard zu verteidigen, selbst wenn dies auf Kosten anderer Teile der Arbeiterklasse geht. An späterer Stelle werden wir sehen: Die Entstehung der Arbeiteraristokratie ist die gesellschaftliche und ökonomische Grundlage für die Verbreitung des Opportunismus in der Arbeiterbewegung.
4.7.4 Der Imperialismus als überreifer Kapitalismus
Lenin sprach vom Imperialismus als dem „hochentwickelten, reifen und überreifen Kapitalismus“ (ebenda, S. 102). Dass der Kapitalismus „überreif“ geworden ist, bedeutet, dass er eine historisch überholte Produktionsweise und Gesellschaftsordnung darstellt. Während die Bourgeoisie in ihrer frühen Zeit eine fortschrittliche Rolle gespielt hat, indem sie den Feudalismus beseitigte und die Entwicklung der Produktivkräfte entfesselte, ist sie nun längst in ein Zeitalter eingetreten, indem das Kapital, das Privateigentum an Produktionsmitteln zu Hindernissen für den weiteren gesellschaftlichen Fortschritt geworden sind. Das bedeutet nicht, dass der Kapitalismus in seinem monopolistischen Stadium keinen technischen Fortschritt mehr hervorbringen würde, denn im Gegenteil können die riesigen Zusammenballungen von Kapital, die den modernen Konzern konstituieren, auch riesige Summen für Forschung und Entwicklung aufbringen. Es bedeutet, dass gemessen an dem, was mit dem bereits erreichten Stand der Produktivkräfte möglich wäre, der Kapitalismus ein ineffizientes, verschwenderisches und zerstörerisches System ist. Das Monopolkapital verhindert neue Erfindungen, weil diese angesichts hoher Monopolprofite keinen entscheidenden Vorteil bringen; es führt zu immer schärferen Krisen, die mit gewaltiger Vernichtung von Produktivkräften und menschlichem Elend einhergehen; es bringt verheerende Kriege hervor und kann sich nur noch zum Preis enormer Umweltzerstörungen entwickeln. Der Großteil des Mehrwerts wird von einer winzigen Minderheit von Finanzoligarchen angeeignet, deren Reichtum in immer groteskere Höhen wächst, während die breite Masse der Menschen auf dem Planeten täglich um ihr Überleben kämpft. Diese Finanzoligarchie spielt in der Produktion keine Rolle mehr und ist für diese völlig überflüssig. Sie existiert nur, um aufgrund ihres Eigentums den Profit abzuschöpfen und zeigt damit in vollendeter Form, wie überflüssig die Kapitalistenklasse für die Entwicklung der Menschheit ist. Kurz: Im Imperialismus sind alle Widersprüche des Kapitalismus auf die – immer unerträglichere und langfristig das Überleben der Menschheit bedrohende – Spitze getrieben. Lenin bezeichnet deshalb den Imperialismus als „Parasitismus und Fäulnis des Kapitalismus“ (ebenda, S. 198).
Gleichzeitig bereitet der Monopolkapitalismus aber auch den Übergang in eine andere, höhere Gesellschaftsformation vor, den Sozialismus. Mit der Entwicklung des Kapitalismus nimmt die Produktion einen immer stärker gesellschaftlichen Charakter an. Diese Vergesellschaftung der Produktion unter kapitalistischen Bedingungen besteht darin, dass alle Teile des Wirtschaftslebens voneinander abhängig sind und die Produktion zunehmend nicht mehr als Produktion des einzelnen Betriebs betrachtet werden kann, sondern als gesamtwirtschaftlicher Organismus stattfindet. Je komplexer die Produkte werden, desto stärker auch der Grad der Vergesellschaftung: z.B. werden Autos nicht in einem einzelnen Betrieb produziert, sondern die Endfertigung ist auf zahllose Zwischenerzeugnisse aus anderen Betrieben angewiesen, oft (aus Kostengründen) auch aus dem Ausland. Während aber die Arbeit sich auf diese Weise immer stärker vergesellschaftet, bleiben die Produktionsmittel und die Produkte selbst weiterhin das Privateigentum der Kapitalisten.
Durch die Vergesellschaftung der Produktion, aber auch die Konzentration und Zentralisation des Kapitals entstehen sehr günstige Voraussetzungen dafür, die Produktion der Kontrolle des Kapitals zu entreißen und unter das Kommando eines gesamtgesellschaftlichen Plans zu stellen. Denn eine Wirtschaftsweise wie der Feudalismus oder der frühe Manufakturkapitalismus, mit einer unübersichtlichen Vielzahl an winzigen Produktionseinheiten, lässt sich kaum zentral planen. Hingegen findet in den großen Monopolkonzernen ohnehin bereits eine Form der „Planwirtschaft“ statt, nur dass die Planung eben in jedem Konzern für sich stattfindet und sich am Profit des Unternehmens orientiert statt an gesellschaftlichen Bedürfnissen.
Marx schrieb über die Form der Aktiengesellschaft, dass diese bereits die „Aufhebung des Kapitals als Privateigentum innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise selbst“ darstelle (Das Kapital, Band III, MEW 25, S. 452). Das Privateigentum an Produktionsmitteln gilt zwar weiterhin, aber das Unternehmen ist nicht mehr das alleinige Eigentum eines Einzelkapitalisten, sondern über das Aktiensystem und den Bankkredit wird Kapital aus der gesamten Gesellschaft gesammelt und der Aktiengesellschaft zugeführt, auch wenn es weiterhin sehr mächtige Kapitalisten gibt, die alleine große Anteile halten und darüber die Aktiengesellschaften kontrollieren können. Das ist analog dem Vorgehen in einer Planwirtschaft, wo der zentrale Plan ebenfalls Ressourcen der ganzen Gesellschaft mobilisieren kann, um bestimmte Produktionsziele zu erfüllen. Gleichzeitig hat der Kapitalismus die Arbeiterklasse enorm anwachsen lassen, indem städtisches Kleinbürgertum und Bauern zahlenmäßig immer weiter geschrumpft bzw. in die Arbeiterklasse übergegangen sind. Die Arbeiterklasse ist gleichzeitig sowohl die wichtigste Produktivkraft als auch die revolutionäre Klasse in der kapitalistischen Gesellschaft. Dass die wichtigsten Bereiche der Produktion von der Arbeiterklasse angewandt werden, ist ein wichtiger Aspekt, der die Reife der heutigen Gesellschaft für den Übergang zum Sozialismus anzeigt. Denn damit existiert auch bereits diejenige gesellschaftliche Kraft, die den Kapitalismus zerschlagen und die Produktion sowie die Organisation des gesamten Lebens der Gesellschaft in die eigene Hand nehmen muss.
Wenn nun der Monopolkapitalismus bereits die Vergesellschaftung der Produktion auf hohem Niveau bedeutet, ist es dann vielleicht möglich, dass der Staat einfach die Kontrolle über die Monopole übernimmt und damit friedlich, per Gesetz den Sozialismus einführt?
Nein, das ist leider unmöglich. Zunächst einmal muss betont werden, dass zwar die Produktion im Kapitalismus immer weiter vergesellschaftet wird, aber die Aneignung des Mehrwerts weiterhin in privaten Händen bleibt, weil die Produktionsmittel weiterhin Privateigentum sind. Nur die Enteignung der Kapitalisten macht es möglich, dass die Produktion gemäß den gesellschaftlichen Bedürfnissen geplant wird. Das Privateigentum an Produktionsmitteln kann aber nur durch eine Revolution der Arbeiterklasse abgeschafft werden, nicht durch den Staat selbst. Warum das so ist, damit werden wir uns im Kapitel über den bürgerlichen Staat beschäftigen.
