Kapitel 3.1-3.2
Kapitel 3.3-3.4
3.3 Dialektischer Materialismus
3.4 Erkenntnis als Widerspiegelung der objektiven Realität
3.5 Historischer Materialismus
Warum ist es für Kommunisten wichtig, sich mit philosophischen Fragen zu beschäftigen? In der Philosophie geht es doch meistens um irgendwelche abgehobenen Diskussionen, die mit der Realität nicht viel zu tun haben – und Kommunisten haben doch alle Hände voll damit zu tun, den Kampf gegen den Kapitalismus zu organisieren und die Bevölkerung zu erreichen. Oder? Im Verlauf dieses Kapitels werden wir sehen, dass scheinbar abgehobene und abstrakte Fragen wie nach dem Ursprung des Lebens, nach Wandel und Stillstand in der Natur, nach Materie und Geist, nach den treibenden Kräften der Bewegung usw. enorme politische Bedeutung besitzen. Das ist so, weil Politik eben kein isolierter, abgeschotteter Bereich ist, sondern mit sehr vielen anderen Fragen zusammenhängt. Um die Welt zu verändern, muss man sie richtig verstehen. Man muss die Regeln, nach denen sie funktioniert, erst einmal erkennen. Deshalb braucht eine erfolgreiche politische Strategie eine stabile wissenschaftliche Grundlage. Die wissenschaftliche Theorie der Kommunisten kann sich aber auch nicht darauf beschränken, sich z.B. nur mit der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Denn die Gesellschaft ist Teil der Welt und nicht unabhängig davon, wie der Rest der Welt, wie der Mensch, wie die Natur, deren Teil er ist, funktionieren.
Philosophische Auffassungen über diese Fragen wirken sich immer auch darauf aus, wie die Gesellschaft verstanden wird und wie man sich zu den vorherrschenden gesellschaftlichen Zuständen verhält. Es ist kein Zufall, dass die herrschende Philosophie unserer Zeit, wie sie an den Universitäten gelehrt wird, in der Regel darauf hinausläuft, den Kapitalismus zu rechtfertigen.
Eine Neutralität gibt es bei philosophischen Auffassungen genauso wenig wie bei politischen Meinungen. Auch kann es in philosophischen Fragen keine Kompromisse geben: Es geht darum, herauszufinden, wie die Realität wirklich ist. Dabei kann man nicht aus Rücksicht oder um des lieben Friedens willen eine falsche Auffassung akzeptieren, so wie man vielleicht schon mal unter Bekannten einen politischen Kommentar so stehen lässt, um keine hitzige Debatte zu provozieren.
Der Klassenkampf findet auch auf dem Gebiet der Philosophie und Wissenschaft statt. Der Dialektische und Historische Materialismus, die grundlegende Weltsicht des Marxismus, nimmt dabei einen politischen Standpunkt ein, so wie jede andere philosophische Position auch: Es geht ihr letztlich um die Befreiung der Arbeiterklasse und der Volksmassen von Unterdrückung, Ausbeutung und Elend. Diese Perspektive ist keine Rechtfertigung dafür, dass man wissenschaftliche Fakten so anpasst, bis sie ins eigene Weltbild passen (wie es die bürgerlichen Wissenschaftler oft genug tun), sondern im Gegenteil ein Ansporn, der Realität so ungeschminkt wie möglich ins Auge zu blicken. Wir haben also – im Gegensatz zu den Verteidigern der Klassengesellschaft – ein Interesse an der Wahrheit. Das bewusste Verfälschen und Verzerren von Tatsachen widerspricht dem Wesen des wissenschaftlichen Sozialismus. Denn wenn wir die Welt verändern wollen, müssen wir sie verstehen – nicht so, wie wir sie gerne hätten, sondern wie sie ist.
Marx und Engels beschäftigten sich ausführlich mit der Geschichte der Philosophie und damit, ihre eigenen Antworten auf die Fragen der Philosophie zu erarbeiten, weil sie verstanden hatten, dass die richtige Strategie im Kampf gegen die herrschende Klasse wissenschaftlich hergeleitet werden muss. Und auch Lenin, den die meisten ja vor allem als Politiker, als Revolutionär kannten, befasste sich ausgiebig mit der Philosophie. Noch 1914, als der Erste Weltkrieg ausgebrochen war und drei Jahre vor dem Sieg der Großen Oktoberrevolution, setzte sich Lenin ausführlich mit Hegels Philosophie auseinander.
Offensichtlich hielten Marx, Engels und Lenin die Fragen der Philosophie für politisch sehr relevant, da sie ansonsten inmitten der härtesten Klassenkämpfe wohl kaum ihre knappe Zeit dafür aufgewandt hätten.
Postmodernismus
Die heterogene Strömung der postmodernen Philosophie, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte, hat auf die aktuelle Geisteswissenschaft einen sehr problematischen Einfluss: Eine genaue Definition der Inhalte der Strömung ist auch unter postmodernen Philosophen umstritten, charakteristisch ist aber, dass sogenannte große Erzählungen (z.B. „die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“) und eine objektive, zusammenhängende Wahrheit geleugnet werden und stattdessen argumentiert wird, dass die Wahrheit abhängig vom historischen und sozialen Kontext konstruiert wird. Entsprechend wird auch die marxistisch-leninistische Erkenntnismethode, der Anspruch aus der Realität heraus Gesetzmäßigkeiten erkennen zu können als unmöglich und zu mechanisch kritisiert. Das bedeutet aber nichts anderes als einen Angriff auf unser Werkzeug zur Entwicklung einer Strategie des Klassenkampfes. Die linke Bewegung heute ist dominiert von postmoderner Identitätspolitik, die sich Ende des letzten Jahrhunderts ausdrücklich in Abgrenzung zur materialistischen, marxistischen Erkenntnistheorie entwickelt hatte. Die richtige Erkenntnis über die individuelle und strukturelle Diskriminierung wie Rassismus oder Sexismus wird von der Untersuchung ihrer Funktion für den bürgerlichen Staat und die Herrschaftsverhältnisse losgelöst – damit kann die systemstützende Funktion dieser Mechanismen nicht mehr erkannt werden, und damit die Ursache der Unterdrückung auch nicht verändert. Anstelle dieser kollektiven Kämpfe tritt damit die Spaltung der Arbeiterklasse, oft gibt man sich mit „Repräsentation“ der unterdrückten Minderheiten in Machtpositionen als Ziel zufrieden. Hier zeigt sich der höchst problematische Einfluss des Idealismus – anstatt dem Versuch objektive Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, und die Gesellschaft von diesen Erkenntnissen heraus zu verändern, steht im Mittelpunkt das eigene und das gesamtgesellschaftliche Bewusstsein zu verändern, zu reflektieren und damit über die ideelle Ebene die Welt zu verändern.
Eine direkte Legitimation für die bürgerliche Herrschaft sind zum Beispiel Überlegungen des akademisch einflussreichen Philosophen Axel Honneth, Nachfolger der sogenannten Frankfurter Schule (wie auch seine in akademischen Kreisen bekannte Schülerin Rahel Jaeggi) – in Werken wie „das Recht der Freiheit“ in dem der bürgerliche Staat als Herrschaftsinstrument der herrschenden Klasse ignoriert und stattdessen als notwendiger Rahmen dargestellt wird, in dem sich eine „sittliche“ Marktgesellschaft entfalten kann, wenn sich die „ökonomischen Akteure“ als Mitglied „einer kooperativen Gemeinschaft anerkannt haben“. Wie auch viele andere Philosophen ist Honneth wiederum von Jürgen Habermas beeinflusst –auch Teil der Frankfurter Schule und einer der weltweit meistgelesenen modernen Philosophen und Sozialwissenschaftler. Gefährlich ist sein Einfluss vor allem, weil sich seine Theorien – wie üblich für den Revisionismus – als weitgehende Kapitalismuskritik tarnen, letztendlich aber vor allem haben sogenannten entfesselten Kapitalismus, der aggressiven Außenpolitik abarbeiten und damit Illusionen in die Reformierbarkeit und über die Zwänge des Kapitalismus und Imperialismus verstärken. Seinen Überlegungen zufolge können „demokratische“ Entscheidungen in einem bürgerlichen Staat legitim sein, wenn eine starke Zivilgesellschaft daran beteiligt wird. In seiner Theorie kommunikativen Handelns sind Diskurs und Kommunikation zentral, die Herrschafts- und Machtverhältnisse und der Klassenkampf treten dabei in den Hintergrund.
3.1 Was ist Materialismus?
In der Geschichte der Philosophie gab es eine Vielzahl unterschiedlicher Standpunkte und Auseinandersetzungen zwischen diesen Standpunkten. Allerdings drehten sich die Auseinandersetzungen im Kern immer um eine grundlegende Frage. Diese Frage ist die nach der Beziehung zwischen der Materie und dem Bewusstsein.
Um uns dieser Frage zu nähern, müssen wir uns jedoch zuerst damit beschäftigen, was überhaupt damit gemeint ist, wenn wir über Materie sprechen.
3.1.1 Was ist mit Materie gemeint?
In der Physik gibt es einen ganz bestimmten Begriff von Materie. In der Naturwissenschaft sind mit Materie meistens einfach die Bausteine gemeint, aus denen Körper und Stoffe zusammengesetzt werden können. Materie sind demnach also chemische Stoffe, die Atome, aus denen sie bestehen, dann wiederum die Bausteine der Atome usw. Es gibt demnach auch Teile der realen Welt, die nicht Materie sind: Beispielsweise das Licht. Die moderne Physik entdeckte allerdings, dass dieser Begriff zu schematisch ist – die Tatsache, dass das Licht, je nach Betrachtungsweise, sowohl als eine lediglich Energie transportierende Welle, als auch als Teilchen aus Materie bestehen kann, wurde beispielsweise mit Experimenten zum Welle-Teilchen-Dualismus untersucht und erkannt.
Der philosophische Materiebegriff ist umfassender als der physikalische. Lenin definiert die Materie als „unabhängig vom menschlichen Bewußtsein existierende und von ihm abgebildete objektive Realität“ (Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus, LW 14, S. 261; siehe Kasten). Diesem Verständnis hat sich also die Physik des 20. Jahrhunderts weiter angenähert. Aber auch Dinge, mit denen sich die Physik gar nicht befasst, sind Teil der Materie, des materiellen Zusammenhangs der Welt: z.B. der Stoffwechsel der Tiere und Pflanzen und die menschliche Gesellschaft mit ihren Prozessen.
Die Materie an sich ist unerschaffbar und unzerstörbar. Zwar können ihre Formen wechseln und das tun sie auch ständig: Aus Wasserstoff und Sauerstoff kann Wasser werden und umgekehrt kann Wasser in die Bestandteile Wasserstoff und Sauerstoff aufgetrennt werden. Aus Energie kann (nach der Relativitätstheorie) Masse werden und umgekehrt. Aus einer gesellschaftlichen Formation kann durch eine Revolution eine andere werden. Aber dass es Materie gibt und diese in ihrer Menge insgesamt gleich bleibt, daran lässt sich durch keinen Prozess der Welt etwas ändern.
3.1.2 Materialismus und Idealismus
Was ist nun das Ursprüngliche, das Bestimmende? Die Materie oder das Bewusstsein? Dazu gibt es zwei entgegengesetzte, einander ausschließende Standpunkte.
Nach der Auffassung des Idealismus ist der Geist, das Bewusstsein, das Grundlegende, während die materielle Welt nachrangig ist. Für den Idealismus ist das Bewusstsein nicht Produkt der Materie, sondern es existiert selbstständig und außerhalb der materiellen Welt. Es gibt viele verschiedene Varianten dieser Auffassung, zu denen wir gleich kommen werden.
Nach der Auffassung des Materialismus ist dagegen die materielle Welt die Grundlage, auf der das Bewusstsein erst entsteht. Erkenntnis ist demnach eine Form der Abbildung der Materie im Bewusstsein. Die Materie existiert jedoch eigenständig außerhalb des Bewusstseins und unabhängig von ihm.
Im Idealismus gibt es zwei Hauptströmungen: den objektiven und den subjektiven Idealismus. Beide haben gemeinsam, dass sie das Ideelle für das Grundlegende halten. Der objektive Idealismus versteht das Ideelle aber als etwas, das außerhalb des menschlichen Kopfes selbstständig existiert. Nach dem antiken griechischen Philosophen Platon (ca. 427-347 v.Chr.) liegt jedem realen Ding eine „Idee“ zugrunde, wobei das reale Ding nur ein unvollständiger Ausdruck dieser Idee ist. Der einzelne Fisch ist so z.B. nur ein Ausdruck der objektiv, außerhalb des menschlichen Geistes existierenden „Idee“ des Fisches. Weniger weit ging Immanuel Kant (1724-1804): Für ihn gibt es zwar außerhalb des Bewusstseins eine Außenwelt und sie regt auch unsere Vorstellungen an, aber hinter diesen wahrgenommenen Erscheinungen gibt es seiner Meinung nach ein „Ding an sich“, das die Erscheinungen hervorbringt, das wir wiederum aber nicht erkennen können.
Der deutsche Philosoph Hegel (1770-1831) ging davon aus, dass es einen objektiv existierenden Geist gibt, der sich aus sich selbst heraus weiterentwickelt. Die Entwicklung der Natur und Geschichte seien demnach nur Ausdruck dieses in seiner Entwicklung fortschreitenden Geistes. Gleichzeitig stellte Hegel die Entwicklung des Geistes aber als dialektischen Prozess dar, der durch innere Widersprüche vorangetrieben wird, was wiederum einen wichtigen Fortschritt des Denkens bedeutete, an den Marx und Engels später anschließen konnten.
Demgegenüber steht die Position des subjektiven Idealismus. Seine Vertreter glauben, dass das Bewusstsein erst die Welt schafft. Demnach gibt es eine vom Bewusstsein des einzelnen Menschen unabhängige Welt gar nicht oder diese ist zumindest nicht erkennbar. Ein extremer Vertreter ist beispielsweise George Berkeley (1685-1753), der grundsätzlich bestritt, dass es überhaupt eine Welt außerhalb der menschlichen Wahrnehmung gibt. Moderne Beispiele finden sich, neben der oben angeführten Identitätspolitik zum Beispiel im bürgerlichen Begriff des Faschismus und seine Ursachen: die terroristische Herrschaftsform des Faschismus wird natürlich nicht als Variante bürgerlicher Herrschaft gesehen (s. Kapitel 5). Stattdessen wird der Faschismus, wie auch die aggressive Außenpolitik von Staaten im heutigen Imperialismus auf die falschen Ideen, das falsche Bewusstsein, die verrückten Gedanken einzelner zurückgeführt, die sich in der (ungebildeten) Masse der Bevölkerung verbreiten können. Diese Erklärungen sind natürlich im Interesse der Herrschenden, da sie die Instrumente ihrer Machtausübung verschleiern und damit auch den Kampf dagegen verhindern.
Wir können die Grundfrage der Philosophie nach dem Verhältnis von Sein und Bewusstsein in zwei Fragen unterteilen: Erstens die Frage, ob die Materie das Bewusstsein hervorbringt oder umgekehrt. Eine idealistische Antwort auf diese Frage lautet beispielsweise, dass die Geschicke der Welt von einem göttlichen Wesen gelenkt werden oder dass die Welt überhaupt von einem Gott erschaffen wurde.
Die zweite Frage ist die nach der Erkenntnis: Ist unsere Wahrnehmung der Welt wirklich die Wahrnehmung von etwas, das außerhalb unseres Bewusstseins und unabhängig davon existiert? Oder ist unsere gesamte Wahrnehmung im Grunde eine Form der Einbildung, während die Außenwelt, die wir zu erkennen glauben, gar nicht wirklich existiert oder zumindest unerkennbar ist? Eine idealistische Erkenntnistheorie würde den zweiten Standpunkt vertreten.
3.1.3 Die materialistische Weltauffassung
Was ist nun Materialismus? Eigentlich gibt es bei jedem Menschen zunächst einmal eine spontane materialistische Auffassung der Welt: Wir gehen erst einmal davon aus, dass die Welt, in der wir uns bewegen, die wir wahrnehmen, die wir durch unsere Handlungen verändern, auch wirklich existiert. Das ist auch die erste Aussage der materialistischen Auffassung von der Welt: Es gibt eine objektive Realität und wir können sie erkennen. Mit der materialistischen Erkenntnistheorie werden wir uns im Kapitel 3.4 genauer beschäftigen.
Die materialistische Philosophie geht aber noch weiter. Es geht ihr grundsätzlich um das Verhältnis von Denken und Sein. Nach dem Materialismus ist das Denken, das Bewusstsein, der Geist nicht außerhalb der materiellen Welt entstanden, sondern ist ein Produkt ihrer Entwicklung. Der Mensch mit seinem Bewusstsein ist ein Ergebnis der Naturgeschichte und der von ihm selbst gemachten Geschichte der Gesellschaft. Und die Gesetze, nach denen die materielle Welt sich entwickelt, bestimmen auch die Entstehung und Funktionsweise des Bewusstseins. Das Bewusstsein ist eine Funktion des Nervensystems, das aber wiederum materiell ist und im Einklang mit den Naturgesetzen funktioniert. Der konsequente Materialismus geht zudem davon aus, dass nicht nur in der Natur das Bewusstsein von der Materie hervorgebracht wird, sondern dass auch die Entwicklung der Gesellschaft das Bewusstsein der Menschen hervorbringt und entscheidend prägt. Damit werden wir uns in Kapitel 3.5 genauer befassen.
Materialismus bedeutet, die Welt so zu betrachten, wie sie wirklich ist. Also die materiellen Tatsachen in ihrem wirklichen, ihnen eigenen Zusammenhang zu sehen und nicht in einem geistig konstruierten mystischen Zusammenhang, wie es beispielsweise die Religionen tun. Lenin sagt dazu:
„Das, was den Materialisten grundlegend von dem Anhänger der idealistischen Philosophie unterscheidet, ist dies, daß er die Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellung und überhaupt das Bewußtsein des Menschen als Abbild der objektiven Realität betrachtet. Die Welt ist die Bewegung dieser von unserem Bewußtsein widergespiegelten objektiven Realität. Der Bewegung der Vorstellungen, Wahrnehmungen usw. entspricht die Bewegung der Materie außer mir. Der Begriff Materie drückt nichts anderes aus als die uns in der Empfindung gegebene objektive Realität.“ (LW 14, S. 267).
Die grundlegenden Erkenntnisse der Naturwissenschaft wie die Unzerstörbarkeit der Materie (Energieerhaltungssatz) oder der Zusammenhang des Bewusstseins mit dem Körper wurden zuerst von Philosophen als Thesen aufgestellt, bevor die Naturwissenschaftler sie beweisen konnten. Sie führten aber oftmals die Naturwissenschaftler erst auf den richtigen Pfad und stießen sie darauf, wonach sie suchen mussten. Die Entwicklung der Philosophie war damit entscheidend für die Fortentwicklung der Naturwissenschaft, genauso wie umgekehrt.
3.1.4 Der Kampf zwischen Materialismus und Idealismus in der Geschichte
Der Kampf zwischen Idealismus und Materialismus durchlief in der Geschichte des Denkens viele Stadien und Formen. Bereits in der Antike wurde er geführt, damals als Kampf zwischen verschiedenen Gruppierungen innerhalb der herrschenden Klasse der Sklavenhalter. Die am meisten ausgebeutete Klasse, die Sklaven, konnten damals keine eigene systematische Philosophie entwickeln, jedenfalls ist nichts dergleichen überliefert. Die philosophische Auseinandersetzung zwischen Idealisten und Materialisten hatte Überschneidungen mit der politischen Auseinandersetzung zwischen Aristokratie, also den Befürwortern einer Adelsherrschaft, und Demokratie, also den Anhängern einer Herrschaft der freien männlichen Bürger.
Die Philosophie des Mittelalters war in Europa und dem arabischen Raum überwiegend stark von Aristoteles geprägt, außerdem natürlich auch von den Glaubenslehren des Christentums und des Islam. Die Philosophie in dieser Zeit diente oft der Rechtfertigung und Begründung der Religion und der Klassenherrschaft des Feudalismus. Dennoch gab es auch hier materialistische Erkenntnismethoden, vor allem islamische Gelehrte in der Region um Bagdad entwickelten systematische Methoden des Experimentierens und der Beobachtung, beispielsweise im Bereich der Astronomie.
Mit der Entstehung des Kapitalismus und den rasanten Fortschritten der Naturwissenschaften begann das mittelalterliche Weltbild immer unhaltbarer zu werden. Denker wie Galileo Galilei, Johannes Kepler, Kopernikus, Leonardo da Vinci und andere begannen, sich die Welt zunehmend wissenschaftlich zu erklären, durch Beobachtungen, die man verallgemeinerte und zueinander in Beziehung setzte. Die Institutionen der Kirche bekämpften den wissenschaftlichen Fortschritt erbittert, weil er ihre Machtbasis infrage stellte. Der italienische Philosoph Giordano Bruno (1548-1600) stellte die These auf, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums sei und das Weltall, also die materielle Welt, unendlich groß sei. Die Kirche ließ ihn für diese Auffassungen auf dem Scheiterhaufen verbrennen.
Die Entstehung des Kapitalismus, fortgeschrittener Produktionsmethoden und der Aufschwung der Naturwissenschaften förderten in den folgenden Jahrhunderten das Interesse am Studium der Natur. Man begann, dem Verstand wieder mehr zuzutrauen, anstatt alle Erkenntnisse aus heiligen Schriften ableiten zu wollen.
In Deutschland vertraten die meisten großen Denker im 18. und 19. Jahrhundert dagegen idealistische Standpunkte. Vertreter des „Deutschen Idealismus“ waren vor allem Hegel, Kant und Fichte, die ja teilweise schon erwähnt wurden. Den Materialismus verteidigte in dieser Epoche in Deutschland vor allem Ludwig Feuerbach. Feuerbach war ein Vertreter der fortschrittlichen, gegen den Feudalismus und die Autorität der Kirche gerichteten, Ideen der Aufklärung. Er ging wie die englischen und französischen Materialisten von einer objektiven Realität außerhalb des Bewusstseins und von einer ewigen und unzerstörbaren Materie aus, die sich nach ihren eigenen natürlichen Gesetzen entwickelt. Den Geist sah er als Produkt der Materie. Er glaubte nicht daran, dass Gott den Menschen geschaffen hatte – vielmehr sah er umgekehrt die Religion und den Glauben an Gott als eine Schöpfung der Menschen an. Marx knüpfte an diese Gedanken Feuerbachs an, kritisierte dabei aber, dass dessen Theorie die Gesellschaft nur beschrieb und dabei vergaß, dass die gesellschaftlichen Umstände durch den Menschen selbst verändert werden, es also eine wechselseitige Spannung zwischen dem einzelnen Individuum und der Gesellschaft gibt.
Diese lange Geschichte des philosophischen Streits zwischen materialistischen und idealistischen Auffassungen war das Fundament, auf dem Marx und Engels bauen konnten. Engels stellte dabei fest, dass bereits die antiken griechischen Philosophen die wesentlichen Fragen gestellt hatten, mit denen die Philosophen der folgenden Jahrtausende sich dann beschäftigten. Für die Entstehung des Dialektischen und Historischen Materialismus waren diese jahrtausendelangen Auseinandersetzungen von entscheidender Bedeutung. Denn so genial Marx und Engels auch waren, sie schufen die neue Weltanschauung des Marxismus nicht aus dem Nichts. Sie konnten nur deshalb zu Riesen werden, weil sie selbst auf den Schultern von Riesen standen. In besonderem Maße griffen sie dabei auf die dialektische Lehre Hegels, mit der wir uns in Kapitel 3.3 noch kurz beschäftigen werden, und den Materialismus Feuerbachs zurück.
Arbeitsfrage:
- Worin bestehen die grundlegenden Auffassungen des Idealismus und des Materialismus?
Diskussionsfrage:
- Sind idealistische Auffassungen immer unwissenschaftlich? Sind materialistische Auffassungen grundsätzlich wissenschaftlich?
3.2 Was ist Dialektik?
Alles Existierende existiert unter den Bedingungen der Zeit und ist dem Prozess der Veränderung unterworfen. Der philosophische Begriff der Bewegung spiegelt alle diese Veränderungen und Prozesse im Universum wider, von der bloßen Ortsveränderung bis zum Denken. Das Leben ist ohne Veränderung, ohne Bewegung nicht möglich: Der Kreislauf von Flüssigkeiten, die Umwandlung von Kohlenstoffverbindungen in andere Kohlenstoffverbindungen und wieder zurück, das Wachsen, Entstehen und Sterben von Zellen gehören notwendigerweise zum Leben dazu. Doch auch mit der nicht-belebten Materie ist es nicht anders: Da alle Atome, selbst die an den entferntesten Orten des Weltalls, eine gewisse Menge Energie speichern, sind auch alle Atome ständig in Bewegung. Auch das Licht, das es uns ermöglicht, zu sehen, bewegt sich in Form von Wellen und gleichzeitig als Teilchenstrom. Selbst unser Universum bleibt nicht gleich. Alles Existierende hat also diese Eigenschaft gemeinsam, dass es sich bewegt und verändert.
Bereits die antike griechische Philosophie beschäftigte sich mit der Bewegung und ihren Ursprüngen. Fragt man danach, warum die Dinge sich bewegen, kommt man zu einem der bedeutendsten Probleme der Philosophie. Denn wenn wir darüber nachdenken, wie Bewegung zustande kommt, scheint es auf den ersten Blick so zu sein, dass eine Bewegung immer die Folge einer anderen Bewegung ist: So wie bei einer Billardkugel, die sich nur bewegt, weil sie angestoßen wurde. Ein Baum fällt nicht von selbst um, sondern weil er gefällt wird, oder weil er dem Sturm nicht standhalten kann. Nach dieser Vorstellung ist also die Bewegung immer Folge einer anderen Bewegung, diese ihrerseits wiederum die Folge einer anderen Bewegung und so weiter. Diese Kette lässt sich bis ins Unendliche zurückverfolgen. Den Ursprung, also die Erklärung von Bewegung, lässt sich auf diese Weise gar nicht finden. Diese Schwierigkeit hat dazu geführt, dass manche Philosophen einen „ersten Beweger“, der selbst nicht von etwas anderem bewegt wird, vorgeschlagen haben.
Von einem solchen „ersten Beweger“ ging auch Aristoteles aus: ein Ding, das aus sich heraus Bewegung schaffen kann. Alle Schöpfungsgeschichten der verschiedenen Religionen beruhen auf dem Gedanken, dass ein vor der Welt existierendes Wesen – Gott – die Dinge geschaffen und damit gleichzeitig ihre Bewegung ausgelöst hat. Ist das Problem damit gelöst? Nein, das ist es nicht. Denn es gibt keinen wissenschaftlichen Grund, warum man von der Existenz eines Gottes ausgehen sollte. Im Gegenteil widerspricht diese Vorstellung allen Erkenntnissen der Wissenschaft. Denn dank der Wissenschaften wissen wir heute, dass das Bewusstsein das Produkt einer besonders organisierten Materie ist (siehe Kapitel 3.3) und nicht umgekehrt. Dank der Erkenntnisse der Wissenschaften wissen wir heute auch, dass wir Gott nicht benötigen, um Entwicklung und Bewegung zu erklären. Denn die Vorstellung, dass sich Dinge nur dann bewegen können, wenn sie von außen angestoßen werden, ist falsch. Bewegung gibt es nämlich auch als Selbstbewegung. Selbstbewegung bedeutet, dass eine Sache aufgrund von Eigenschaften, die ihr innewohnen, also nicht von außen auf sie einwirken, sich zu verändern oder zu bewegen beginnt.
3.2.1 Die Dialektik – eine Theorie über Bewegung und Entwicklung
Die Dialektik ist also eine Theorie, die sich mit Bewegung in ihren verschiedenen Formen befasst und ihre Ursachen analysiert. Mit den Ursachen der Bewegung sind nicht nur die Auslöser der Bewegung im unmittelbaren Sinne gemeint – wie wenn z.B. ein starker Windstoß für das Fallen eines Baumes verantwortlich gemacht wird. Es geht vielmehr darum, im umfassendsten Sinne die Gesetzmäßigkeiten zu erklären, nach denen Bewegung verläuft. Um beim Beispiel des fallenden Baumes zu bleiben: Ein stabil stehender Baum wird von einem Windstoß normalerweise nicht gefällt. Untersuchen wir aber die Ursachen dieses Ereignisses etwas tiefgehender, finden wir vielleicht heraus, dass der Baum morsch war und deswegen dem Windstoß nicht standhalten konnte. Morsch war er deshalb, weil auch ein Baum, wie jedes Lebewesen, eine begrenzte Lebensdauer hat. Irgendwann stirbt er ab und seine Struktur beginnt zu zerfallen. Die Prozesse dieses Zerfalls lassen sich wiederum von der Biochemie untersuchen. Das dialektische Denken würde also nicht nur den Windstoß und den Baum bedenken, um das Fallen des Baumes zu erklären, sondern den Baum wie auch den Wind anhand der jeweiligen Naturgesetze untersuchen, denen sie unterliegen.
Eine grundlegende Aussage der Dialektik ist also, dass die Bewegung der Dinge nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten verläuft. Diese Gesetzmäßigkeiten ergeben sich aus dem allseitigen Zusammenhang der Dinge miteinander – das heißt, dass auf dieser Welt letzten Endes direkt oder indirekt alles mit allem zusammenhängt. Es gibt kein Ding auf der Welt, was völlig isoliert existiert und keinem Einfluss anderer Dinge ausgesetzt ist. Die Welt und die Materie insgesamt sind also als Einheit zu verstehen. Um zu verstehen, warum sich ein Ding verändert, dürfen wir uns dieses Ding nicht isoliert ansehen, sondern als Teil des größeren Zusammenhangs. Versuchen wir z.B., die Bewegung des Mondes zu erklären, indem wir uns nur den Mond ansehen, müssen wir scheitern. Denn warum sollte sich der Mond ständig in einem Kreis bewegen? Eine Erklärung dafür gibt es nur, wenn wir uns den Zusammenhang des Mondes mit der Erde ansehen – denn die Anziehungskraft der Erde führt dazu, dass der Mond sich in einer festen Umlaufbahn um sie dreht. Die Erde wiederum dreht sich in einer Umlaufbahn um die Sonne. Das Leben auf der Erde lässt sich nur verstehen, wenn wir die Wärmestrahlung der Sonne miteinbeziehen. Diese wiederum ist das Ergebnis eines komplizierten physikalischen Prozesses, der im Inneren der Sonne stattfindet, der Kernfusion. Und so weiter. Wir sehen also: Die Dinge lassen sich nur in ihrem Zusammenhang auffassen und wirklich verstehen.