Arbeitsfragen:
- Wie unterscheiden sich Konzentration und Zentralisation des Kapitals?
- Was ist Monopolkapital in der marxistischen Theorie?
- Welche fünf grundlegenden Merkmale des Imperialismus nennt Lenin und was bedeuten diese?
Diskussionsfragen:
- Der Kapitalismus ist ja bereits an sich eine ausbeuterische, parasitäre Ordnung. Ist es trotzdem sinnvoll, den Imperialismus als faulenden, parasitären, sterbenden Kapitalismus zu beschreiben?
Die Diskussion um die Imperialismustheorie
In der Internationalen Kommunistischen Bewegung werden unterschiedliche, teils gegensätzliche Imperialismusanalysen vertreten. Eine grundlegende Streitfrage ist die Kontroverse um einen sogenannten „kollektiven Imperialismus“. Diese These, die zeitweise von Teilen der DKP vertreten wurde, ging davon aus, dass im heutigen Imperialismus die Konflikte zwischen den imperialistischen Mächten stark abgenommen hätten und diese vielmehr gemeinsam die restliche Welt unterwerfen würden. Damit seien Kriege zwischen imperialistischen Mächten sehr unwahrscheinlich oder unmöglich geworden. Beim „kollektiven Imperialismus“ handelt es sich somit um eine Neuauflage der „Ultraimperialismus“-Theorie von Kautsky. Die erneute Verschärfung politischer und wirtschaftlicher Konflikte zwischen den USA und den westeuropäischen Ländern einerseits und China und Russland andrerseits, die Spaltungstendenzen in der EU usw. zeigen jedoch, dass zwischenimperialistische Konflikte keineswegs verschwunden sind, sondern immer die Gefahr kriegerischer Auseinandersetzungen in sich tragen.
Eine weitere wichtige Kontroverse dreht sich darum, ob der Imperialismus als Entwicklungsstadium des Kapitalismus zu verstehen ist, das global vorherrscht. Nach dieser Position ist der Imperialismus also als Weltsystem zu verstehen, das grundsätzlich die gesamte kapitalistische Welt umfasst, allerdings in sich sehr hierarchisch strukturiert ist. An der Spitze dieser Pyramide befinden sich demnach weiterhin die USA, doch auch Deutschland steht sehr weit oben. Ganz unten in der Hierarchie stehen weiterhin die ärmsten und unterentwickeltsten Länder. Jedoch gibt es dazwischen verschiedene Schichten von Ländern, die nicht zur obersten Riege der imperialistischen Führungsmächte gehören, jedoch auch Charakteristika des Imperialismus aufweisen und deren Monopolkapital eigene Ziele verfolgt. Die Beziehungen zwischen den Ländern sind nicht einfach durch einseitige Abhängigkeit gekennzeichnet, sondern als gegenseitige, wenn auch sehr ungleiche Abhängigkeit zu beschreiben.
Dagegen steht die Position, dass es weiterhin nur eine Handvoll imperialistischer Länder gebe, während die absolute Mehrzahl der Länder einfach unterdrückte und abhängige Länder seien. Es gibt zwei Varianten dieser Theorie: Während beispielsweise Maoisten Russland und China ebenfalls in die Kategorie der imperialistischen Länder einordnen, geht die DKP davon aus, dass Russland und China nicht imperialistisch seien, sondern sogar antiimperialistischen Charakter hätten. Beide Varianten sind jedoch problematisch, da sie die Rolle von Ländern, die innerhalb der imperialistischen Pyramide eine Zwischenposition einnehmen und danach streben, eine globale Führungsrolle auszuüben, nicht richtig erklären können. Sie verabsolutieren die Abhängigkeitsbeziehungen zwischen den Ländern und sehen nicht, dass sich aufgrund der ungleichmäßigen Entwicklung des Imperialismus die Kräfteverhältnisse ständig ändern. Sie ignorieren, dass es daher auch möglich ist, dass unter bestimmten Bedingungen Länder ihre Abhängigkeit abschwächen und innerhalb der Hierarchie der imperialistischen Pyramide aufsteigen.
Aus einer falschen Imperialismustheorie folgt jedoch immer auch eine falsche Praxis, die sich z.B. in der Solidarisierung mit China oder Russland äußert, oder darin, dass Staaten, die von den USA oder anderen imperialistischen Führungsmächten angegriffen werden, irrtümlich als antiimperialistisch eingeschätzt werden, obwohl sie in Wirklichkeit nicht den Imperialismus als System bekämpfen, sondern nur die Politik eines bestimmten imperialistischen Staates.
4.8 Konjunkturzyklus und Krise
Für die meisten bürgerlichen Ökonomen und die vorherrschende bürgerliche Wirtschaftstheorie sind die Krisen vermeidbare Betriebsunfälle, die durch Fehlverhalten von Politikern oder „externe Schocks“, also Einflüsse von nicht-ökonomischen Ereignissen auf die Wirtschaft ausgelöst werden. Diesen Theorien zufolge ist also ein stetiges Wirtschaftswachstum möglich, wenn nur die Rahmenbedingungen stimmen. Ein Blick auf die Realität zeigt jedoch, dass diese Auffassungen kaum mehr als Propaganda mit akademischem Anstrich sind: Seit der Entstehung des Kapitalismus wird die Akkumulation des Kapitals in relativ regelmäßigen Abständen von Krisen unterbrochen, in denen Massen von Arbeitern erwerbslos werden, große Mengen an Waren und Kapital vernichtet werden und Unternehmen bankrott gehen. Wie aber kommt es zu diesen Krisen im Kapitalismus, was macht sie möglich und warum geschehen sie sogar notwendigerweise?
Wer glaubt, durch einen einzigen Mechanismus in der Theorie von Marx die Krisen vollständig erklären zu können, muss enttäuscht werden. Auch die Suche nach einer eigenständigen „Krisentheorie“ bei Marx ist vergeblich. Denn die Krise ist eine notwendige Bewegungsform der kapitalistischen Produktionsweise. Sie ergibt sich aus der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft insgesamt und der Einwirkung all ihrer Elemente aufeinander. Deshalb sind die Marxsche Krisentheorie und die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise, die Marx geleistet hat, nicht voneinander zu trennen. Das macht das Verständnis der Krisen zu einer so komplexen Angelegenheit. Marx entwickelte an verschiedensten Stellen seines Werkes Überlegungen zur Entstehung von Wirtschaftskrisen im Kapitalismus. Hier soll nun versucht werden, seine Kerngedanken zu dieser Frage darzustellen.
4.8.1 Profitrate und Krise
Für Marx ist, wie schon gesagt, die Profitrate die entscheidende Größe, von der die Akkumulation des Kapitals abhängt: „Die Profitrate ist die treibende Macht in der kapitalistischen Produktion, und es wird nur produziert, was und soweit es mit Profit produziert werden kann.“ (Marx: Das Kapital, Band III, MEW 25, S. 269).Dass es überhaupt zu Krisen kommt, liegt also daran, dass im Kapitalismus „eine gewisse Höhe der Profitrate über Ausdehnung oder Beschränkung der Produktion entscheidet, statt des Verhältnisses der Produktion zu den gesellschaftlichen Bedürfnissen, zu den Bedürfnissen gesellschaftlich entwickelter Menschen“ (ebenda). In einer zentral geplanten sozialistischen Wirtschaft wäre das also nicht der Fall, weil die Produktion sich dann nach den gesellschaftlichen Bedürfnissen richtet und nicht davon abhängt, ob die Profitaussichten ausreichend sind oder nicht.