Frühere Auffassungen der Bewegung konnten sich nur eine bestimmte Form der Bewegung vorstellen: Bewegung als bloße Ortsveränderung oder als Wachsen und Schrumpfen. Wir wissen jedoch, dass das nicht die einzigen Formen sind, in denen Veränderung vorkommt. Es gibt auch die Art der Veränderung, bei der aus einer Sache eine ganz andere wird. Es gibt dafür unzählige Beispiele. Wenn z.B. das männliche Spermium die weibliche Eizelle befruchtet, entsteht ein neues Lebewesen. Im 17. und 18. Jahrhundert glaubten die Forscher noch, im Sperma sei der fertige Mensch in sehr kleiner Form schon vorhanden und würde dann nur noch im Mutterleib größer werden. Heute wissen wir natürlich, dass es nicht so ist. Im Sperma ist lediglich ein Teil des Erbgutes enthalten, aus dem der Mensch wird. Und dieser ist bei der Befruchtung weit davon entfernt fertig zu sein, sondern ist erst einmal eine einzige Zelle, aus der sich der gesamte Organismus mit all seinen Teilen erst noch herausbilden muss. Veränderung kann also etwas qualitativ Neues hervorbringen. Die Gesetze, nach denen das passiert, können wissenschaftlich untersucht und erkannt werden.
3.2.2 Einheit und Kampf der Gegensätze
Nun gibt es in unserer Welt eine enorme Vielfalt an unterschiedlichen Gesetzen, die alle miteinander zusammenhängen und voneinander abhängen. Nach der dialektischen Auffassung liegen den zahlreichen besonderen Gesetzen (wie z.B. in den Naturwissenschaften der Gravitation, der Gesetze der Newton’schen Mechanik, der Gesetze der chemischen Reaktionen usw.) drei sehr allgemeine und grundlegende Gesetze der Bewegung zugrunde. Diese drei Grundgesetze werden jedoch von einer Vielzahl weiterer dialektischer Gesetze ergänzt.
Das erste dieser Grundgesetze ist das Gesetz von der Einheit und dem Kampf der Gegensätze.
Wie bereits gesagt muss eine wissenschaftliche Entwicklungslehre vor allem die Quelle der Selbstbewegung der Dinge aufdecken. Nach der materialistischen Dialektik sind die Widersprüche in den Dingen diese Triebkraft. Was ist mit Widersprüchen hier gemeint? Viele stellen sich darunter eine Aussage und Gegen- Aussage vor. Wenn ich z.B. sage, der Zug kommt eine Viertelstunde zu spät, während jemand anderes sagt, der Zug kommt pünktlich. Dann besteht zwischen den beiden Aussagen natürlich ein Widerspruch. Und zwar handelt es sich um einen logischen Widerspruch, denn der Zug kann logischerweise unmöglich gleichzeitig pünktlich sein und 15 Minuten zu spät kommen.
Diese Art von Widersprüchen ist hier aber nicht gemeint. Wenn wir von dialektischen Widersprüchen sprechen, meinen wir eben keine logischen Widersprüche, die nur in Gedanken, zwischen verschiedenen Aussagen bestehen. Wir meinen stattdessen Widersprüche, die Teil der Realität sind, also in der Wirklichkeit tatsächlich vorkommen. Ein dialektischer Widerspruch heißt, dass Dinge, Erscheinungen, Prozesse einander entgegengesetzt sind und zugleich eine Einheit bilden und wo zwischen ihnen eine Wechselwirkung besteht, die zur Veränderung des Verhältnisses führt. Es geht also nicht um sich widersprechende Sätze, sondern um entgegenwirkende Tendenzen und Kräfte. Einheit und Kampf der Gegensätze bedeutet dabei nun, dass diese Kräfte einerseits gegensätzlichen Charakter haben, dass sie von sich aus auseinanderstreben. Andrerseits bilden sie aber auch eine Einheit, sie sind also Teil derselben Sache und voneinander abhängig.
Um das zu verstehen, sollten wir wiederum ein Beispiel heranziehen, dieses Mal aus der Gesellschaftswissenschaft: Wir werden später auf die ökonomische Grundlage der Klassen im Kapitalismus zu sprechen kommen. An dieser Stelle reicht die Feststellung, dass es im Kapitalismus zwei grundlegende Klassen gibt, deren Interessen sich grundsätzlich widersprechen. Diese zwei Klassen sind die Arbeiterklasse und die Bourgeoisie (die Kapitalisten). Die Arbeiterklasse ist gewissermaßen das Gegenteil der Bourgeoisie: Sie muss arbeiten, die Bourgeoisie nicht. Die Bourgeoisie ist Eigentümer der Produktionsmittel, die Arbeiterklasse ist gerade durch ihr Nicht-Eigentum an den Produktionsmitteln gekennzeichnet. Außerdem ist ihr Klasseninteresse dem der Bourgeoisie entgegengesetzt, wie wir weiter unten sehen werden. Die Arbeiterklasse hat ein Interesse an besseren Arbeitsbedingungen, höheren Löhnen und letzten Endes der Abschaffung des Kapitalismus. Die Bourgeoisie hingegen hat ein Interesse daran, die Arbeitskraft möglichst billig zu halten, um hohe Profite einfahren zu können. Und selbstverständlich hat sie ein Interesse an der Aufrechterhaltung des ganzen Systems, von dem sie ja im wahrsten Sinne des Wortes profitiert. Obwohl Bourgeoisie und Arbeiterklasse einander ausschließen, sind sie doch beide notwendige Bestandteile des Systems, in dessen Rahmen sie überhaupt nur existieren können – des Kapitalismus. Bourgeoisie und Arbeiterklasse gehören zugleich untrennbar zusammen und liegen dennoch weit auseinander in ihren Lebensbedingungen, ihrer Sicht auf die Welt, ihren objektiven Interessen. Obwohl sie also einerseits eine Einheit bilden, ist der ständige Kampf zwischen diesen beiden Klassen unvermeidlich. Gewinnt die Arbeiterklasse diesen Kampf, entsteht aus diesem Gegensatz etwas völlig Neues, nämlich eine Gesellschaft ohne Ausbeutung unter der Herrschaft der Arbeiterklasse. Damit endet zugleich der Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse, da die Bourgeoisie enteignet und damit abgeschafft wird. Die Arbeiterschaft gibt es dann zwar immer noch, aber nicht mehr als ausgebeutete, lohnabhängige Klasse.
Das Beispiel zeigt also, dass entgegengesetzte Tendenzen und Kräfte ein spannungsgeladenes Verhältnis bilden, das zur Auflösung dieser Spannung, dieses Widerspruchs, drängt. Es zeigt auch, dass sie gemeinsam zu einem neuen, höher entwickelten Zustand führen können. Daher kann sich die Welt aus sich heraus, also durch Wechselwirkung ihrer einzelnen Elemente, verändern, ohne dass man einen göttlichen Eingriff oder Ähnliches annehmen müsste.
Widersprüche in diesem umfassenden dialektischen Sinne, als entgegengesetzte Wirkungen, die dennoch Teil desselben Ganzen sind und Veränderungen zur Folge haben, finden sich in allen Bereichen der Realität: Positive und negative elektrische Ladung, Aktion und Reaktion in der Mechanik, Entstehung und Absterben der Zelle, militärische Konflikte zwischen Staaten und natürlich der Klassenkampf sind nur ein paar wenige Beispiele.
Die Dialektik denkt Entwicklung als einen Aufstieg vom Niederen zum Höheren, wobei qualitative Sprünge von einer Stufe auf die nächste inbegriffen sind. Diese Sprünge finden jedoch nicht über absolute Grenzen hinweg statt, sodass eine Sache urplötzlich in eine andere umschlägt. In Wirklichkeit ist es so, dass solche Sprünge sich vorher immer „ankündigen“, also durch längerfristige Entwicklungen vorbereitet werden. Außerdem vernichten sie das Alte nie restlos, sondern neben der Veränderung gibt es immer auch einen Teil des alten Zustands, der auch im neuen Zustand erhalten bleibt. So gab es auch schon vor den Menschen im Tierreich intelligente Wesen, die Werkzeuge benutzten und sich in begrenztem Maße etwa ihrer eigenen Existenz bewusst waren – was für die große Mehrzahl aller Tierarten undenkbar wäre. Auch bei den heutigen Menschenaffen erkennen wir Ansätze eines solchen Bewusstseins. Dennoch besitzt der Mensch offensichtlich besondere Fähigkeiten und Eigenschaften, die ihn von allen anderen Tieren unterscheiden; davon wird an späterer Stelle noch zu reden sein. Die Entwicklung des Gehirns und seiner Fähigkeit, Bewusstsein hervorzubringen, war also ein langwieriger Prozess, bei dem die Prozesse der Wahrnehmung und geistigen Verarbeitung immer komplexer wurden, bis sie qualitativ neue Ergebnisse hervorbrachten: Der frühe Mensch war ab einem bestimmten Punkt der Entwicklung in der Lage, über Sprache zu kommunizieren, ein Bewusstsein der eigenen Existenz zu entwickeln, seine Umwelt entsprechend seinen eigenen Zielen und Zwecken zu verändern und zu bearbeiten, beispielsweise durch das Feuer oder die Herstellung von Waffen und Werkzeugen.
3.2.3 Der Umschlag von quantitativen in qualitative Veränderungen
Auch gesellschaftliche Revolutionen wurden in der Geschichte immer durch langsame quantitative Prozesse, z.B. durch das Anwachsen der sozialistischen Arbeiterbewegung, vorbereitet. Dass quantitative Veränderungen in qualitative umschlagen, nennt Engels das zweite der Grundgesetze der Dialektik. Alle Dinge haben quantitative (mengenmäßige) und qualitative (ihre Eigenschaften betreffende) Merkmale. Quantität und Qualität stehen dabei selbst in einem beweglichen Verhältnis zueinander: Veränderungen von Größenverhältnissen mögen erst mal keine Auswirkungen auf die Eigenschaften einer Sache haben. Ab einem gewissen Punkt haben sie es aber dann doch: Erhitze ich z.B. einen Topf mit Wasser, erhöht sich zunächst langsam die Temperatur des Wassers. Erreicht die Temperatur 100 °C, beginnt das Wasser dann aber zu kochen und zu verdampfen. Anders als bei quantitativen Veränderungen, die allmählich erfolgen, wie die bloße Temperaturerhöhung des flüssigen Wassers, ist der Übergang zu einer neuen Qualität immer ein Sprung. Auch beim Wasser erfolgt der Übergang zur neuen Qualität, der gasförmigen Phase, sprunghaft und unstetig. Beispielsweise wird die Dichte bei diesem Übergang nicht stetig kleiner, bis das Wasser zu Gas geworden ist, sondern sie verringert sich schlagartig am Siedepunkt um circa das 1000-fache. Die alte Qualität wird durch den Sprung, die revolutionäre Veränderung, zerstört und durch etwas Neues ersetzt, das sich seinem Wesen nach von der alten Qualität unterscheidet. Es entsteht eine neue dialektische Einheit mit der veränderten Quantität, innerhalb der die zukünftige Entwicklung abläuft. Beispielsweise ist der Sozialismus nicht einfach nur eine „Vergrößerung“ des Kapitalismus, indem er z.B. das Wachstum der Produktion stärker begünstigt. Er ist eine grundlegend andere Art und Weise zu produzieren und zu leben als der Kapitalismus, obwohl er aus dem Kapitalismus entstanden ist.
Dieses Gesetz ist deshalb so grundlegend, weil qualitative Sprünge aus der Entwicklung einer Sache (z.B. Natur oder Gesellschaft) selbst erklärt werden können und nicht mehr nur durch eine von außen einwirkende Kraft, etwa einen Gott. Eine Sache kann also aufgrund der Entwicklungsgesetze, die ihr selbst innewohnen, zu einer anderen Sache werden. In Wirklichkeit spielt die Einwirkung äußerer Faktoren dabei natürlich immer eine Rolle, da kein Ding isoliert vom Rest der Welt existiert und die Welt insgesamt eine Einheit darstellt. Aber diese äußere Einwirkung ist oft nicht das Entscheidende der Veränderung, sondern stößt z.B. eine in dem Ding selbst angelegte Veränderung nur noch an: Aus einem Samen wird natürlich nur dann eine Pflanze, wenn sie Wasser bekommt, es genug Sonnenlicht gibt usw. Aber dass aus dem Samen eine Pflanze werden kann, liegt nicht allein am Sonnenlicht und dem Wasser, sondern daran, dass diese Entwicklungsmöglichkeit im Samen bereits angelegt ist. Wer stattdessen einen Stein in den Boden drückt und ihn bewässert, wird lange darauf warten müssen, dass daraus eine Pflanze wird.
Revolutionen passieren also nicht zufällig irgendwann in der Geschichte, sondern immer erst dann, wenn eine Gesellschaft „überreif“ geworden ist, wenn ihre inneren Widersprüche Überhand nehmen und sie aus sich selbst heraus darauf hindrängt, überwunden zu werden. Marx dazu: „Wenn wir nicht in der Gesellschaft, wie sie ist, die materiellen Produktionsbedingungen und ihnen entsprechenden Verkehrsverhältnisse für eine klassenlose Gesellschaft verhüllt vorfänden, wären alle Sprengversuche Donquichoterie (d.h. sie wären vergeblich, Anmerkung der KO)” (Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW 42, S. 93).
3.2.4 Negation der Negation
Wird eine qualitative Stufe durch eine andere abgelöst, nennt man das seit Hegel Negation oder auch Aufhebung. Aufhebung ist immer im dreifachen Sinne zu verstehen, wobei Hegel mit der dreifachen Bedeutung des Wortes im Deutschen spielt: Aufheben kann sowohl Aufbewahren, wie auch Auslöschen, wie auch auf eine höhere Stufe heben, bedeuten. In der Dialektik ist ein Aufhebungsprozess alles auf einmal: Er bewahrt Elemente des aufgehobenen Zustands, er zerstört und ersetzt andere Elemente und hebt das ganze System auf eine höhere, komplexere Stufe.
Ein Beispiel: Als der Feudalismus zugrunde ging und dem Kapitalismus in der Geschichte Platz machte, übernahm der Kapitalismus wichtige Errungenschaften der Entwicklung des Feudalismus: Die Entstehung der Städte und des Handels- und Kreditkapitals, die Steigerung der Arbeitsproduktivität in der Landwirtschaft, die bis dahin machtvollste Waffentechnik usw. Gleichzeitig wurden wesentliche Eigenschaften des Feudalismus abgeschafft: Die Privilegien der Stände, die Zünfte, die Leibeigenschaft und viele andere juristische Ungleichheiten, schließlich in vielen Ländern auch die Monarchie. Durch die Verbindung einer vergleichsweise hochentwickelten Wirtschaft mit der bürgerlichen Freizügigkeit, Gleichheit vor dem Gesetz usw. wurde der Kapitalismus zu einem völlig neuen System. Diese Negation ist jedoch nicht endgültig. Auch der Kapitalismus trägt in sich die Tendenz zu seiner eigenen Zerstörung, er wird irgendwann nicht mehr sein. Das Ende des Kapitalismus ist eine erneute Negation – eine Negation der Negation, die zu einer wiederum neuen Stufe führt, die Elemente des Kapitalismus in sich tragen wird (und damit auch der ihm vorangegangenen Gesellschaftsordnungen), aber auch neue Elemente. Das Gesetz der Negation der Negation, das die Bewegung der Dinge in Zyklen (also Kreisläufen) beschreibt, ist das dritte Gesetz der Dialektik. Mit Zyklen ist hier aber nicht gemeint, dass die Bewegung einfach zum Ausgangszustand zurückkehren würde und es also einen ewig gleichen Kreis gäbe, in dem sich alles immer nur wiederholt. Im Gegenteil ist eine zyklische Entwicklung gemeint, also dass sich das Ganze, ähnlich einer Spirale, durch die Kreislaufbewegung verändert. Der Stoffwechsel eines Tieres z.B. hat bestimmte, immer wiederkehrende Abläufe, trotzdem bleibt das Tier nicht gleich, sondern durch den Stoffwechsel wächst es, wird älter und stirbt irgendwann. Der Kreislauf kommt dann zum Erliegen und geht in einen umfassenderen Kreislauf der Natur über – der Körper löst sich auf, seine Elemente werden von anderen Lebewesen aufgenommen usw. Aus dem Tod des Tieres entsteht somit neues Leben. Der Ausgangszustand (die Geburt des Tieres) wird scheinbar wiederhergestellt – nur scheinbar deshalb, weil es nicht dasselbe Tier ist. An seinem Tod ändert sich dadurch nichts. Die Entwicklung der verschiedenen Tiere und Pflanzen ist dabei aber auch keine ewige Wiederkehr, wie wir wissen, sondern dieser Kreislauf verändert sich über lange Zeiträume. So sind über Hunderte Millionen Jahre aus einfachen Einzellern komplexere Tiere entstanden, aus denen irgendwann die Säugetiere und Vögel hervorgingen, die zum Teil schon wesentlich anspruchsvollere Gehirnleistungen vollbringen können und schließlich auch der Mensch. Zahllose Arten von Lebewesen sind in diesem gesetzmäßigen Prozess verschwunden, während immer wieder neue durch die natürliche Selektion entstanden sind. Kreislauf und Veränderung schließen sich in Form spiralförmiger Entwicklungen also nicht aus. Weiter unten werden wir uns damit beschäftigen, dass auch die Produktion im Kapitalismus sich nicht geradlinig entwickelt, also als ständige Zunahme, sondern ebenfalls in Form von Zyklen.
Dieser Prozess der Negation geschieht dauernd in der Entwicklung der Welt. Negation bedeutet zwar immer zu einem gewissen Teil Zerstörung, da etwas Altes „verneint“, eliminiert wird. Sie bedeutet gleichzeitig aber auch die Schaffung von etwas Neuem. Ohne Negationen wäre die Entwicklung von etwas Niederem zum Höheren nicht möglich. Natürlich geht es dabei aber um die Art der Negation: Ein Samenkorn wird auch „negiert“, indem ich es zertrete. Dann entsteht keine neue Pflanze daraus, es findet keine Entwicklung der Pflanze statt. Auf andere Art wird es aber negiert, wenn ich es einpflanze und keimen lasse. Dann negiert sich das Samenkorn durch den ihm selbst innewohnenden Widerspruch zu einer neuen, höheren Form: der Pflanze.
3.2.5 Dialektik als Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang
Die Dialektik erfasst als wissenschaftliche Methode also nicht die wahrnehmbaren Dinge einzeln in ihrem isolierten Dasein, sondern in ihrer Beziehung zueinander und in ihrer Beziehung zum Ganzen. Dem entgegengesetzt ist die in der bürgerlichen Wissenschaft vorherrschende Methode des Positivismus: Der Positivismus untersucht alle Gegenstände nur für sich genommen und beschränkt sich darauf, ihre Eigenschaften als isolierte Objekte festzuhalten. Die Dialektik untersucht dagegen Realität immer als organisches Ganzes, dessen Teile miteinander zusammenhängen, und nicht als zufällige Haufen von Objekten und Tatsachen, als bloße Summe der Teile.
Die Dialektik, die der Marxismus-Leninismus von Hegel und anderen Philosophen geerbt hat, ist dabei nicht einfach nur eine wissenschaftliche Erkenntnismethode, also etwas, das man bei der wissenschaftlichen Analyse beachten sollte. Sie ist zugleich die Bewegungsform alles Seienden und die Denkmethode, mit der wir diese Bewegungsform erfassen können: Gerade weil sich die Realität selbst dialektisch bewegt, kann sie auch nur durch die dialektische Methode richtig erkannt werden. Die Dialektik ist im Marxismus-Leninismus, anders als bei manchen früheren Denkern, von direkter praktischer Bedeutung. Der Marxismus- Leninismus analysiert die Welt nicht aus bloßer Neugier, sondern um, geleitet von der wissenschaftlichen Erkenntnis, die Wirklichkeit zu verändern. Dass sich der Wissenschaftliche Sozialismus der Dialektik als Methode bedient und die reale materielle Welt in ihren dialektischen Entwicklungsgesetzen analysiert und verändert, unterscheidet ihn von allen anderen Weltanschauungen. Dies ist eines der Elemente, durch die Marx, Engels und Lenin den Sozialismus zur Wissenschaft gemacht haben.
Das undialektische Herangehen an die Wirklichkeit, wonach die „Dinge als in sich unbeweglich und unveränderlich, als ein für allemal Gegebenes ohne innere Widersprüche“ (Einführung in den historischen und dialektischen Materialismus. S. 35). aufgefasst werden, bezeichnet der Marxismus-Leninismus als Metaphysik. „Für den Metaphysiker sind die Dinge und ihre Gedankenabbilder, die Begriffe, vereinzelte, eins nach dem andern und ohne das andre zu betrachtende, feste, starre, ein für allemal gegebne Gegenstände der Untersuchung“, sagt Engels (Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, MEW 19, 203f). Historisch gesehen war das metaphysische Herangehen an die Natur jedoch berechtigt und unvermeidlich und brachte die wissenschaftliche Erkenntnis entscheidend voran. Viele Bereiche der Naturwissenschaft mussten zunächst einmal die Natur in ihre einzelnen Teile zerlegen und Tatsachen sammeln. Diese wurden zwangsläufig als ewig und unveränderlich aufgefasst, da man die Entwicklungsgesetze der Natur ja noch nicht kannte und erst noch erforschen musste. Im Vergleich zu den Methoden vieler mittelalterlicher Gelehrter, die die naturwissenschaftliche Forschung ablehnten und Aussagen über die Natur nur aus theologischen Glaubenssätzen ableiteten, war dies ein großer Fortschritt. Erst als die Wissenschaften genügend Erkenntnisse über die Naturprozesse und ihre Gesetzmäßigkeiten gesammelt hatten, war es möglich, die Natur in ihrer Gesamtheit und ständigen Veränderung zu denken. Aber während das metaphysische Denken in ewigen, unveränderlichen und isolierten Begriffen historisch gesehen seine Berechtigung hatte, ist es heute hoffnungslos veraltet und ein Hindernis für die Wissenschaft.
Solches Denken finden wir in allen Gesellschaftswissenschaften, wo von der „Marktwirtschaft“, also dem Kapitalismus, als „natürlicher“ bester Ordnung mit Ewigkeitsanspruch ausgegangen wird. All die brutalen Folgen des Kapitalismus wie Hunger, Arbeitslosigkeit, Kriege, Rassismus, Unterdrückung der Frauen usw. werden nicht in ihren wirklichen Ursachen untersucht, sondern im Gegenteil verschleiert, indem sie isoliert betrachtet und ihre Beziehung zur kapitalistischen Produktionsweise unterschlagen wird. Wissenschaftlich ist das nicht haltbar. Dass die Ideologen der bürgerlichen Gesellschaft zu großen Teilen trotzdem weiterhin daran festhalten, lässt sich nur durch ihr Klasseninteresse erklären: Ob bewusst oder unbewusst, sie dienen einer Klasse, deren Herrschaft historisch überholt ist und den wissenschaftlichen, ebenso wie den gesellschaftlichen Fortschritt aufhält. Die Arbeiterbewegung und ihre Weltanschauung, der Marxismus-Leninismus, müssen dem Kapitalismus auch auf dieser philosophischen Ebene den Kampf ansagen.
Dieses Beispiel zeigt außerdem, dass auch das dialektische Denken selbst nach den Gesetzen der Dialektik entstanden ist, als Aufhebung früherer Formen des wissenschaftlichen Denkens und Umschlag von einer wachsenden Menge neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zu einer qualitativ neuen Methode des Denkens.
Zusammenfassend kann man sagen, die Dialektik ist die Lehre von den Gesetzen der Bewegung und Entwicklung. Wie wir sehen werden, gilt sie für die Gesetze der Natur, aber ebenso für die der gesellschaftlichen Entwicklung und die Gesetze des Denkens.
Arbeitsfragen:
- Wie erklärt die Dialektik Bewegung?
- Was ist der Inhalt der drei Grundgesetze der Dialektik?
Diskussionsfrage:
- Findet der Umschlag von Quantität in Qualität immer als merkbarer Sprung, wie im Beispiel des Wassers, statt? Wie ist das Verhältnis von stetiger und sprunghafter Entwicklung im Übergang von verschiedenen Gesellschaftsformationen zu verstehen?
3.3 Dialektischer Materialismus
Bereits bei dem altgriechischen Philosophen Heraklit, von dem uns nur wenige Textfragmente erhalten sind, finden wir den Kern des dialektischen Denkens, nämlich den Gedanken der Bewegung in Zusammenhang mit der Einheit von Gegensätzen. Hegel erklärte ca. 2300 Jahre später die geschichtliche Entwicklung durch eine immer weiter aufsteigende Entwicklung des Geistes vom Niederen hin zum Höheren. Der Geist trägt während seines Entwicklungsprozesses das Erbe der Vergangenheit weiter, revidiert es ständig in Teilen und erklimmt so im Verlauf der Zeit von einer Stufe die nächste. Was für den Geist auf der Ebene des einzelnen Menschen gilt, gilt bei Hegel auch für die des Weltgeistes, den man als eine Art kollektiven Entwicklungsstand des Erkenntnisprozesses in einer Epoche verstehen kann. Die Stufe, auf welcher der Geist zu einem bestimmten Zeitpunkt steht, wirkt nach Ansicht Hegels auch auf den Entwicklungsstand der anderen Sphären der Gesellschaft (Ökonomie, Gesetze, Politik, Kunst usw.) ein, sodass sie sich ebenfalls zum Höheren hin weiterentwickeln.
Hegel leugnet zwar nicht die objektive Existenz der Materie, weil Hegel jedoch die Entwicklung des Geistes für die bestimmende Seite hält, die der Materie dagegen für das Nachrangige, ist seine Dialektik eine idealistische Dialektik. Marx und Engels, die umgekehrt die Materie für die Grundlage halten, das Bewusstsein der Menschen dagegen nur für dessen Folge, „erfanden“ zwar nicht den Materialismus, wurden aber seine konsequentesten Verfechter.
Im Nachwort zur zweiten Auflage des ersten Bandes des „Kapital“ grenzt sich Marx von der dialektischen Methode Hegels ab:
„Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozess, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.“ (Marx: Das Kapital, Band I, MEW 23, S. 27)
Für Marx ist der Mensch also nicht nur selbst materiell, sondern auch fest verbunden mit seiner materiellen Umwelt, von der er sich nicht lösen kann. Das Bewusstsein ist nicht nur selbst Produkt der Materie (des Nervensystems), sondern die Inhalte des Bewusstseins, die Ideen und Auffassungen, sind ebenfalls Ausdruck der materiellen Welt.
Die materialistische Dialektik ist anders als die idealistischen Formen des dialektischen Denkens eine Wissenschaft von der realen Bewegung der Dinge selbst. Die materialistische Dialektik erfindet also die dialektischen Bewegungsgesetze nicht zuerst im Kopf, um sie dann in der Realität zu suchen. Sie untersucht umgekehrt die materielle Realität so genau wie möglich, um die Gesetze ausfindig zu machen, nach denen sie sich bewegt. Diese werden dann zwar im Kopf des Menschen theoretisch ausformuliert, die Theorien sind dann aber nur das Abbild der tatsächlichen Bewegung. Das hat auch Konsequenzen für die wissenschaftliche Arbeitsweise: Finden wir heraus, dass unsere Vorstellungen von der Realität sich mit der Realität nicht decken, so müssen wir unsere Vorstellungen eben ändern. So findet wissenschaftlicher Fortschritt in der Regel statt.
Wir haben uns nun mit dem Materialismus und mit der Dialektik beschäftigt. Die materialistische Dialektik oder der Dialektische Materialismus ist die Vereinigung von beidem. Es handelt sich also um eine Dialektik, die die grundlegenden Entwicklungsgesetze der Welt in der Materie beschreibt und sich nicht etwa nur auf dem Gebiet des Geistes abspielt. Und es handelt sich um einen Materialismus, der die Materie nicht als totes und starres Anschauungsmaterial betrachtet, sondern in ihrer ständigen Bewegung, Veränderung und Widersprüchlichkeit.
Bei den alten griechischen Philosophen bedeutete das Wort Dialektik ursprünglich, dass man durch den Dialog entgegengesetzter Positionen zur Lösung von Widersprüchen kommt und so neue Erkenntnisse gewinnt. So machte es der Philosoph Platon: Seine Theorien stellte er immer als Gespräch zwischen Personen unterschiedlicher Meinung dar, die ihre Argumente austauschten und so schließlich auf einen gemeinsamen Nenner kamen. Allerdings stellte man mit der Zeit fest, dass nicht nur das Denken sich durch Widersprüche weiterentwickelt, sondern die gesamte Wirklichkeit. Die Dialektik ist daher nicht nur die Wissenschaft von der Entwicklung des Denkens, sondern auch die von der Entwicklung der objektiven, materiellen Realität. Letzteres, also die dialektische Entwicklung der Materie, ist dabei das Grundlegende, während die Entwicklung des Denkens nur der Ausdruck der materiellen Entwicklung ist. Darauf werden wir im Kapitel 3.5 genauer eingehen. Engels bezeichnete die Dialektik zusammenfassend als die „Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschengesellschaft und des Denkens“ (Engels: Anti-Dühring, MEW 20, S. 133).
3.3.1 Bewegung als Eigenschaft der Materie
Nach dem Dialektischen Materialismus weist die Materie bestimmte Eigenschaften auf. Die erste dieser Eigenschaften wurde schon genannt: Die Materie bewegt und verändert sich ständig. Das kann eine einfache Ortsveränderung sein, wie z.B. bei einem fahrenden Zug. Das ist der Fall, den die klassische Mechanik betrachtet. Es gibt aber, wie bereits erwähnt, auch andere Formen der Bewegung, die alle auf der Welt existierenden Dinge betreffen. Wenn der Zug beispielsweise ausgemustert und auf das sprichwörtliche Abstellgleis gestellt wird, bewegt er sich zwar für unser Auge nicht mehr, er fährt ja nicht mehr durch die Gegend. Trotzdem werden „Wind und Wetter“ ihn langsam verändern. Er wird verrosten, die Farbe wird abblättern und nach einigen Jahren wird er nicht mehr benutzbar sein, wenn er nicht ständig instandgehalten wird. Denn das Material, aus dem er besteht, bewegt sich in Wirklichkeit weiter: Die Atome und Moleküle bewegen sich ständig, auch die von Metallen. Sie unterliegen chemischen Reaktionen, durch die sich das Material unweigerlich mit der Zeit verändert, selbst wenn diese Prozesse viel zu langsam sind oder auf einer zu kleinen Größenskala ablaufen, als dass wir sie mit bloßem Auge beobachten könnten. Es gibt also nichts, was sich nicht bewegt. Zwar kann ein Objekt sich natürlich vorübergehend in einem gewissen Ruhezustand befinden, wie unser Zug, aber diese Ruhe ist nie absolut, denn völlige Abwesenheit von Bewegung gibt es nicht. Das, was uns als Ruhe erscheint, ist also nur ein zeitweiliges Gleichgewicht, das ab einem gewissen Zeitpunkt wieder aufgehoben werden wird. Wirklich dauerhaft ist also nicht die Ruhe, sondern die Bewegung.