Das Steigen und Fallen der Profitrate ist also der Faktor, der wirtschaftliche Aufschwünge und Abschwünge verursacht. Ist die Profitrate hoch, stehen den Kapitalisten viele Möglichkeiten offen, wo sie ihre Profite gewinnbringend investieren können – und diese Möglichkeiten lassen sie nie ungenutzt. Fällt die Profitrate jedoch, werden die Investitionsmöglichkeiten zwangsläufig eingeengt. Das heißt nicht, dass es keinen gesellschaftlichen Bedarf mehr gäbe, die Produktion weiter auszudehnen. Denn genügend Krankenhäuser, Wohnungen oder Schwimmbäder gibt es im Kapitalismus kaum jemals. Es heißt nur, dass es keine profitträchtigen Anlagemöglichkeiten für das Kapital mehr gibt. Zum Beispiel, weil es zwar zu wenig Wohnraum gibt, aber die vielen Wohnungssuchenden ein leeres Konto haben und sich die teuren Mieten nicht leisten können.
Wir haben bereits gesehen, dass die Profitrate langfristig in jedem Fall fällt. Wenn also die Profitrate im Durchschnitt einen immer niedrigeren Wert annimmt, bedeutet das, dass Aufschwünge tendenziell schwächer werden und die Krisen und Abschwünge tendenziell länger, häufiger und tiefer. Wir sehen also, dass sich aus der Entwicklungslogik des Kapitalismus zwangsläufig ergibt, dass die Krisen sich mit der Zeit verschlimmern. Aber warum kann es im Kapitalismus überhaupt zur Krise kommen?
4.8.2 Die Möglichkeit der Krisen
Dass Krisen überhaupt möglich sind, liegt bereits in der grundlegendsten Eigenschaft der kapitalistischen Produktionsweise begründet: Darin, dass im Kapitalismus tendenziell alles zur Ware wird, also für den Verkauf auf dem Markt produziert wird. Die Kapitalisten interessieren sich nur dafür, dass ihre Waren verkauft werden und der Warenwert ihnen damit als Einkommen in die Tasche fließt. Haben sie dagegen einen Haufen Waren produziert, der sich nicht verkaufen lässt, obwohl vielleicht ein großes gesellschaftliches Bedürfnis danach besteht, werden sie den Teufel tun, diese Waren kostenlos an die Bevölkerung zu verteilen. Denn dadurch würden sie die Warenpreise weiter senken und ihre zukünftigen Profite gefährden. Dass sie aber nun die Waren nicht verkaufen können, bedeutet, dass der Profit sinkt oder ganz wegfällt. Selbst wenn die Kapitalisten noch Geld auf der Hinterhand haben, werden sie es nicht mehr in die Ausdehnung ihrer Produktion investieren, denn das würde die Überproduktion natürlich nur verschlimmern. Wenn sie keine Reserve haben, kann es sein, dass sie sich nun verschulden müssen um ihre Ausgaben zu decken, oder ihre bereits bestehenden Schulden nicht zurückzahlen können.
Diese Art der Krise, die Überproduktionskrise, ist eine neue Erscheinung, die erst mit dem Kapitalismus aufkommt. Denn im Feudalismus oder früheren Gesellschaften entstanden Krisen immer aus Mangel, z.B. weil es eine Missernte gab oder einen Krieg. Die kapitalistischen Krisen sind dagegen Krisen des Überflusses: Es gibt zu viel produzierte Waren, aber nicht zu viel gemessen an den gesellschaftlichen Bedürfnissen, sondern gemessen an der zahlungskräftigen Nachfrage. Marx und Engels schreiben. „In den Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre – die Epidemie der Überproduktion. (…) Die Industrie, der Handel scheinen vernichtet, und warum? Weil sie zuviel Zivilisation, zuviel Lebensmittel, zuviel Industrie, zuviel Handel besitzt.“ (Marx/Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 468).
Die bürgerlichen Ökonomen in der Zeit von Marx waren wie die heutigen liberalen Ökonomen davon ausgegangen, dass Angebot und Nachfrage sich automatisch in einem Gleichgewicht einfinden und es daher gar nicht erst zu Krisen kommt – das sogenannte Saysche Gesetz. Dieses „Gesetz“ wurde damit begründet, dass ja jeder Verkauf einer Ware gleichzeitig auch ein Kauf einer Ware sei, daher sei die Summe der gekauften Waren zwangsläufig gleich der Summe der verkauften Waren. Diese platte Feststellung ist natürlich richtig, aber sie bedeutet keineswegs, dass deswegen Nachfrage und Angebot im Einklang sind. Denn auch wenn jeder Kauf einen Verkauf voraussetzt, heißt das nicht, dass jeder, der etwas verkauft hat, unmittelbar auch etwas kaufen muss. Wenn ich ein Produkt meiner Arbeit verkaufe, bekomme ich dafür nicht direkt eine andere Ware (also das Produkt der Arbeit eines anderen), sondern in aller Regel eine Summe Geld. Was ich dann mit diesem Geld mache, kann mir im Kapitalismus niemand vorschreiben. Weil das Geld also zwischen den Verkauf und den erneuten Kauf tritt, fallen diese zeitlich nicht zusammen. Dadurch wird es möglich, dass eine Ware produziert wird, die dann niemand kauft (siehe: Marx: Das Kapital, Band I, MEW 23, S. 127). Hinzu kommt aber, dass das „Saysche Gesetz“ einfach davon ausgeht, dass immer genau die Waren produziert werden, die auch nachgefragt werden. Da es eine riesige Vielzahl von unterschiedlichen Waren gibt, die sich grundsätzlich auch in unterschiedliche Produktionsabteilungen (Produktion von Produktionsmitteln, von Konsumgütern usw.) unterteilen lassen, ist diese Annahme aber Unsinn. Selbst wenn es gesamtwirtschaftlich gesehen eine ausreichende Nachfrage gibt, hilft das nichts, wenn Gabelstapler im Überfluss produziert wurden, die sich der gewöhnliche Arbeiter wohl kaum kaufen wird, selbst wenn er das Geld dafür hat. Krisen entstehen also auch daraus, dass es im Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung zu solchen Ungleichgewichten zwischen verschiedenen Sektoren der Ökonomie kommt. Das passiert aber unvermeidlich, weil die kapitalistische Produktion keiner zentralen Planungsstelle unterliegt, sondern sich als ungesteuertes und im Kern unsteuerbares blindes Gesetz durchsetzt.
4.8.3 Der kapitalistische Konjunkturzyklus
All das erklärt jedoch immer noch nicht, warum die Produktion sich überhaupt in regelmäßigen Abständen ausdehnt und wieder zusammenzieht, warum es also kein gleichmäßiges Wachstum gibt, sondern einen Konjunkturzyklus mit Aufschwung- und Abschwungphasen. Das ist, allgemein gesagt, der Fall, weil die Kapitalakkumulation ständig die Bedingungen, unter denen sie stattfindet, verändert – und zwar so verändert, dass jeder Aufschwung der Akkumulation die Bedingungen für den Abschwung schafft.
Sehen wir uns also den kapitalistischen Konjunkturzyklus an: Damit es einen Aufschwung geben kann, muss eine ausreichende zahlungsfähige Nachfrage nach Waren vorhanden sein, außerdem ausreichend anlagesuchendes Kapital in den Händen der Kapitalisten und genügend arbeitssuchende Arbeiter, die Beschäftigung in der sich ausdehnenden Industrieproduktion finden können. Nun investieren die Kapitalisten in die Ausdehnung ihrer Produktion und ihres Verkaufs. Dafür leisten sie sich größere Anschaffungen zur Modernisierung der Produktion, also neue Maschinen mit der dazugehörigen Technologie. Sie stellen zudem auch neue Arbeiter ein, um diese Maschinen zu bedienen. Dadurch nimmt die Arbeitslosigkeit ab und die Arbeiter können in der Regel höhere Löhne durchsetzen, der Preis der Ware Arbeitskraft steigt also. Genauso steigen auch die Preise der Maschinen und anderen Produktionsmittel, denn die Kapitalisten kaufen diese jetzt im großen Umfang ein. Produzieren wird also teurer, was solange kein Problem ist, wie die gesellschaftliche Nachfrage nach den Waren weiter wächst.
Genau da liegt aber das Problem: Die Nachfrage wächst auf Dauer nicht gleichmäßig im Verhältnis zum Warenangebot. Zu Beginn des Zyklus werden größere Investitionen getätigt, wodurch die Nachfrage nach Produktionsmitteln einen Schub erhält. Diese Investitionen erhöhen dann die Produktivität, es werden also mit der vorhandenen Anzahl an Arbeitskräften mehr Waren ausgestoßen. Während sich also zunächst die Nachfrage schubweise erhöht und die Produktion sowohl von Konsumgütern als auch von Produktionsmitteln angeregt wird, nimmt dieser Effekt nach einiger Zeit ab. Das Warenangebot wurde in der Aufschwungphase aber ausgeweitet, sowohl in stofflicher Hinsicht (eine größere Masse an Gebrauchswerten) als auch wertmäßig (weil mehr Arbeitsstunden geleistet wurden, steigt die Summe der Warenwerte). Diese Warenmenge kann ab einem bestimmten Punkt nicht mehr im vollen Umfang verkauft werden. Der Absatz der Konsumgüterindustrien leidet darunter, dass trotz der Lohnsteigerungen während des Aufschwungs die Masse der Konsumenten weiterhin arm sind und die produzierten Waren nur in sehr begrenztem Maße kaufen können. Zur gleichen Zeit können aber aufgrund der zunehmenden Knappheit an Arbeitskräften die Löhne so gestiegen sein, dass in manchen Industrien die Profite der Kapitalisten stark sinken. Marx schreibt hier einerseits: „Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde“ (Marx: Das Kapital, Band III, MEW 25, S. 501). Betont andrerseits aber auch, „daß die Krisen jedesmal gerade vorbereitet werden durch eine Periode, worin der Arbeitslohn allgemein steigt“ (Marx: Das Kapital, Band II, MEW 24, S. 409). Diese beiden Faktoren stehen nur scheinbar im Widerspruch zueinander: Es ist durchaus möglich, dass das Angebot an Konsumgütern so stark ausgeweitet wurde, dass die Kaufkraft der Arbeiterklasse nicht mehr ausreicht, diese zu kaufen, und gleichzeitig gerade die Industrien mit hohem Einsatz von Arbeitskräften durch die Lohnerhöhungen gerade in dem Moment in Schwierigkeiten kommen, wo sich die Wirtschaft allgemein dem Punkt der Überproduktion nähert.
Die Produktionsmittelindustrien sind gleichzeitig darauf angewiesen, dass die Kapitalisten weiterhin Maschinen usw. einkaufen, um ihre produktiven Investitionen zu tätigen. Dass geschieht jedoch eher zu Beginn des Aufschwungs und zu späteren Zeitpunkten immer weniger, weil die neu getätigten Investitionen sich nun erst einmal rentieren müssen. Auch die Profitaussichten werden allgemein eher schlechter und die Investitionen vorsichtiger. Schließlich bedeutet die Produktivitätssteigerung, die durch die neuen Investitionen erzielt wird, auch, dass der Anteil des konstanten Kapitals (also Maschinen, Rohstoffe usw.) im Verhältnis größer wird, dass also die organische Zusammensetzung des Kapitals steigt. Wie oben gezeigt wurde, muss dadurch die Profitrate letzten Endes sinken.
Wir sehen also, dass der Konjunkturzyklus von den Investitionszyklen des Kapitals abhängig ist. Hierbei spielt besonders das fixe Kapital, das über längere Zeiträume angelegt wird und dann vorerst gebunden ist, eine entscheidende Rolle. Marx schreibt: „In demselben Maße also, worin sich mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise der Wertumfang und die Lebensdauer des angewandten fixen Kapitals entwickelt, entwickelt sich das Leben der Industrie und des industriellen Kapitals in jeder besondren Anlage zu einem vieljährigen, sage im Durchschnitt zehnjährigen. (…) Durch diesen eine Reihe von Jahren umfassenden Zyklus von zusammenhängenden Umschlägen, in welchen das Kapital durch seinen fixen Bestandteil gebannt ist, ergibt sich eine materielle Grundlage der periodischen Krisen, worin das Geschäft aufeinanderfolgende Perioden der Abspannung, mittleren Lebendigkeit, Überstürzung, Krise durchmacht.“ (Das Kapital Band II, MEW 24, S. 185f). Die genaue Zahl von zehn Jahren spielt dabei, wie Marx sagt, keine Rolle, da sich die Dauer auch verändern kann. Wichtig ist, dass die Bewegung der Industrie einen regelmäßigen Zyklus durchläuft, in dem Aufschwung und Abschwung sich abwechseln.
Sind Überproduktion und Unterkonsumtion dasselbe? Viele, die sich auf die marxistische Theorie berufen, sehen den entscheidenden Grund für die Entstehung von Krisen darin, dass die Arbeiterklasse im Kapitalismus zu niedrige Löhne gezahlt bekommt. Daher komme der Konjunkturzyklus daher regelmäßig an eine Punkt, wo die zahlungsfähige Nachfrage nach Konsumgütern zu gering sei, um die produzierten Waren noch kaufen zu können. Diesen Ansatz zur Erklärung der Krisen nennt man Unterkonsumtionstheorie. Einige, wenn auch nicht alle Vertreter dieser Theorie folgern daraus, dass die Arbeiterklasse für höhere Löhne kämpfen müsse, nicht nur um ihren eigenen Lebensstandard zu verbessern, sondern auch, um dadurch Krisen zu verhindern. An der Unterkonsumtionstheorie gibt es aber auch Kritik. Die Kritiker argumentieren, dass es eine willkürliche Annahme sei, dass die Überproduktion zwangsläufig in der Konsumgüterabteilung stattfinden muss. Genauso könne es zu einer Überproduktion von Produktionsmitteln kommen. Da durch den technischen Fortschritt und den Anstieg der organischen Zusammensetzung des Kapitals der Anteil von Produktionsmitteln an der gesamten Produktion tendenziell ansteigt, werde die Überproduktion von Produktionsmitteln mit zunehmendem Entwicklungsstand des Kapitalismus als Krisenursache immer wichtiger. Die entscheidenden Krisenursachen werden von den Kritikern der Unterkonsumtionstheorie im tendenziellen Fall der Profitrate, im Anstieg der Löhne während des Konjunkturaufschwungs, in allgemeinen Ungleichgewichten zwischen den verschiedenen Sektoren der Ökonomie oder in einer Kombination der verschiedenen Faktoren gesehen.
4.8.4 Krise und Rezession
Die Krise äußert sich nun darin, dass Massen von Waren keinen Käufer mehr finden. Das heißt, dass die Kapitalisten, die diese Waren produziert haben, nun zunehmende Schwierigkeiten dabei bekommen, ihre Ausgaben auszugleichen. Gleichzeitig ist die Überproduktion nicht nur eine von Waren, sondern auch von Kapital, also Überakkumulation. Überakkumulation bedeutet, dass es anlagesuchendes Kapital gibt, das aufgrund der fehlenden Möglichkeiten zur profitablen Investition brachliegt, also keine produktive Verwendung findet.