Um all das zu verstehen, brauchen wir keine „göttliche“ Kraft, die außerhalb unserer Welt steht. Die materiellen Prozesse sind selbst Ursache aller Veränderungen. Die Selbstbewegung ist die ewige Daseinsweise der Materie, die einzige Form, in der die Materie existiert. Die Entdeckung der Selbstbewegung durch die Entwicklung der Dialektik als Wissenschaft der Bewegung war eine entscheidende wissenschaftliche Leistung, die aus der theoretischen Verallgemeinerung der Ergebnisse der Naturwissenschaften entstand. Mit dieser Entdeckung war die Möglichkeit gegeben, die Bewegung aller Dinge zu verstehen, ohne auf einen Gott zurückgreifen zu müssen.
3.3.2 Der Zusammenhang der materiellen Welt
Die zweite zentrale Eigenschaft der Materie ist ihre Einheitlichkeit. Wie schon erwähnt, bildet die Welt nach der dialektischen Auffassung eine Einheit, es gibt also nichts, was von allem anderen isoliert existiert. Doch was ist die Grundlage dieser Einheit? Frühere dialektische Denker gingen z.B. davon aus, es gäbe eine „Ursubstanz“ aus der alles bestehen würde. Oder sie glaubten, dass die Einheit, also der umfassende, allseitige Zusammenhang aller Dinge darin bestehen würde, dass Gott die ganze Welt als Einheit geschaffen habe und in ihr allgegenwärtig sei. Diese philosophischen Anschauungen bezeichnet man als idealistischen Monismus (von altgriechisch “mónos” – einzig).
Doch die Wissenschaft konnte weder jemals eine Ursubstanz, noch einen Gott entdecken. Tatsächlich existiert die Einheit der Welt durch den materiellen Zusammenhang der Dinge – in der Tatsache, dass alles Existierende miteinander in einer Wechselwirkung steht, die wiederum bestimmte Gesetzmäßigkeiten befolgt. Dieses philosophische Prinzip der materiellen Einheit, welches auch die Grundlage des dialektischen Materialismus ist, nennt man deswegen materialistischen Monismus. Sowohl der idealistische, als auch der materialistische Monismus stehen dabei im Gegensatz zur philosophischen Lehre des Dualismus, welche von zwei unabhängigen und gleichberechtigten Substanzen ausgeht, wie z.B. getrennt voneinander existierendem Körper und Geist. Wie diese beiden Substanzen miteinander in Wechselwirkung stehen, vermag der Dualismus nicht zu erklären und benötigt zur Lösung dieses Problems meistens die Religion und einen Gott.
Die Einheit der Welt ist dabei nichts, was die Naturwissenschaft eines Tages durch ein Experiment oder eine bestimmte Beobachtung entdecken konnte. Sie ist vielmehr das Ergebnis einer theoretischen Verallgemeinerung zahlloser einzelner Erkenntnisse. Auch räumlich voneinander getrennte Objekte in der Natur wirken aufeinander, z.B. indem sie sich gegenseitig anziehen, indem sie durch Strahlung (Licht, Radioaktivität usw.) wirken, indem sie vielleicht Luftmoleküle verdrängen usw. Genauso ist es auf dem Gebiet der Gesellschaft: Wichtige gesellschaftliche Ereignisse, beispielsweise wirtschaftliche Aufschwünge oder Krisen, Kriege oder Revolutionen, können an einem weit entfernten Ort geschehen, doch sie betreffen uns trotzdem. Sie haben auch bei uns Auswirkungen auf die Entwicklung der Ökonomie, des Klassenkampfes, der Politik im Allgemeinen. Der Kapitalismus hat, wie wir an späterer Stelle sehen werden, die Beziehungen zwischen allen Teilen der Welt viel enger geknüpft als es je zuvor der Fall gewesen ist. Die Einheit der Welt macht sich also in historisch nie dagewesenem Ausmaße bemerkbar.
Der Dialektische Materialismus bleibt nicht dabei stehen, den allgemeinen wechselseitigen Zusammenhang der Dinge einfach festzustellen. Er untersucht auch die genaue Art der jeweiligen Zusammenhänge, ist also eine Wissenschaft von den allgemeinen, in der Realität auftretenden Zusammenhängen und Wechselbeziehungen, wie z.B. der Kausalität, dem Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem, den Naturgesetzen und gesellschaftlichen Gesetzen. Zusammenhänge sind dabei nicht wie im metaphysischen Denken als bloße Zusammensetzung von getrennten Teilen zu verstehen, so wie man Legosteine zusammensetzt. Die einzelnen Teile sind dabei nämlich nicht beliebig austauschbar, sondern durch ihre Rolle, ihre Funktion als Teil des Ganzen bestimmt. Die Blüte einer Blume ist z.B. nicht für sich zu betrachten, sondern sie existiert als Teil der ganzen Pflanze. Sie erfüllt für die Pflanze eine Funktion, die mit ihrer Fortpflanzung zusammenhängt und ist für ihre Existenz auf die Pflanze angewiesen. Den letzten Aspekt sieht man schon daran, dass eine Blume in der Vase schneller verwelkt, weil ihr dann wichtige Nährstoffe fehlen, die ihr nur durch den restlichen Körper der Pflanze geliefert werden können. Nach dem Dialektischen Materialismus ist das Ganze also nie einfach die Summe der Teile, sondern das Ganze durchdringt seine einzelnen Teile, es bestimmt den Zusammenhang zwischen ihnen und die Gesetze, nach denen sie sich verändern, entstehen und vergehen.
Das gilt auch für den Zusammenhang von Materie und Bewusstsein. Das Bewusstsein ist von der Materie nicht zu trennen. Es gibt keinen irgendwie frei schwebenden Geist, der nicht an einen Körper gebunden wäre. Daher widerspricht der Dialektische Materialismus den Auffassungen der verschiedenen Religionen, die davon ausgehen, dass die Seele vor oder nach dem Tod außerhalb des Körpers existieren kann. Er widerspricht auch z.B. der Auffassung des französischen Philosophen René Descartes (1596-1650), der glaubte, die Welt würde aus zwei voneinander unabhängigen Substanzen bestehen, nämlich der „denkenden Substanz“ (also dem Geist) und der „ausgedehnten Substanz“ (Materie). Die Auffassung des Dialektischen Materialismus ist im Gegensatz zu diesen Vorstellungen aber im Einklang mit den Erkenntnissen der Wissenschaft, z.B. über das Nervensystem, die Entstehung des Bewusstseins usw.
3.3.3 Gesetzmäßigkeiten und Kausalität
Drittens funktioniert diese einheitliche materielle Welt nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten. Diese Feststellung erscheint erst mal relativ banal. Gäbe es keine Gesetzmäßigkeiten, würde auf der Welt absolutes Chaos herrschen. Es gäbe dann auch keine festen Körper, weil diese ja erst durch die in den Atomen wirkenden Kräfte und die Verbindungen zwischen den Molekülen gesetzmäßig zusammengehalten werden. Und natürlich gäbe es dann auch keine Menschen. Aber so banal diese Feststellung klingt, für viele Leute ist sie keineswegs selbstverständlich. Viele bürgerliche Ideologen vertreten die These, dass vielleicht die Natur bestimmten Gesetzen gehorcht, während aber ein anderer Bereich der materiellen Welt, nämlich die Gesellschaft und ihre geschichtliche Entwicklung, keine solche Gesetzmäßigkeit aufweise. Mit dieser Auffassung werden wir uns im Kapitel 3.5 zum Historischen Materialismus auseinandersetzen. An dieser Stelle genügt die Feststellung, dass grundsätzlich überhaupt nichts für diese Annahme spricht, dass ein bestimmter Bereich der Realität von der gesetzmäßigen Entwicklung, der die Welt als Ganze unterliegt, ausgenommen sein könnte.
Gesetzmäßigkeiten beruhen auf dem Prinzip der Kausalität. Kausalität bedeutet, dass bestimmte Ursachen unter bestimmten Bedingungen zu bestimmten Wirkungen oder Folgen führen. Kausale Zusammenhänge existieren in der objektiven Realität und es kann keine Wirkung ohne Ursache geben.. Wenn ich den Wasserhahn aufdrehe, ist die Bewegung meiner Hand die Ursache davon, dass die Wasserleitung geöffnet wird und das Wasser herausströmt. Die Ursache-Wirkung- Beziehung kann aber auch komplexer sein. So gibt es notwendige und hinreichende Bedingungen für bestimmte Ereignisse. In unserem Beispiel ist es eine notwendige Bedingung, dass ich mit der Hand den Wasserhahn betätige, aber möglicherweise keine hinreichende Bedingung – es kann z.B. sein, dass das Wasser unten im Keller abgestellt ist und daher trotzdem kein Wasser aus dem Hahn kommt. Dann wäre die hinreichende Bedingung erst erfüllt, wenn ich im Keller das Wasser auch aufgedreht habe und die Leitung unter Druck steht. Jetzt haben wir uns aber nur einen vereinzelten Vorgang angesehen. In Wirklichkeit passiert aber natürlich nichts isoliert vom Rest der Welt, sondern jeder Prozess ist ein kleiner Teil des Gesamtprozesses. Was die Ursache einer Sache ist, kann die Folge einer anderen Sache sein und umgekehrt. Das Laufen des Wassers war in unserem Beispiel die Folge des Aufdrehens des Wasserhahns. Es wird aber wiederum auch die Ursache weiterer Ereignisse, z.B. dass der Wasserzähler einen erhöhten Verbrauch anzeigt und die Wasserrechnung steigt. Das wiederum führt dazu, dass ich nach dem Bezahlen der Rechnung weniger Geld auf dem Konto habe. Und so weiter.
Wenn wir die Gesetzmäßigkeiten bestimmter Vorgänge kennen, können wir diese Vorgänge voraussagen. Wir wissen dann, warum ein bestimmtes Ereignis so und nicht anders abläuft. Wir sprechen in diesem Fall von Notwendigkeit. Notwendig ist ein Zusammenhang, der nur so und nicht anders sein kann. Zufällig ist hingegen etwas, das auch anders sein könnte. Nach dem Dialektischen Materialismus existieren sowohl notwendige als auch zufällige Zusammenhänge objektiv. Die Notwendigkeit ist ein innerer gesetzmäßiger Zusammenhang zwischen verschiedenen Vorgängen. Zufällig sind die äußeren Bedingungen, in denen sich das Notwendige verwirklicht. Auch ein zufälliger Zusammenhang hat natürlich kausale Ursachen, er entsteht nicht einfach aus dem Nichts. Er lässt sich aber nicht einfach aus den grundlegenden Gesetzmäßigkeiten genau so ableiten. So werden wir z.B. sehen, dass der Kapitalismus notwendig immer wieder zu Wirtschaftskrisen führt. Er kann gar nicht anders. Aber wie genau diese Krisen vonstattengehen, hängt auch von vielen Zufällen ab (zum Zusammenhang von Zufall und Notwendigkeit siehe Kasten).
Zur Gesetzmäßigkeit eines Vorgangs gehört auch, dass er, wenn die entsprechenden Bedingungen vorhanden sind, unter Garantie immer wieder auftritt, zu jeder Zeit, an jedem Ort. Darauf beruht die Wissenschaft, aber auch unser Alltag. Wenn ein Gebäude gebaut wird, geht der Architekt davon aus, dass die Gesetze der Statik, die wir aus vergangenen Beobachtungen kennen, auch für die Zukunft gelten werden. Die Naturgesetze zu erkennen, hat sich der Mensch zur Aufgabe gemacht, seit er überhaupt begonnen hat, systematisch zu denken. Der Dialektische Materialismus fasst die Erkenntnisse dieses Prozesses zusammen und bringt sie in einen einheitlichen Zusammenhang.
Halten wir also fest: Unter einem Gesetz versteht der Dialektische Materialismus einen notwendigen, allgemeinen, wesentlichen Zusammenhang zwischen Dingen und Prozessen, der sich bei Vorhandensein der entsprechenden Bedingungen wiederholen lässt.
Zufälligkeit und Notwendigkeit
Engels hat sich mit dem Verhältnis von Zufälligkeit und Notwendigkeit ausführlich beschäftigt. Er grenzt sich von zwei Auffassungen ab: Zum einen der Auffassung, die Zufall und Notwendigkeit als absoluten Gegensatz versteht und demnach nur das, was auf allgemeine Gesetze zurückführbar ist, als notwendig gelten lässt und alles, was wir noch nicht verstehen als zufällig. Engels kritisiert daran, dass damit die Wissenschaft sich selbst aufhebt, da sie ja gerade das erforschen müsste, was wir noch nicht verstehen, weil die Gesetzmäßigkeiten noch nicht erkannt sind. Auf der anderen Seite lehnt er auch die streng deterministische Auffassung ab, die Zufälligkeit überhaupt leugnet, indem sie jedes noch so kleine Detail des Universums für vom Anbeginn der Zeit an vorbestimmt hält. Engels beruft sich dagegen auf Hegel, der eine strikte Trennung zwischen Zufall und Notwendigkeit ablehnte, sondern den engen Zusammenhang zwischen beidem betonte (Engels: Dialektik der Natur, MEW 20, S. 486-491). An anderer Stelle schreibt Engels dazu: „Aber Zufall, das ist nur der eine Pol eines Zusammenhangs, dessen andrer Pol Notwendigkeit heißt. In der Natur, wo auch der Zufall zu herrschen scheint, haben wir längst auf jedem einzelnen Gebiet die innere Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit nachgewiesen, die in diesem Zufall sich durchsetzt.“ (Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, MEW 21, S. 169)
3.3.4 Die Widersprüchlichkeit der materiellen Welt
Viertens ist die Materie in sich widersprüchlich. Diesen Gesichtspunkt haben wir bereits im vorherigen Kapitel besprochen. Allem was existiert, wohnen einander entgegenwirkende Kräfte inne. Der Kampf dieser Gegensätze miteinander führt an einem bestimmten Punkt dazu, dass alles Existierende auch wieder aufhört zu existieren. Ewig und unzerstörbar ist nur die Materie selbst, sowie bestimmte grundlegende Gesetzmäßigkeiten, nach denen sie sich bewegt. Die Formen der Materie und ihrer Bewegung ändern sich jedoch ständig.
3.3.5 Bewegungsformen der Materie
Wir können dabei drei grundlegende Bewegungsformen der Materie unterscheiden, die gleichzeitig unterschiedliche Entwicklungsstufen der Materie darstellen. Die erste Bewegungsform ist die anorganische Bewegung. Darunter fällt alle Bewegung toter Gegenstände in der Natur, also alles, was von der Physik, Chemie, Astronomie usw. untersucht wird. Die zweite Bewegungsform, die sich aus der ersten heraus entwickelt hat, ist das Leben, also Entstehung, Lebensprozess und Tod der Organismen. Diese wird von der Biologie und verwandten Wissenschaftszweigen (z.B. Medizin) untersucht. Die dritte und höchste Bewegungsform, die wiederum nur auf Grundlage des Lebens entstehen konnte, ist die menschliche Gesellschaft in ihrer Entwicklung. Hierfür sind die Gesellschaftswissenschaften (Geschichtswissenschaft, Wirtschaftswissenschaft usw.) zuständig.