Die Entwicklung des Kreditsystems hatte während des Aufschwungs die Akkumulation des Kapitals beschleunigt und erweitert, indem die Umschlagszeit des Kapitals verkürzt wurde. Nun wird der Kredit zu einem Hebel, der die Krise verschlimmert. Denn viele Kapitalisten, die Kredite aufgenommen haben, müssen diese nun zurückzahlen, ohne dass sie die Mittel dafür haben. Sie gehen also bankrott und müssen die Produktion einstellen. Dadurch weitet sich die Krise nun auch auf die Banken aus, in deren Bilanzen sich „faule“ Kredite häufen, die nicht mehr bedient werden können. Andere Unternehmen überleben, fahren aber ihre Produktion angesichts des schon vorhandenen Überangebots an Waren zurück und entlassen einen Teil ihrer Arbeiter. Ein Teil der Arbeiterklasse wird also erwerbslos, geht in die industrielle Reservearmee über, während auch bei den anderen Arbeitern die Löhne sinken, da aufgrund der Massenarbeitslosigkeit auch die Konkurrenz unter den Arbeitern wächst.
Auch bei den Investitionen gibt es nun eine Flaute, da kein Kapitalist sein Geld anlegt, um die Produktion von unverkäuflichen Waren auszuweiten. Die gesamtgesellschaftliche Nachfrage fällt also, was die Krise zum Selbstläufer macht: Die Produktion wird noch weiter gesenkt und weitere Arbeiter entlassen. Die Auf- und Abschwünge der Kapitalakkumulation gehen also einher mit Auf- und Abschwüngen der Einstellung von Arbeitern. In der Rezession wächst die „industrielle Reservearmee“ der Arbeitslosen, im Aufschwung schrumpft sie.
Die Krise führt auch im großen Stil zur Vernichtung von Werten. Die überproduzierten Waren werden im großen Umfang entweder direkt vernichtet oder verfallen, bevor sie konsumiert werden können. Ein anderer Teil wird zwar nicht physisch zerstört, verliert aber einen Großteil seines Wertes aufgrund des Überangebots.
Doch ebenso wie der Aufschwung nicht ewig währt, ist auch der Abschwung zeitlich begrenzt. Die Entlassung von Arbeitern, die Senkung ihrer Löhne, die Vernichtung von Kapital und dadurch die Verbilligung des Kaufs von neuen Produktionsmitteln machen ab einem gewissen Punkt die Produktion in manchen Teilen der Wirtschaft wieder profitabel. In diesen Zweigen werden nun auch wieder neue Investitionen getätigt, was wiederum neue Aufträge für die Produktionsmittelindustrien (z.B. Maschinenbau, Fahrzeuge, Bauindustrie usw.) bedeutet. Auch diese werden nun wieder investieren, um die wachsende Nachfrage bedienen zu können. Der ganze Zyklus von Aufschwung, Krise und Abschwung beginnt also von vorn.
4.8.5 Sind Krisen im Kapitalismus unvermeidlich?
Wäre es möglich, der Krise zu entgehen? Zum Beispiel, indem der Staat die Investitionen so steuert, dass sie sich gleichmäßig entwickeln? Oder indem die Kapitalisten einfach aufhören zu produzieren, sobald die gesamte Nachfrage gesättigt ist? Im Kapitalismus ist weder das eine noch das andere möglich. Der bürgerliche Staat kann zwar Anreize für oder gegen Investitionen setzen, z.B. durch Subventionen, die Zinspolitik der Zentralbank oder auch durch die Verstaatlichung mancher Unternehmen. Um den industriellen Zyklus als solchen aufzuheben, müsste aber jeder Aspekt des Wirtschaftslebens, also alle Investitionsentscheidungen, die Produktionsmengen aller Waren, die Einstellung und Entlassung von Arbeitern, die Höhe der Löhne usw. zentral geplant und vorgegeben werden. Die Kapitalisten hätten also überhaupt keine Verfügungsgewalt mehr über ihr Eigentum. Innerhalb des Kapitalismus ist ein solcher Schritt daher unmöglich und kein bürgerlicher Staat würde ihn zulassen, geschweige denn selbst durchsetzen.
Auch die Überproduktion ist unvermeidlich, selbst wenn die einzelnen Kapitalisten sich dieser Bedrohung bewusst sind. Denn die Konkurrenz macht es unmöglich, dass ein einzelner Kapitalist seine Produktion einfach einstellt. Gerade in der Krise verschärft sich diese Konkurrenz unter den Kapitalisten nämlich enorm. „Sobald es sich aber nicht mehr um Teilung des Profits handelt, sondern um Teilung des Verlustes, sucht jeder soviel wie möglich sein Quantum (d.h. seine Menge) an demselben zu verringern und dem andern auf den Hals zu schieben. Der Verlust ist unvermeidlich für die Klasse. Wieviel aber jeder einzelne davon zu tragen, wieweit er überhaupt daran teilzunehmen hat, wird dann Frage der Macht und der List, und die Konkurrenz verwandelt sich dann in einen Kampf der feindlichen Brüder.“ (Marx: Das Kapital, Band III, MEW 25, S. 263). Genau deswegen versucht jeder Kapitalist, seine eigenen Waren weiter zu verbilligen und so viele wie möglich davon zu verkaufen, damit nicht er, sondern die anderen Kapitalisten die Verluste tragen müssen.
Während die Konzentration des Kapitals (Akkumulation) in der Krise ins Stocken gerät, beschleunigt sich deshalb die Zentralisation des Kapitals. Bisher getrennte Kapitale müssen sich zusammenschließen, um dem Schwinden der Profitmasse entgegenzuwirken. Das passiert, indem Unternehmen miteinander fusionieren oder von anderen Kapitalisten aufgekauft werden. Es passiert aber auch, indem die Krise viele Kapitalisten in den Bankrott treibt und deren Marktanteile und Produktionskapazitäten dann von anderen übernommen werden.
4.8.6 Der Grundwiderspruch der kapitalistischen Produktionsweise
Die Krise ist, das kann nur wiederholt werden, also keine Abweichung vom Pfad der kapitalistischen Produktion, sondern zwangsläufig ein Teil von ihr. Letzten Endes sind die Krisen Ausdruck des gesellschaftlichen Grundwiderspruchs der kapitalistischen Produktionsweise: Des Widerspruchs zwischen zunehmend vergesellschafteter Produktion und privater Aneignung. Dieser Widerspruch bedeutet, dass auf der einen Seite die Produktion einen immer stärker gesellschaftlichen Charakter annimmt, während auf der anderen Seite diese Produktion trotz ihres gesellschaftlichen Charakters aber nicht gesamtgesellschaftlich geplant wird, sondern sich weiterhin in den Händen der Kapitalisten befindet, die alle für ihren privaten Profit produzieren. Der private Profit bleibt Sinn und Zweck der ganzen Produktionsweise, die Profitrate der entscheidende Motor. Und wenn dieser Motor stottert, leidet darunter die ganze Gesellschaft. Je stärker die Vergesellschaftung der Produktion wird und je höher die organische Zusammensetzung des Kapitals ist, desto tiefer werden tendenziell die Krisen, desto verheerender die Vernichtung von Kapital, Waren und Menschen.
Dieser Widerspruch äußert sich auch darin, dass unter Bedingungen des Privateigentums nur auf der Ebene der einzelnen Betriebe die Produktion zentral geplant wird, während gesamtgesellschaftlich Anarchie der Produktion herrscht, da alle Kapitalisten eben nur für sich planen. Dadurch kann nicht verhindert werden, dass es immer wieder und in periodischen Abständen zu Ungleichgewichten zwischen den verschiedenen Abteilungen der Produktion kommt.
Der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung ist also die besondere Form, in der im Kapitalismus die Entwicklung der Produktivkräfte in einen Widerspruch zu den Produktionsverhältnissen tritt – die fortschreitende Entwicklung der Produktivkräfte macht längst eine andere, höhere Form gesellschaftlicher Beziehungen möglich und notwendig, nämlich den Sozialismus. Je länger er nicht verwirklicht wird, desto schärfer wird der Gegensatz zwischen den Produktivkräften und ihrer immer unpassender werdenden kapitalistischen „Hülle“.
Die Krise zeigt regelmäßig den Bankrott des Kapitalismus an, indem sie die Absurdität der ganzen Produktionsweise vor Augen führt: „Ist der politische und intellektuelle Bankrott der Bourgeoisie ihr selbst kaum noch ein Geheimnis, so wiederholt sich ihr ökonomischer Bankrott regelmäßig alle zehn Jahre. In jeder Krise erstickt die Gesellschaft unter der Wucht ihrer eignen, für sie unverwendbaren Produktivkräfte und Produkte und steht hülflos vor dem absurden Widerspruch, daß die Produzenten nichts zu konsumieren haben, weil es an Konsumenten fehlt.“ (Engels: Anti-Dühring, MEW 20, S. 263). Auf der einen Seite stehen Massen an Arbeitern, die durch die Krise in existenzielle Not und Elend gestürzt werden und denen selbst das Nötigste zum Überleben fehlt, auf der anderen Seite werden ebenso Massen an Konsumgütern vernichtet. Dass Überfluss und Elend im Kapitalismus nicht nur nebeneinander existieren, sondern sich geradezu gegenseitig bedingen, wird in der Krise so klar zum Ausdruck gebracht wie sonst nie.
Die Krisen haben umfassende Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft. Sie verschärfen, wie gezeigt wurde, die Gegensätze zwischen den Kapitalisten, deren Interessen nun im Kampf um die Aufteilung der Verluste direkt miteinander kollidieren. Aus demselben Grund verschärfen sich auch die Gegensätze zwischen den Staaten innerhalb des imperialistischen Weltsystems. Große Konflikte und auch Kriege zwischen den Imperialisten werden wahrscheinlicher. Der Klassenkampf nimmt tendenziell schärfere Formen an und allgemein kommt es zu einem Anstieg von Unzufriedenheit und spontanen Unruhen. Die herrschende Klasse kann in einer solchen Situation zu direkteren und gewaltsameren Formen der Klassenunterdrückung greifen, bis hin zum Übergang in eine offen faschistische Diktatur. Gleichzeitig führt die Krise aber auch dazu, dass die Massen das Vertrauen in die Herrschenden und den Kapitalismus verlieren und dadurch offener für die revolutionäre Lösung werden können. Doch erst wenn der Sozialismus erkämpft wurde, wird es eine ökonomische Entwicklung geben können, in der der wirtschaftliche Fortschritt denen dient, die ihn produzieren und nicht regelmäßig durch Krisen unterbrochen wird, in denen der Überfluss an Waren dazu führt, dass massenhaft Arbeiter ihren Arbeitsplatz und Lebensunterhalt verlieren.
Arbeitsfragen:
- Warum sind Krisen im Kapitalismus möglich?
- Warum kommt es nach Marx zu zyklischen Krisen? Wodurch sind die zeitlichen Abstände zwischen den Krisen nach Auffassung von Marx bestimmt?
Diskussionsfragen:
- Ist es möglich, innerhalb des Kapitalismus zu einer krisenfreien Entwicklung zu kommen? Und wäre das eine sinnvolle politische Forderung?
4.9 Die Klassen im Kapitalismus
Wir haben nun gesehen, auf welchen ökonomischen Bewegungsgesetzen die Spaltung der kapitalistischen Gesellschaft in Klassen beruht. In früheren Klassengesellschaften herrschte eine strikte, durch Gesetze formalisierte Hierarchie. Z.B. war im Feudalismus der Aufstieg von einem Stand in einen anderen nur in Ausnahmefällen möglich, die Ehe zwischen Mitgliedern verschiedener Stände ebenfalls. Im Kapitalismus sind dagegen im Regelfall alle Menschen offiziell vor dem Gesetz gleichgestellt – obwohl es auch hier zahllose Ausnahmen gab und gibt, wie den offenen rassistischen Terror in faschistischen Staaten, die Apartheidssysteme in Südafrika, den USA oder dem heutigen Israel bis hin zu der Tatsache, dass in den kapitalistischen Ländern das Frauenwahlrecht erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts eingeführt wurde. Trotzdem sind diese vielfältigen Formen der Diskriminierung nicht der Hauptmechanismus, auf dem die kapitalistische Klassengesellschaft beruht.
4.9.1 Die Arbeiterklasse
Dieser Hauptmechanismus ist die Ausbeutung der Arbeiterklasse durch das Kapital. Obwohl rechtlich gleichgestellt, sind die Arbeiter gezwungen, ihre Arbeitskraft an den Kapitalisten zu verkaufen, der sie dafür einsetzt, einen Mehrwert zu produzieren, den er sich aneignet. Während die Kapitalisten also Reichtum anhäufen, ohne selbst zu arbeiten, sind die Arbeiter dazu verdammt zu arbeiten, ohne Reichtum anzuhäufen. Der Profit der Kapitalisten, nicht der Lohn der Arbeiter, ist der Maßstab des wirtschaftlichen Erfolges im Kapitalismus, weil die Entwicklung der gesamten Gesellschaft von der Akkumulation des Kapitals abhängt. Die Arbeiterklasse und die Kapitalistenklasse oder Bourgeoisie sind die zwei Hauptklassen der kapitalistischen Gesellschaft. Diese Klassen unterscheiden sich nicht einfach nur durch ihr Einkommensniveau, so wie man zwischen „Armen“ und „Reichen“ unterscheidet, sondern durch die Art ihres Einkommens und ihre Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit (als Planende oder Ausführende), die wiederum von ihrer Position im Produktionsprozess herrühren: Den Kapitalisten fließt der Profit zu, weil sie Eigentümer der Produktionsmittel sind (zum Verständnis der Klassen allgemein siehe Kapitel 3.5 zum Historischen Materialismus). Die Arbeiter bekommen den Lohn ausgezahlt, gerade weil sie kein Eigentum an Produktionsmitteln besitzen und deshalb ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. Die Interessen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie sind einander entgegengesetzt und können nicht miteinander versöhnt werden: Während die Kapitalisten nach einer möglichst hohen Profitrate streben und dafür die Löhne der Arbeiter grundsätzlich so niedrig wie möglich halten müssen, sind die Arbeiter auf einen möglichst hohen Lohn angewiesen, weil sie damit ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen.
Die Lohnhöhe richtet sich in Wirklichkeit keineswegs nach der „Leistung“, wie es bürgerliche Ideologen bis heute behaupten, sondern wird von der ökonomischen Entwicklung und dem Klassenkampf bestimmt. Während in Phasen des Aufschwungs meistens die Löhne steigen, weil das Angebot an Arbeitskräften knapper wird und damit die Kampfkraft der organisierten Arbeiter steigt, verschärft sich umgekehrt in Phasen der Krise mit hoher Arbeitslosigkeit die Konkurrenz unter den Arbeitern und sie sind eher bereit, einen Arbeitsplatz für wenig Geld anzunehmen. Grundsätzlich gilt: Je besser organisiert die Arbeiterklasse ist, je entschlossener und konsequenter sie in ihren Organisationen (Gewerkschaften und kommunistischen Parteien) die Interessen der Klasse vertreten, desto besser werden ihre Arbeitsbedingungen und ihr Lohn sein.