Warum brauchen wir unterschiedliche Wissenschaftszweige für unterschiedliche Forschungsgegenstände? Weil offenbar die Entwicklungsgesetze der unterschiedlichen Bereiche der Realität nicht dieselben sind. Natürlich würde niemand behaupten, dass in der menschlichen Gesellschaft die Gesetze der Physik, wie z.B. die Gravitation, das Massenerhaltungsgesetz usw. nicht gelten würden. Aber mit diesen Gesetzen ist auf dem Gebiet der Gesellschaft auch nicht viel anzufangen, wenn man die Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung verstehen will. Das zeigt also, dass die Gesetze, die innerhalb der drei verschiedenen Grundformen der Bewegung gelten, zwar einander nicht widersprechen können, aber auch nicht aufeinander reduzierbar sind. Da die Spezifik der höheren Bewegungsformen nicht vernachlässigt werden darf, sind die biologischen und gesellschaftlichen Wissenschaften ebenso wichtig wie Physik und Chemie.
Anhand der drei Bewegungsformen haben wir gesehen, dass die Materie sich nicht etwa einfach nur bewegt, sondern sich entwickelt. Entwicklung bedeutet, dass die Veränderung vom Niederen zum Höheren stattfindet. Dass also die Zusammenhänge komplexer werden und qualitativ neue Entwicklungsstufen mit jeweils eigenen Bewegungsgesetzen hervorbringen. So entstanden aus einfachen leichten Atomen immer schwerere Elemente, die wiederum komplexere Molekülverbindungen möglich machten. Aus Kohlenstoffverbindungen entstanden Nukleinsäuren, aus diesen entstanden Aminosäuren und Proteine, Zellen, mehrzellige Lebewesen, schließlich hochentwickelte Lebewesen wie die Säugetiere, deren Intelligenz sich mit der Evolution immer höher entwickelte. Auch in der Geschichte ist eine Entwicklung der Gesellschaften vom Niederen zum Höheren feststellbar, wie wir sehen werden.
Fassen wir nun zusammen: Der Dialektische Materialismus ist eine Weltanschauung, die davon ausgeht, dass die Welt einheitlich ist und sich nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten bewegt, die in der Widersprüchlichkeit der Materie begründet sind.
Der Dialektische Materialismus ist eine parteiliche Philosophie. Er stellt sich konsequent sowohl gegen den Idealismus als auch die metaphysischen Weltauffassungen. Wir werden sehen, dass er dadurch auch im Klassenkampf Partei ergreift. Denn indem er die Gesetze alles Seienden erforscht und nicht vor bestimmten „verbotenen“ Fragen halt macht, indem er auch die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung aufdeckt, dient er dem gesellschaftlichen Fortschritt und den Interessen der Arbeiterklasse. Dazu jedoch später mehr.
Arbeitsfragen:
- Wie unterscheidet sich die materialistische von der idealistischen Dialektik?
- Welche Eigenschaften weist die Materie auf?
Diskussionsfragen:
- Die Art der Bewegungen, die wir in den verschiedenen Gebieten der Materie beobachten können, sind sehr unterschiedlich. Z.B. ist der Elektromagnetismus etwas ganz anderes als die Bahnen der Planeten oder das Verwelken einer Blume. Konstruiert der Dialektische Materialismus da vielleicht künstlich eine Gemeinsamkeit, die gar nicht existiert?
- Welche Art von Widersprüchen existieren im Sozialismus? Welche könnten im Kommunismus existieren und ihn auf eine höhere Entwicklungsstufe treiben?
3.4 Erkenntnis als Widerspiegelung der objektiven Realität
In der Philosophie waren Fragen der Erkenntnis immer von großer Bedeutung. Der Teil der Philosophie, der sich mit diesen Fragen beschäftigt, heißt Erkenntnistheorie. In der Erkenntnistheorie gab es zwei grundlegende Fragen, um die die verschiedenen Philosophieschulen sich immer gestritten haben: Erstens: Gibt es eine objektive Realität, also existiert die Welt außerhalb unseres Bewusstseins? Zweitens: Wenn ja, kann diese objektive Realität sich im Bewusstsein ausdrücken? Oder anders formuliert: Sind unsere Wahrnehmungen in der Lage, ein (zumindest annähernd) wirklichkeitsgetreues Bild der objektiven Realität abzugeben? Eine materialistische Erkenntnistheorie muss beide Fragen zwangsläufig mit Ja beantworten: Es gibt eine objektive Realität und wir können sie erkennen.
Das entspricht erst mal dem, wovon wir alle in unserem Alltagsleben ausgehen, wenn auch meistens unbewusst. Wir bleiben an der roten Ampel stehen, weil wir davon ausgehen, dass die Ampel wirklich rot ist und wir möglicherweise wirklich von einem Auto gerammt werden, wenn wir die Verkehrsregeln missachten. Wir gehen also nicht davon aus, dass unsere Wahrnehmung der roten Ampel und des Verkehrs reine Illusionen unseres Verstandes sind. Trotzdem gab und gibt es bis heute verschiedene Theorien, die anzweifeln, dass es eine objektive Wahrheit gibt. Diese kann man aber relativ leicht widerlegen. Denn erstens ist die Aussage „Es gibt keine objektive Wahrheit“ schon an sich ein logischer Widerspruch. Wer diese Aussage macht, sagt damit ja, dass es objektiv wahr ist, dass es keine objektive Wahrheit gebe. Und zweitens können wir unsere Auffassungen über die Realität an der Praxis überprüfen. Wir merken ja, dass unsere Annahmen über die Ampel und den Verkehr richtig waren, wenn wir die Verkehrsregeln missachten und dann die Konsequenzen davon erfahren.
Indem der Mensch sich in seinem Handeln gemäß seinen Einsichten über die Realität verhält, erfährt er objektiv, ob seine Erkenntnisse der Wirklichkeit im Wesentlichen entsprechen oder nicht. Die Praxis gibt unserem Bewusstsein eine objektive Bestätigung und treibt so den Erkenntnisprozess voran. Das heißt aber auch nicht, dass man eine Erkenntnis nur dann als wahr ansehen kann, wenn sie in der Praxis überprüft wurde. Auch durch das abstrakte Denken, mit dem wir uns gleich beschäftigen werden, ist der Mensch in der Lage, aus gegebenen wahren Erkenntnissen neue Einsichten abzuleiten. Wenn wir beispielsweise grundsätzlich verstanden haben, wie Addition funktioniert, müssen wir nicht erst jede einzelne Rechnung irgendwie an der Praxis überprüfen (z.B. an einem Rechenschieber), sondern können auch durch rein logisches Denken zu neuen Erkenntnissen kommen.
3.4.1 Eine materialistische Erkenntnistheorie
Marx und Engels vertraten als Materialisten natürlich auch eine materialistische Erkenntnistheorie. So ging Engels davon aus, dass die Begriffe unseres Denkens, die sich mit den Formen der existierenden Dinge beschäftigen, ein Abbild der Realität seien. Diese Begriffe „kann das Denken niemals aus sich selbst, sondern eben nur aus der Außenwelt schöpfen und ableiten“ (Engels: Anti-Dühring, MEW 20, S. 34). Denn: „Nicht in einem einzigen Fall, soviel bis heute bekannt, sind wir zu dem Schluß gedrängt worden, daß unsere wissenschaftlich kontrollierten Sinneswahrnehmungen in unserm Gehirn Vorstellungen von der Außenwelt erzeugen, die ihrer Natur nach von der Wirklichkeit abweichen, oder daß zwischen der Außenwelt und unsren Sinneswahrnehmungen von ihr eine angeborne Unverträglichkeit besteht“ (Engels: Über historischen Materialismus, MEW 22, S. 296f). Lenin entwickelte diese Auffassungen zu einer umfassenderen Erkenntnistheorie weiter, der Widerspiegelungstheorie. Demnach können wir uns den Vorgang der Erkenntnis bildhaft so vorstellen wie ein Spiegelbild.
Erkenntnis können wir also definieren als richtige Widerspiegelung der Wirklichkeit im Bewusstsein des Menschen. Daraus ergeben sich direkt die Fragen: Gibt es auch eine falsche Widerspiegelung der Wirklichkeit? Und ist diese dann keine Erkenntnis? Dazu kommen wir gleich. Beschäftigen wir uns aber zuerst damit, wie Erkenntnis vonstattengeht. Denn die Metapher „Widerspiegelung“ hat auch ihre Grenzen. Wenn wir uns ein Bild von der Wirklichkeit machen, dann dürfen wir uns das nicht wie eine fotografische Momentaufnahme vorstellen. Vielmehr ist Erkenntnis immer als Prozess zu verstehen. Lenin schreibt dazu: „In der Erkenntnistheorie muß man, ebenso wie auf allen anderen Gebieten der Wissenschaft, dialektisch denken, d.h. unsere Erkenntnis nicht für etwas Fertiges und Unveränderliches halten, sondern untersuchen, auf welche Weise das Wissen aus Nichtwissen entsteht, wie unvollkommenes, nicht exaktes Wissen vollkommener und exakter wird“ (Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus, LW 14, S. 96). Wir haben also immer sowohl Wissen über bestimmte Sachverhalte im Kopf als auch Nichtwissen. Einige Dinge stellen wir uns falsch oder zu einfach vor, über andere Dinge wissen wir vielleicht noch gar nichts. Dadurch ist unser Bild unvollständig. Wie wir aber nun wissen, können wir Dinge nur dann wirklich verstehen, wenn wir sie in ihrer Gesamtheit betrachten. Letztlich ist ja alles Existierende Teil des einheitlichen Weltzusammenhangs. Daher sagt Lenin: „der menschliche Begriff von Ursache und Wirkung vereinfacht immer etwas den objektiven Zusammenhang der Naturerscheinungen, er spiegelt ihn nur annähernd wider, indem er diese oder jene Seiten des einen einheitlichen Weltprozesses künstlich isoliert“ (ebenda, S. 151).
3.4.2 Warum ist Wahrheit relativ?
Unser Wissen über die Welt kann also durchaus wahr sein, aber das ist nur eine relative Wahrheit. Die absolute Wahrheit existiert nur außerhalb unseres Bewusstseins in Form der unendlich umfassenden Wirklichkeit. Unser Wissen kann sich dieser absoluten Wahrheit annähern, indem wir immer mehr wahre Erkenntnis ansammeln und diese in einen Zusammenhang bringen. Wir können die absolute Wahrheit aber nie erreichen. Warum nicht? Erstens, weil die Wirklichkeit unendlich groß und komplex ist und es daher unmöglich ist, alle Aspekte und Einzelheiten des Universums zu erkennen. Zweitens aber auch, weil die Materie in ständiger Bewegung ist, sich also ständig verändert. Das bedeutet aber nichts anderes, als dass auch der Erkenntnisprozess nie abgeschlossen sein kann. Seit Anbeginn der Menschheit hat der Mensch sein Wissen über die Welt ständig vermehrt, also sein Nichtwissen in Wissen verwandelt.
Diese Relativität unseres Wissens und der Wahrheiten, die wir erkennen, ist sehr wichtig. Denn sie erlaubt uns auch einen anderen Blick auf die Geschichte der Menschheit. Aus heutiger Sicht mag es so erscheinen, als wären die früheren Generationen von Menschen allesamt dumm und unwissend gewesen. Mit dieser Sichtweise ist es aber unmöglich, die Erkenntnis als ständig fortschreitenden Prozess zu verstehen. Es wird also unmöglich, zu erklären, wie wir zu unserem heutigen Wissensstand überhaupt gekommen sind. Und wir vergessen damit, dass wir auch heute noch sehr vieles nicht wissen. Machen wir uns diesen Prozess an einem Beispiel klar: Die antiken Philosophen Demokrit und Leukippos gingen zum ersten Mal davon aus, dass die Materie aus winzigen unteilbaren Teilchen besteht. Diese nannten sie Atome, was auf griechisch „unteilbar“ bedeutet. Heute weiß jeder, dass Atome nicht unteilbar sind, dass ihre Annahme also falsch war. Trotzdem war sie ein großer wissenschaftlicher Fortschritt, auch wenn es damals nichts weiter als eine Vermutung war, die sich nicht wissenschaftlich beweisen ließ. Denn Jahrtausende später entdeckte man die Existenz der Atome. Von da aus entwickelten Generationen von Wissenschaftlern immer neue Atommodelle. Um nur ein paar zu nennen: Joseph John Thomsons Modell des Atoms als gleichmäßig verteilter positiver Ladung mit negativen Elektronen, die sich darin bewegen (1903); Ernest Rutherfords Modell eines positiven Atomkerns mit einer Hülle, in der sich die Elektronen bewegen (1911); Bohrs Atommodell (1913) mit einem positiven Kern und Elektronen, die sich auf Kreisbahnen bewegen; dann das Atommodell der Quantenmechanik, nach dem die Atomkerne und die Elektronen über sogenannte Wellenfunktionen beschrieben werden, aus denen z.B. die Aufenthaltswahrscheinlichkeiten und die Energien der Teilchen berechnet werden können. Wir sehen also, dass es trotz bestimmter unvollständiger und falscher Annahmen unpassend wäre, die früheren Stufen der Erkenntnis einfach als falsch zu verwerfen. Sinnvoller ist es, sie als Stufen in einem Erkenntnisprozess zu verstehen, der wie alles andere auch vom Niederen zum Höheren aufsteigt.
3.4.3 Wie aus Wahrnehmung Erkenntnis wird
Unsere Erkenntnisse über die Welt kommen aus der Wahrnehmung. Sind Wahrnehmung und Erkenntnis also dasselbe? Nein. Denn zur Erkenntnis gehört nicht nur das, was wir über unsere Sinnesorgane, also Augen, Ohren usw. aufnehmen. Wäre das so, würden wir in der unendlichen Flut an Informationen, die auf uns einströmen, geradezu ertrinken. Wir wären gar nicht in der Lage, diese Masse an Informationen abzuspeichern, geschweige denn, uns in ihr irgendwie zurechtzufinden. Der menschliche Geist (und auf geringerer Stufe auch schon viele Tiere) ist in der Lage, Zusammenhänge zwischen den einzelnen Empfindungstatsachen herzustellen und diese zu verallgemeinern. Schon die Empfindungen über die Sinnesorgane sind Verbindungen von mehreren Reizen, die die Existenz komplexer Erscheinungen anzeigen. Wir nehmen ja nicht jeden Farbreiz, jedes Lichtteilchen im Auge einzeln wahr, sondern es zeigt sich uns bereits ein zusammengesetztes Bild. Der Mensch bildet daraus dann Begriffe, die diese Zusammenhänge zusammenfassen und den Wesenskern, um den es geht, herausstellen.