4.9.2 Grundeigentümer und Kleinbürger
Die Existenz der Klassen wurde nicht erst von Marx entdeckt, sondern bereits von der klassischen Politischen Ökonomie, insbesondere Ricardo. Ebenso wie die klassischen Ökonomen ging Marx von einer dritten grundlegenden Klasse neben Arbeitern und Kapitalisten aus, nämlich den Grundeigentümern. Diesen fließt im Kapitalismus eine Grundrente zu, die sie allein dafür erhalten, dass sie Eigentümer des Bodens sind und diesen entweder selbst nutzen, um darauf einen kapitalistischen Betrieb zu führen, oder ihn vermieten oder verpachten, um darauf Pflanzen anzubauen, aus dem Boden Rohstoffe zu gewinnen oder Wohnhäuser zu bauen und zu vermieten. Die Grundeigentümer spielen aber zum Verständnis der Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus eine untergeordnete Rolle. In der Regel sind sie heute zudem gleichzeitig Kapitalisten, spielen also als eigenständige Klasse keine Rolle. Marx untersucht im 3. Band von „Das Kapital“ die Gesetze, nach denen die Höhe der Grundrente bestimmt ist. Diese werden wir hier aber aus Platzgründen nicht darlegen.
Zwischen dem Kapital und der Arbeiterklasse steht das Kleinbürgertum. Im engeren Sinne gehören zum Kleinbürgertum kleine Eigentümer, die ein eigenes Geschäft auf Grundlage des Eigentums an Produktionsmitteln besitzen, aber keine oder nur sehr wenige Arbeiter ausbeuten. Selbst wenn sie wenige Arbeitskräfte einstellen, können sie nicht vom Profit ihres Unternehmens leben und müssen selbst darin arbeiten. Sie gehören also weder zur Kapitalistenklasse, noch zur Arbeiterklasse, sondern bilden eine eigene Gruppe. Das Kleinbürgertum in den Städten besteht z.B. aus kleinen Händlern, Handwerkern, Restaurantbesitzern oder niedergelassenen Ärzten mit eigener Praxis. Das ländliche Kleinbürgertum sind die Bauern, die einen eigenen kleinen Hof haben, auf dem sie selbst arbeiten. Mit der Entwicklung des Kapitalismus verschwindet das Kleinbürgertum zwar nicht, es wird aber immer kleiner und ökonomisch unwichtiger. Gehörte z.B. Anfang des 20. Jahrhunderts noch ein großer Teil der deutschen Gesellschaft zur Bauernschaft, ist dieser Anteil heute verschwindend gering. Auch kleine Gewerbetreibende in den Städten werden zunehmend von den großen Monopolen verdrängt, z.B. die kleinen Läden durch die großen Einzelhandelsketten und das Handwerk durch die Industrie, oder sie sind über Kredite von den Banken abhängig, denen damit die Produktionsmittel oft de facto gehören.
Aufgrund seiner Stellung zwischen Proletariat und Bourgeoisie ist das Kleinbürgertum eine politisch schwankende Schicht. Es ist durch die kapitalistischen Unternehmen und besonders die Monopole ständig in seiner Existenz bedroht. Wenn der Kleinbürger mit seinem Betrieb scheitert und bankrott geht, rutscht er zwangsläufig in die Arbeiterklasse ab. Gleichzeitig ist er aber auch Eigentümer, kann die (in den allermeisten Fällen vergebliche) Hoffnung auf Aufstieg in die Bourgeoisie hegen und ist daher anfällig für die antikommunistische Propaganda der herrschenden Klasse, da er den Verlust seines Eigentums durch eine sozialistische Revolution fürchtet. Diese Zwischenposition macht das Kleinbürgertum zu einer gesellschaftlichen Gruppe, die sowohl von der Reaktion, als auch von der Arbeiterbewegung als Verbündeter gewonnen werden kann. Ein Beispiel für Ersteres ist der Faschismus, der sich historisch vor allem auf Kleinbürger stützte. Ein Beispiel für ein erfolgreiches Bündnis mit dem Proletariat ist die Oktoberrevolution in Russland, in der die Bauernschaft eine bedeutende revolutionäre Rolle spielte.
4.9.3 Schichten und Fraktionen der Bourgeoisie
Die Klassen sind außerdem nicht homogen. So haben die Kapitalisten zwar einerseits gemeinsame Interessen, an der möglichst effektiven Ausbeutung der Arbeiterklasse, der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems insgesamt usw. Andrerseits gibt es aber auch gegensätzliche Interessen verschiedener Gruppen des Kapitals, die sich z.B. aus der Stellung des Kapitals im Kapitalkreislauf ergeben: So wie das Kapital bei der Produktion des Mehrwerts zuerst in Geldform existiert ist, sich dann in produktives Kapital verwandelt und schließlich als Waren auf dem Markt seinen Wert realisiert, gibt es Teile des Kapitals, die sich auf jeweils einen dieser Abschnitte spezialisieren. Das fiktive Kapital ist das Geldkapital schlechthin, das sich nie in produktives Kapital verwandelt, sondern immer nur als Geld einen Zins abwirft. Das produktive Kapital umfasst Industriekapitalisten, aber auch andere Sparten der Mehrwertproduktion (z.B. die kapitalistisch organisierte Landwirtschaft, private Krankenhäuser usw.). Auf die Realisierung des Warenkapitals spezialisiert sind schließlich die Handelskapitalisten, die nicht selbst produzieren, sondern sich durch den Kauf und Verkauf von Waren einen Teil des Mehrwerts aneignen. Für jede dieser drei Gruppen ergeben sich bestimmte Interessen allein aus ihrer ökonomischen Funktion: z.B. haben Banken ein Interesse an hohen Zinsen, Industriekapitalisten dagegen ein Interesse an niedrigen Zinsen, damit sie billig Kredit aufnehmen können. Diese unterschiedlichen Gruppen des Kapitals, die bedingt durch ihre ökonomische Struktur und Funktion im kapitalistischen Gesamtsystem bestimmte gemeinsame Interessen haben und miteinander deshalb in Interessenskonflikte geraten, bezeichnet man auch als Kapitalfraktionen. Durch die Verschmelzung der verschiedenen Gruppen im Finanzkapital, die dazu führt, dass manche Kapitalisten alle drei Funktionen unter einem Dach vereinen, entsteht umgekehrt auch eine Tendenz zur Vereinheitlichung der Interessen der verschiedenen Fraktionen. Inwiefern man trotzdem von Kapitalfraktionen sprechen kann, wie schwerwiegend die Spaltungslinien zwischen ihnen sind und welche Auswirkungen sie auf die Politik haben, ist eine zu erforschende und zu klärende Frage.
Eine weitere zentrale Spaltungslinie innerhalb des Kapitals verläuft im Monopolkapitalismus zwangsläufig zwischen dem monopolistischen Kapital, das erhöhte Monopolprofite realisiert, und dem nichtmonopolistischen Kapital, auf dessen Kosten diese Monopolprofite gehen.