Wenn wir sagen: „Das ist ein Hund“, dann sprechen wir zwar einerseits von einem ganz bestimmten Tier. Wir ordnen es aber der allgemeinen Kategorie „Hund“ zu. Wir sprechen hier von einer Abstraktion: Der einzelne Hund ist konkret, ein Individuum. Der Begriff „Hund“ dagegen bezeichnet eine ganze Gruppe von Tieren und keinen speziellen Hund. Abstrahieren kommt aus dem Lateinischen und bedeutet, dass man die besonderen Eigenschaften einer Sache abzieht und nur das Allgemeine übrig bleibt. So ist es nicht entscheidend, ob der Hund groß oder klein ist, schwarz oder braun usw. Die Zuordnung dieses speziellen Tieres zur Kategorie Hund ist aber nicht willkürlich, sie ist kein bloßes Hirngespinst. Sie ist selbst auch eine Widerspiegelung eines realen, materiellen Sachverhalts, nämlich dass alle Hunde gemeinsames Genmaterial besitzen, sich miteinander fortpflanzen können, ein ähnliches Raubtiergebiss haben, kurz: zur selben Tierart gehören. Abstraktionen sind also nicht rein ideell, in unserem Kopf geschaffen, sondern unsere abstrakten Begriffe sind ebenfalls Widerspiegelungen von materiellen Zusammenhängen. Begriffliches Denken, das Abstrahieren und Zusammenhänge (z.B. Kausalbeziehungen) herstellen kann, ist eine notwendige Voraussetzung für systematische Erkenntnis und damit auch für den Fortschritt der Technik und letzten Endes das gesellschaftliche Zusammenwirken. Lenin sagt dazu: „Das Denken, das vom Konkreten zum Abstrakten aufsteigt, entfernt sich nicht – wenn es richtig ist… – von der Wahrheit, sondern nähert sich ihr. Die Abstraktion der Materie, des Naturgesetzes, die Abstraktion des Wertes usw., mit einem Wort alle wissenschaftlichen (richtigen, ernst zu nehmenden, nicht unsinnigen) Abstraktionen spiegeln die Natur tiefer, richtiger, vollständiger wider.“ (Lenin: Konspekt zur ‚Wissenschaft der Logik‘, LW 38, S. 160). Erkenntnis ist also nicht bloßes Wahrnehmen, sondern eine dialektische Einheit von Wahrnehmung und begrifflichem Denken, wobei sich beides gegenseitig voraussetzt und beeinflusst. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse leiten den Menschen in der Praxis an. Sein Handeln beruht auf dem, was er über seine Umwelt an Erkenntnissen gewonnen hat.
3.4.4 Sind Widerspiegelungen immer richtig?
Nun zurück zur Frage, ob die Widerspiegelung in unserem Kopf immer richtig ist. Diese Frage wird jeder spontan verneinen. Jeder kennt Sinnestäuschungen, z.B. optische Täuschungen. Dass es so etwas gibt, heißt aber natürlich nicht, dass wir uns grundsätzlich gar nicht mehr auf unsere Sinne verlassen können. Denn sie haben sich durchaus so herausgebildet, dass sie im Regelfall die für das Überleben notwendigen Informationen korrekt liefern. Außerdem haben wir ja mehrere Sinnesorgane, sodass die Täuschung eines Sinnesorgans meistens durch die anderen schnell aufgedeckt wird.
Aber auch Begriffsbildungen müssen nicht zwangsläufig eine richtige Widerspiegelung der Realität sein. Beispielsweise glauben manche Menschen an Gespenster. Es gibt aber keine Gespenster, folglich ist der Begriff Gespenst keine richtige Widerspiegelung eines tatsächlich existierenden Phänomens. Vergleichbar ist der Glaube vieler bürgerlicher Ökonomen an einen „selbst regulierenden Markt“, der sich automatisch immer im Gleichgewicht befindet und aus sich heraus keine Krisen erzeugt.
Wenn Marxisten davon sprechen, dass die Erkenntnis ein Abbild oder eine Widerspiegelung der objektiven Realität darstellt, dann meinen sie damit also keineswegs, dass diese Widerspiegelung immer richtig ist. Dass unser Wissen immer unvollständig ist, wurde ja bereits festgestellt. Dass es immer auch historisch bedingt ist, werden wir im folgenden Kapitel noch feststellen. Aber natürlich kann es auch einfach falsch sein. Tatsächlich gehört es zur gesetzmäßigen Funktionsweise der kapitalistischen Gesellschaft, dass sie regelmäßig auch falsches Bewusstsein hervorbringt, dass die Menschen also die wahren Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus keineswegs erkennen. Darauf hat auch Lenin in seiner Erkenntnistheorie hingewiesen: „Das gesellschaftliche Sein und das gesellschaftliche Bewußtsein sind nicht identisch, ebensowenig, wie Sein überhaupt und Bewußtsein überhaupt identisch sind. Daraus, daß die Menschen als bewußte Wesen in gesellschaftlichen Verkehr treten, folgt keineswegs, daß das gesellschaftliche Bewußtsein mit dem gesellschaftlichen Sein identisch ist. Wenn die Menschen miteinander in Verkehr treten, sind sie sich in allen einigermaßen komplizierten Gesellschaftsformationen – und insbesondere in der kapitalistischen Gesellschaftsformation – nicht bewußt, was für gesellschaftliche Verhältnisse sich daraus bilden, nach welchen Gesetzen sie sich entwickeln usw.“ (Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus, LW 14, S. 329, Hervorhebung durch den Autor).
Was bringt also der Begriff „Widerspiegelung“? Legt das nicht eine viel zu stark vereinfachte Vorstellung nahe, wonach unser Bild von der Realität immer richtig sein muss? Zunächst einmal betont der Begriff der „Widerspiegelung“ vor allem, dass die Bilder unserer Wahrnehmung und damit auch die Erkenntnisse aus der materiellen Wirklichkeit kommen und diese annähernd abzubilden versuchen. Nun ist aber auch ein Spiegelbild nicht genau wirklichkeitsgetreu, was schon damit anfängt, dass es spiegelverkehrt ist. Bei einem Konkav- oder Konvex-Spiegel ist das Bild aber auch verzerrt. Wenn der Spiegel schmutzig ist, wird es ungenau usw. Und im übertragenen Sinne ist es bei unserer Erkenntnis auch so. Je nachdem, wie gut unsere Sinnesorgane ausgebildet sind, welche Hilfsmittel wir benutzen, wie umfassend unser Wissen über die Welt ist, wie geeignet oder ungeeignet unsere theoretischen Annahmen über die Welt sind, ist das Abbild der Realität, das wir erhalten, besser oder schlechter, näher oder weiter entfernt von der Wahrheit. Aber es ist und bleibt ein Abbild der Realität.
3.4.5 Der Begriff der Widerspiegelung im Dialektischen Materialismus
Fassen wir zusammen: Unter dem dialektisch-materialistischen Begriff der Widerspiegelung als Grundlage der Erkenntnis verstehen wir: Erstens, dass der Gegenstand der Abbildung auch ohne das Abbild existiert, aber das Abbild nicht ohne den abgebildeten Gegenstand. Zweitens, dass die Widerspiegelung durch die Einwirkung der objektiven Realität auf die Sinnesorgane entsteht und dann zum Bewusstseinsinhalt verarbeitet wird. Drittens, dass das Abbild im Kopf und der abgebildete Gegenstand nicht dasselbe sind, da der Gegenstand materiell existiert, während das Abbild nur ideell ist. Trotzdem kann uns das Abbild aber zuverlässige Informationen über die Welt geben. Viertens, dass Erkenntnis nur als Prozess der Annäherung an die absolute Wahrheit stattfinden kann, ohne diese jemals erreichen zu können. Fünftens, dass Widerspiegelung nicht zwangsläufig bedeutet, dass das Abbild in unserem Kopf auch dem Gegenstand entspricht, dass unsere Auffassungen also falsch sein können. Und sechstens, dass wir die Zuverlässigkeit der Abbilder durch die Praxis überprüfen können.
Wir haben uns jetzt mit der Widerspiegelungstheorie als Erkenntnistheorie beschäftigt. Lenin beschränkt den Begriff Widerspiegelung aber nicht auf die Frage der Erkenntnis, also die Frage, wie unsere Bewusstseinsinhalte zustande kommen. Er sagt: „es ist aber logisch, anzunehmen, daß die ganze Materie eine Eigenschaft besitzt, die dem Wesen nach der Empfindung verwandt ist, die Eigenschaft der Widerspiegelung“ (ebenda, S. 85).
Wie ist das zu verstehen? Wir haben ja bereits festgestellt, dass die Welt als allumfassender Gesamtzusammenhang zu verstehen ist, als Gefüge von unendlich vielen Beziehungen zwischen den einzelnen Dingen. Indem aber alles miteinander in Wechselwirkung steht, hinterlässt jedes einzelne Ding seine Spuren in den anderen Dingen. Indem ein Ding auf ein anderes einwirkt, verändert es dieses, drückt ihm seinen Stempel auf. Beispielsweise sind die Insekten im Verlauf der Erdgeschichte immer kleiner geworden, weil der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre abnahm und dieser somit nicht mehr ausreichte, um ihre großen Körper zu versorgen. Man kann also sagen, die Veränderung der chemischen Zusammensetzung spiegelt sich wider in der Veränderung des Organismus der Insekten. Ein anderes Beispiel: Die europäischen Staaten führten im Mittelalter viele Kriege gegen die arabischen Königreiche. Außerdem gab es aber auch Handel und kulturellen Austausch. Durch diese Wechselwirkung wurden in die europäischen Sprachen einige arabische Wörter übernommen, auch im Deutschen: z.B. Alkohol, Zucker oder Sofa. Auch hier spiegelt sich die eine Kultur durch jahrhundertelange Wechselwirkung in der anderen Kultur wider.
Es zeigt sich also, dass die Art der Widerspiegelung, durch die Erkenntnis zustande kommt, letzten Endes nur eine Sonderform des allgemeinen Vorgangs der Widerspiegelung ist: nämlich bewusste Widerspiegelung mithilfe der Sinne und der Denkfähigkeit des Menschen. Wir können die Dinge also deshalb erkennen, weil sie sowieso auf uns einwirken und unsere Sinne in der Lage sind, uns diese Einwirkung (Widerspiegelung) zu Bewusstsein zu bringen.
Arbeitsfragen:
- Woran lässt sich überprüfen, ob unsere Wahrnehmungen und Auffassungen mit der objektiven Realität übereinstimmen?
- Was bedeutet der Begriff „Widerspiegelung“ in der Erkenntnistheorie?
Diskussionsfrage:
- Ist es sinnvoll, von Erkenntnis als „Widerspiegelung“ der objektiven Realität zu sprechen?
3.5 Historischer Materialismus
Der Dialektische Materialismus beschäftigt sich, wie wir gesehen haben, mit den Entwicklungsgesetzen von allem, was existiert: Den Gesetzmäßigkeiten, nach denen sich in der Natur die Materie bewegt, nach denen das Bewusstsein aus der Materie entsteht und von ihr bestimmt ist. Dabei waren weder der Materialismus noch die Dialektik eine Erfindung des Marxismus. Beide existieren in verschiedenen Formen schon seit Jahrtausenden im philosophischen Denken. Auch die Verbindung der Dialektik mit dem Materialismus ist nichts prinzipiell Neues. Bereits bei antiken Philosophen wie Heraklit oder Aristoteles vereinen sich materialistische Tendenzen mit frühen Formen des dialektischen Denkens.
Die große Errungenschaft der Begründer des Marxismus liegt darin, eine konsequente, also in sich geschlossene und umfassende, dialektisch-materialistische Sicht auf die Welt entwickelt zu haben. Anders als frühere philosophische Systeme akzeptiert der Dialektische Materialismus von Marx, Engels und Lenin keinerlei idealistische oder anti-dialektische Auffassungen mehr. Und anders als frühere materialistische Philosophien betrachtet der Dialektische Materialismus erstmals wirklich die ganze Welt als einen sich dialektisch entwickelnden materiellen Zusammenhang. Die ganze Welt, das bedeutet aber eben nicht nur die Natur, sondern auch die menschliche Gesellschaft. Die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung wurden erstmals von Marx und Engels dialektisch-materialistisch untersucht. Diese Auffassung von der Geschichte nennt man den Historischen Materialismus. Der Historische Materialismus ist ein Teilbereich des Dialektischen Materialismus: Die Geschichte der menschlichen Gesellschaft bedarf zwar einer eigenständigen wissenschaftlichen Untersuchung, das heißt, die Gesellschaftsanalyse ist durch die Naturwissenschaften nicht erledigt. Aber sie kann auch nicht losgelöst aus dem Gesamtzusammenhang der Entwicklung der Materie betrachtet werden. Natur und Gesellschaft stehen in einem Wechselverhältnis. So ist die Gesellschaft in vielfacher Hinsicht von den natürlichen Bedingungen geprägt, unter denen sie existiert: von der Biologie des Menschen (dem Stoffwechsel, der Sexualität, der Entwicklung seiner geistigen Fähigkeiten, seinem Drang zur Bildung von Gemeinschaften usw.), aber auch von geografischen, klimatischen und anderen Bedingungen. Umgekehrt greift aber der Mensch auch verändernd in seine natürliche Umwelt ein, wie wir sehen werden.
3.5.1 Gesetzmäßigkeiten
Der Historische Materialismus ist also die Wissenschaft von den Gesetzmäßigkeiten der historischen Entwicklungen. Er geht also davon aus, dass auch die Geschichte nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten verläuft, die durch die wissenschaftliche Analyse erkannt werden können. Wie in der Natur geht der Marxismus auch in Bezug auf die Geschichte davon aus, dass die Triebkräfte der Entwicklung eines Dings in ihm selbst liegen, dass also Entwicklung nichts ist, was allein von äußeren Kräften bestimmt wird. Die Gesellschaften entwickeln sich also durch die ihnen innewohnenden Widersprüche und nicht, weil irgendeine eine höhere Macht die Geschicke der Menschen lenken würde. Wie Engels feststellte, wurde durch den Historischen Materialismus „der Idealismus aus seinem letzten Zufluchtsort, aus der Geschichtsauffassung, vertrieben… und der Weg gefunden, um das Bewußtsein der Menschen aus ihrem Sein, statt wie bisher ihr Sein aus ihrem Bewußtsein zu erklären“ (Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, MEW 19, S. 208).
Das Bewusstsein ist dabei in seiner Entwicklung in doppelter Weise materiell bestimmt: Einmal war es die körperliche Weiterentwicklung der Menschen, ihre reichhaltigere Nahrung, die komplexeren Tätigkeiten und zwischenmenschlichen Beziehungen, die die Entwicklung des Gehirns anregten und so zu komplizierteren Gedanken befähigten. Zweitens ist die Entwicklung des menschlichen Denkens über die Zeitalter hinweg aber auch der geistige Ausdruck der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften.
Was ist gemeint, wenn von gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten die Rede ist? Ist das in demselben Sinne gemeint, wie die Natur gesetzmäßig strukturiert ist? Ja und Nein. Nein, denn die gesellschaftlichen bzw. historischen Gesetzmäßigkeiten vollziehen sich, anders als die Naturgesetze, natürlich nicht losgelöst vom menschlichen Handeln. Die Gesetze der Physik oder Biologie werden nicht durch das Agieren von Menschen geschaffen, sondern sie galten auch schon, als es noch keine Menschen gab und würden weiterhin gelten, wenn der Mensch aussterben würde. Anders ist es bei den gesellschaftlichen Gesetzen: Diese werden von bewussten Menschen ausgeführt, sie sind das Ergebnis des Zusammenwirkens von vielen Individuen, die mit ihrem Handeln jeweils ihre eigenen Absichten und Zwecke verfolgen.
Andererseits sind die gesellschaftlichen Gesetze aber durchaus auch vergleichbar mit den Naturgesetzen. Denn auch wenn hinter gesellschaftlichen Gesetzen bewusste Menschen stehen, so setzen sich diese Gesetze dennoch unabhängig vom Willen der Menschen durch, solange die gesellschaftlichen Bedingungen existieren, die sie hervorgebracht haben. Wie ist das zu verstehen? In dem Sinne, dass der einzelne Mensch sich die Welt nicht so machen kann, wie sie ihm gefällt, sondern dass er bereits unter Bedingungen handeln muss, die das Ergebnis einer gesetzmäßigen historischen Entwicklung sind. Diese Gesetze wiederum kommen durch das Zusammenwirken vieler Individuen zustande und die Ziele, die das einzelne Individuum verfolgt, müssen im Ergebnis nicht zu dem Ergebnis führen, das angestrebt wurde. Marx sagt: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ (Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW 8, S. 115). Dass die Menschen ihre Geschichte machen, heißt also nicht, dass sie sich immer der gesellschaftlichen Grundlagen und Wirkungen ihres Handelns bewusst werden.