Aber auch die Höhe der organischen Zusammensetzung des Kapitals, der Grad der Internationalisierung (z.B. Ausrichtung auf Exporte oder den Binnenmarkt) und weitere Faktoren können zu unterschiedlichen Interessen und Strategien von Kapitalfraktionen führen. Diese Widersprüche innerhalb des Kapitals führen dazu, dass es zwischen den verschiedenen Fraktionen Möglichkeiten zum Interessenausgleich geben muss. Diese Rolle spielen u.a. die bürgerlichen Parteien, die meistens die Interessen verschiedener Kapitalfraktionen ausdrücken. Die Interessensgegensätze zwischen dem Monopolkapital verschiedener Länder sind oft besonders scharf und führen zu politischen Konflikten zwischen den Staaten, die auch als Kriege ausgetragen werden.
4.9.4 Schichten der Arbeiterklasse
Auch die Arbeiterklasse umfasst unterschiedliche Schichten, je nachdem wo diese Gruppen von Menschen im Produktionsprozess stehen. Die privilegierten, besser bezahlten und abgesicherten Teile der Klasse, die Arbeiteraristokratie, ist tendenziell umso größer und ihr bescheidender Wohlstand umso größer, je weiter die kapitalistische Entwicklung eines Landes fortgeschritten ist und je höher das Land in der internationalen imperialistischen Hierarchie steht. Allerdings führt die kapitalistische Entwicklung mit ihren Krisen auch dazu, dass diese Arbeiteraristokratie ständig ausgehöhlt wird und potenziell ihre Fähigkeit verliert, Arbeiter weiter politisch an das System zu binden.
In den ärmeren Schichten der Arbeiterklasse ist die Loyalität gegenüber dem Staat und die Zustimmung zum Kapitalismus wesentlich geringer ausgeprägt. Das heißt nicht, dass diese Arbeiter automatisch zu Revolutionären werden, aber sie sind im Durchschnitt wesentlich skeptischer gegenüber der herrschenden Politik und haben weniger Hoffnungen in den Kapitalismus. Die ärmsten Schichten der Arbeiterklasse überschneiden sich zum Teil mit der industriellen Reservearmee, die der Kapitalismus ständig hervorbringt und mal in größerer Zahl (in Krisenzeiten), mal in geringerer Zahl (im Aufschwung) aus dem Arbeitsprozess herauskatapultiert. Bei einem Teil dieser am meisten unterdrückten und ärmsten Schichten der Klasse führt der Kapitalismus zu so starken Verelendungs- und Verrohungserscheinungen (Kriminalität, Drogen-, Alkohol- oder Spielsucht, Gewalttätigkeit usw.), dass sie kaum noch durch die Arbeiterbewegung organisiert werden können. Das niedrige Klassenbewusstsein und die moralische Verrohung dieser Teile der Klasse macht sie zu einem bevorzugten Ansatzpunkt für staatliche Unterdrückungsorgane, um mit ihrer Hilfe gegen die Arbeiterbewegung vorzugehen, aber auch für Faschisten und andere Reaktionäre.
Arbeitsfragen:
- Worin besteht der Klassenwiderspruch zwischen Arbeit und Kapital?
- Was ist das Kleinbürgertum?
- Warum haben verschiedene Teile der Bourgeoisie unterschiedliche oder gar gegensätzliche Interessen?
Diskussionsfragen:
- Gehören höhere und leitende Angestellte oder Beamte zur Arbeiterklasse?
- Wie stark sollte man den Versuch gewichten, das Kleinbürgertum als Bündnispartner im Klassenkampf zu gewinnen? Gehen damit auch Gefahren einher?
„Neue Marx-Lektüre“ und „monetäre Werttheorie“
Die „Neue Marx-Lektüre“ hat ihre Wurzeln teilweise schon in den 60ern (z.B. Helmut Reichelt), spielt aber seit den 90ern eine verstärkte Rolle, vor allem in der akademischen Befassung mit Marx. Michael Heinrich mit seiner „monetären Werttheorie“ kann heute aufgrund seiner viel als „Standardwerk“ gelesenen „Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung” (Heinrich 2007) als bekanntester Vertreter gelten. Heinrich verwirft die Auffassung von Marx und Engels, wonach „Das Kapital“ sowohl eine historische als auch eine logische Entwicklung darstellt. Für ihn wie für andere Vertreter der „Neuen Marx-Lektüre“ (aber auch z.B. den Gegenstandpunkt) ist die Marxsche Analyse eine reine Begriffsentwicklung logischer Kategorien ohne Bezug auf die historische Entwicklung. Damit einher geht, dass der Kapitalismus nicht als sich historisch entwickelnde Gesellschaftsformation aufgefasst wird, sondern die Kapitalismusanalyse lediglich den „idealen Durchschnitt“ der Produktionsweise zu beschreiben hat. Im Unterschied zu Marx, der mit diesem Ausdruck lediglich meinte, dass in der Analyse der Produktionsweise von Besonderheiten abgesehen werden muss, meint Heinrich damit, dass historische Entwicklungstendenzen und Stadien der Entwicklung des Kapitalismus komplett abzulehnen sind.
Auf dieser Grundlage verwirft Heinrich sowohl das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate als auch die Imperialismustheorie Lenins. Eine historische Tendenz zum Fall der Profitrate lasse sich nicht begründen. Daraus folge, dass sich auch eine Zuspitzung der kapitalistischen Klassengegensätze nicht nachweisen ließe. Krisen führten nicht zu einer Verschärfung der Widersprüche, sondern dienen nur der gewaltsamen Beseitigung von Ungleichgewichten. Lenins Analyse des Monopolkapitalismus wird verworfen, weil darin angeblich nur der Wille der Monopolherren zähle und nicht mehr das Wertgesetz. In Wirklichkeit verwirft die marxistische Imperialismustheorie jedoch keineswegs das Wirken des Wertgesetzes, sondern analysiert, wie sich aus diesem heraus Monopole bilden, die seine Wirkung verändern.
Heinrich lehnt nicht nur den Entwicklungsgedanken der Kritik der Politischen Ökonomie ab, sondern die dialektische Methode grundsätzlich. Diese sei „eine Art Wunderwaffe, mit der man Alles und Jedes erklären konnte“ (Heinrich 2007, S. 35). Das ist natürlich nicht richtig, denn die Dialektik als wissenschaftliche Methode lässt sich nicht willkürlich anwenden, sondern spiegelt lediglich den realen dialektischen Entwicklungsgang der Realität wider.
Die „monetäre Werttheorie“ Heinrichs verwirft die Marxsche Auffassung, dass der Wert der Waren, also die unter kapitalistischen Bedingungen darin vergegenständlichte Arbeit die Tauschwerte und Preise bestimmt. Stattdessen werde der Wert überhaupt erst beim Verkauf der Waren gebildet, könne sich also nur im Geld darstellen. Heinrichs Theorie ist damit allerdings überhaupt keine Arbeitswerttheorie mehr. Denn Marx ging es darum, durch den Wert als gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit die Austauschverhältnisse, also die Höhe der Preise zu erklären. Wenn, wie Heinrich behauptet, der Wert einfach dasselbe wäre wie der auf dem Markt realisierte Marktpreis, könnte man durch die Arbeitszeit auch nichts erklären. Damit wäre der Wert dann einfach das, was sich auf dem Markt durch Angebot und Nachfrage herausbildet. Heinrich und die „monetären Werttheoretiker“ verteidigen damit trotz pseudomarxistischer Phrasen letztendlich genau denselben Standpunkt wie die liberale Wirtschaftstheorie nach David Ricardo, die Angebot und Nachfrage für eine ausreichende Erklärung der Preise hält und die Arbeitswerttheorie ablehnt.