Dieser Zusammenhang sollte weiter unten besser verständlich werden. Aber ein Beispiel ist vielleicht trotzdem schon mal hilfreich: Stellen wir uns eine Bäuerin vor, die ihr Gemüse auf dem Wochenmarkt verkaufen will. Natürlich will sie für ihre Waren möglichst viel Geld bekommen, denn sie hat ja mit ihrer Familie das ganze Jahr dafür gearbeitet, die Ernte einzubringen. Sie kann aber den Preis nicht beliebig festsetzen. Sie ist nämlich nicht alleine auf der Welt, sondern tritt als Akteurin auf den Markt, und dieser Markt folgt Gesetzmäßigkeiten. Durch die Konkurrenz der unterschiedlichen Verkäufer und Käufer auf dem Markt wird ein bestimmtes Preisniveau objektiv festgesetzt – „objektiv“ bedeutet, dass es keine bewusste Entscheidung einer einzelnen Person war, die dieses Niveau bestimmt hat, sondern dass es sich aus dem Zusammenwirken vieler Personen ohne zentralen Beschluss herausgebildet hat. Wir werden in Kapitel 4.2 sehen, dass es letzten Endes und indirekt die durchschnittlich notwendige Arbeitszeit ist, die den Preis der Waren bestimmt. Jedenfalls ist unsere Bäuerin gezwungen, sich an diesem objektiv festgesetzten Preisniveau zu orientieren. Weicht sie bedeutend nach oben ab, findet sie keine Abnehmer mehr. Senkt sie den Preis zu stark, kann sie sich und ihre Familie nicht mehr ernähren und ihre verbrauchten Arbeitsinstrumente, Saatgut usw. nicht mehr ersetzen. Die Preisbildung ist also ein Beispiel für ein gesellschaftliches Gesetz, bei dem die vielen Einzelwillen der Menschen im Ergebnis zu einem anderen Ergebnis führen.
Die objektiven gesellschaftlichen Gesetze unterscheiden sich von den Naturgesetzen dadurch, dass sie nicht unabhängig vom Willen der Menschen gültig sind, sondern vom Entwicklungsniveau der Gesellschaft und der herrschenden Gesellschaftsordnung abhängig gelten. Z.B. gelten die besonderen Gesetze des Kapitalismus natürlich nicht mehr, wenn der Kapitalismus überwunden wurde und der Sozialismus aufgebaut wird. Auf der anderen Seite lassen sich die objektiven Gesetze aber auch nicht beliebig verändern oder außer Kraft setzen. Solange wir im Kapitalismus leben, werden die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus gelten und unser Leben bestimmen. Regierungen können durch bewusstes politisches Eingreifen das Wirken des einen oder anderen Gesetzes etwas ändern, indem sie eine bestimmte Entwicklung vorübergehend verlangsamen oder beschleunigen. Sie können die grundlegenden Gesetze aber nicht außer Kraft setzen.
Es gibt sowohl allgemeine historische Gesetzmäßigkeiten, die in allen Gesellschaften gelten, als auch spezifische Gesetze, die nur in manchen Gesellschaftsformen Gültigkeit haben. Das Beispiel des Gemüsemarktes beschreibt ein spezifisches Gesetz. Denn nicht in allen Gesellschaften gibt es überhaupt Märkte, auf denen Waren gekauft und verkauft werden. Ein Markt setzt voraus, dass unter den Bedingungen des Privateigentums produziert wird, und die Privateigentümer ihre Waren dann tauschen müssen. Im Kapitel 4 werden wir uns ausführlich mit den Gesetzmäßigkeiten beschäftigen, nach denen der Kapitalismus funktioniert. Wir werden aber auch für allgemeine historische Gesetze noch Beispiele kennenlernen.
Fassen wir an dieser Stelle schon mal zusammen: Der Historische Materialismus ist die von Marx und Engels begründete Auffassung von der Geschichte, wonach auch die menschliche Gesellschaft sich nach den Grundgesetzen der Dialektik (Kapitel 3.2) entwickelt und dabei die Entwicklung der materiellen, ökonomischen Verhältnisse der Gesellschaft das Grundlegende ist, während die Entwicklung aller anderen Bereiche der Gesellschaft wie Philosophie, Religion, Kunst, Politik usw. von der ökonomischen Entwicklung abhängig ist.
Der Historische Materialismus richtet seinen Blick dabei auf den Geschichtsprozess als Ganzes, als gesetzmäßigen Gesamtzusammenhang, statt, wie die bürgerliche Geschichtsschreibung, die Geschichte nur als Aneinanderreihung von Daten und Ereignissen zu verstehen, in denen nur teilweise ein Zusammenhang gesehen wird. Daher erkennt auch die bürgerliche Wissenschaft im Kapitalismus immer nur einzelne Problemlagen, die auf isolierte Ursachen wie z.B. falsche Politik oder das Fehlverhalten der Individuen zurückgeführt werden. Nur der Historische Materialismus ist in der Lage, den Gesamtzusammenhang der kapitalistischen Produktionsweise hinter den einzelnen Problemen zu erkennen, die den Menschen das Leben schwermachen.
3.5.2 Produktivkräfte
Wie ist das nun zu verstehen, dass die Gesellschaft von der ökonomischen Entwicklung abhängig ist? Zunächst in einem sehr grundlegenden Sinne. „Marx bezeichnete es als die grundlegende Tatsache der Gesellschaft, daß die Menschen erst essen, trinken, wohnen, sich kleiden müssen, ehe sie Politik treiben, künstlerische Neigungen befriedigen oder philosophische Abhandlungen verfassen können. Dies ist scheinbar selbstverständlich. Aber in Wirklichkeit handelte es sich um eine epochemachende Entdeckung, aus der sich vor allem die Schlußfolgerung ergibt: Um leben zu können, müssen die Menschen arbeiten, ihre Existenzmittel produzieren. Ohne Produktion könnte keine Gesellschaft existieren. Daher bildet die Produktion der unmittelbaren materiellen Existenzmittel und der Grad der ökonomischen Entwicklung, der durch ein Volk oder während einer geschichtlichen Epoche erreicht wird, die Grundlage, auf welcher sich Regierungsformen, Rechtsverhältnisse, Kunst usw. entwickeln.“ (Einführung in den dialektischen und historischen Materialismus, S. 298).
Die Arbeit ist also eine grundlegende Notwendigkeit jeder Gesellschaft und überhaupt des menschlichen Lebens. Arbeit verstehen Marx und Engels als eine bewusste Tätigkeit, durch die Menschen ihre vorgefundene Umwelt ihren Zwecken entsprechend verändern. Der Mensch findet in der Natur Voraussetzungen, um sein Überleben zu sichern und seine sonstigen Bedürfnisse zu befriedigen. Allerdings ist es in den meisten Fällen notwendig, die in der Natur vorgefundenen Gegenstände zu bearbeiten, um sie für den Menschen nutzbar zu machen: So müssen Bäume erst gefällt und das Holz gesägt werden, der Stein muss aus dem Steinbruch gehauen werden, Kühe werden durch Züchtung über viele Generationen so verändert, dass sie mehr Milch geben usw.
Die Arbeit ist für Marx und Engels die entscheidende Tätigkeit, die den Menschen erst ausmacht. Zwar „bearbeiten“ auch viele Tiere ihre Umwelt zum Zwecke ihres Überlebens oder ihrer Fortpflanzung. Marx schreibt dazu aber: „Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war.“ (Marx: Das Kapital, Band I, MEW 23, S. 193).
Arbeit in diesem Sinne ist also als bewusstseinsgeleitete Tätigkeit zu verstehen. Durch die Arbeit verwirklicht der Mensch seine Zwecke im Bezug auf die materielle Welt, in der er lebt. Sie ist die Grundlage seiner Bedürfnisbefriedigung und seines Verhältnisses zu anderen Menschen. Es ist also falsch, die Arbeit rein negativ zu verstehen, einfach als Mühsal und Zeitverlust. Dass die Arbeit in unserer Gesellschaft meistens diesen Charakter hat, liegt vielmehr an ihrer kapitalistischen Form. Sie ist im Kapitalismus entfremdete Arbeit, weil sie nicht der Entfaltung des Menschen dient, sondern seiner Beherrschung und den Profiten der Bourgeoisie.
Die Dinge, die der Mensch durch seine Arbeit verändert, werden als Arbeitsgegenstände bezeichnet. Die Instrumente, mit denen die Gegenstände bearbeitet werden, nennt man Arbeitsmittel. Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstände zusammengenommen, also alles was der Mensch an Dingen braucht, um zur Befriedigung seiner Bedürfnisse arbeiten zu können, nennt man Produktionsmittel: Produktionsmittel, das sind also die Rohstoffe, bereits verarbeitete Halbfabrikate, aber auch die Werkzeuge und Maschinen, der Boden, die Produktions- und Lagergebäude, Transportmittel und Infrastruktur. Durch die Arbeit tritt also der Mensch in ein Verhältnis, in einen Stoffwechsel zur Natur. Die Arbeit verändert sowohl die Natur, als auch gleichzeitig den Menschen. So ändert sich beispielsweise durch die Entwicklung des Arbeitsprozesses auf immer höherer technischer Stufe auch die Art und Weise, wie der Mensch seine gesellschaftliche und natürliche Umwelt wahrnimmt und über sie denkt. Diese Erweiterung unserer Sinne durch die gesellschaftliche Entwicklung ist auch, aber nicht nur, direkt physisch zu verstehen: Das Teleskop erlaubt uns die Erforschung des Weltraums, das Elektronenmikroskop die des Mikrokosmos (also die winzigen Bestandteile der Materie) und durch die heutige moderne Physik wissen wir einiges über die Welt, was dem Alltagsverstand direkt widerspricht, wie z.B. dass sich Räume krümmen können oder dass die Zeit an unterschiedlichen Orten unterschiedlich schnell vergeht.
Die Menschen und die Produktionsmittel, mit denen sie arbeiten, um all die Güter zu produzieren, die wir zum Leben im weitesten Sinne brauchen, sind also die beiden „Zutaten“ der Produktion, die produktive Kraft der Gesellschaft. Daher nennt man sie Produktivkräfte. Produktionsmittel alleine reichen aber nicht zur Produktion, sondern der Mensch ist dazu immer auch erforderlich. Ein Arbeitsmittel oder Arbeitsgegenstand alleine ist nutzlos und verfällt sogar mit der Zeit. Daher ist der Mensch die wichtigste Produktivkraft.
Die Produktivkräfte bleiben nicht gleich, sondern entwickeln sich ständig weiter. Das gilt für die Arbeitsgegenstände ebenso wie für die Arbeitsmittel und die Menschen selbst. Die ersten Werkzeuge, mit denen der Mensch die Welt bearbeitete, indem er z.B. Tiere jagte und ihr Fleisch und Fell nutzte, waren aus Stein und Holz gefertigt. Die Menschen zogen über Hunderttausende Jahre als Nomaden umher und konnten der Natur nur das Notwendigste zum Überleben abringen.
Die Entwicklung der Produktivkräfte war über diesen Zeitraum, der den größten Teil der Menschheitsgeschichte ausmacht, noch sehr langsam und nur über Tausende Generationen hinweg oder noch längere Zeitspannen überhaupt spürbar. Einen qualitativen Sprung begann die Menschheit dann vor etwa 12.000 Jahren mit der sogenannten „Neolithischen Revolution”, ein Begriff, der heutzutage weniger verwendet wird. Die Menschen begannen, Getreide anzubauen und Nutztiere zu halten. Dadurch lösten sie sich von der Lebensweise der Nomaden und wurden sesshaft. In den folgenden Jahrtausenden begannen sie, die Produktion von Nahrungsmitteln und Werkzeugen weiterzuentwickeln, begannen mit dem Bau von Gebäuden usw. Anders als das Wort „Revolution“ nahezulegen scheint, war dies also immer noch ein langwieriger Prozess, der sich über viele Jahrtausende zog und den wir als Jungsteinzeit bezeichnen, weil die wesentlichen Werkzeuge immer noch aus Stein gefertigt waren.
Ein nächster großer Schritt war die Metallurgie, also die Entdeckung und Verarbeitung von Metallen. Zuerst war dies vor allem Bronze, später nahm das Eisen ihren Platz ein. Diese Epochen nennt man nach dem vorherrschenden Material der Werkzeuge die Bronze- und Eisenzeit. Die Arbeit spezialisierte sich und die gesellschaftliche Arbeitsteilung nahm mehr und mehr zu, auch der Austausch zwischen den Gemeinschaften in Form von Handel wird von einem zufälligen, einmaligen zu einem regelmäßigen Akt und führt dazu das die Arbeitsteilung zwischen den Gesellschaftsmitgliedern sich weiter ausdifferenziert. Mit dem Entstehen eines Mehrproduktes über das absolute gesellschaftliche Minimum wird es einmal interessant, Kriegsgefangene als Sklaven zu halten, zum anderen sondern sich Personengruppen aus dem eigentlichen Produktionsprozess ab. Es entsteht ein gesellschaftlicher Überbau; das von den Produzenten geschaffene Mehrprodukt schafft ein über den Produzenten stehende Menschengruppe, welche sich dieses Mehrprodukt aneignet. Diese Ausbeutung der Arbeitskraft bewirkt Herrschaftsstrukturen, um diese abzusichern. Der Staat mit Unterdrückten und Unterdrückern entsteht und mit ihm eine Vielzahl von Arbeitsaufgaben, die die kleine, auf Sippengemeinschaft beruhende Produktionsweise der Urgesellschaft nicht kannte.
Neben der Entwicklung der Landwirtschaft entstehen die ersten Städte. Politik und Verwaltung wurden komplexer, sodass schließlich mächtige Großreiche wie die der Babylonier, Ägypter, Chinesen und Perser oder in der Spätantike die hellenistischen Reiche und das Römische Reich entstehen konnten.
Mit dem Untergang des Weströmischen Reiches im 4. und 5. Jahrhundert n.Chr. begann in Europa das sogenannte Mittelalter. Auf den ersten Blick erscheint das Mittelalter als ein riesiger ökonomischer und zivilisatorischer Rückschritt im Vergleich zur Antike. Viele Leute stellen sich diese Epoche als eine Zeit der Dunkelheit, des Aberglaubens und des wirtschaftlichen Rückschritts dar. Längerfristig und global betrachtet ist das Bild aber differenzierter. In China, im arabischen Raum oder im Byzantinischen Reich beispielsweise entwickelten sich Wissenschaft und Kultur stark weiter. Auch im west- und zentraleuropäischen Mittelalter gab es einschneidende Entwicklungen der Produktivkräfte: So z.B. den Räderpflug in der Landwirtschaft, das Hufeisen, die Nutzung der Wind- und Wasserkraft zum Mahlen von Getreide und den Übergang der Landbestellung zur Dreifelderwirtschaft, d.h. der abwechselnden Bewirtschaftung von Feldern, wobei immer nur zwei von drei Feldern bestellt wurden, sodass der Boden auf dem dritten Feld sich erholen konnte. Diese Entwicklungen ermöglichten große Zuwächse bei der Ernte, verbesserte Ernährung, schnellere Reisen und Handel usw. Im Verlauf der Jahrhunderte entstanden auch im damals noch sehr unterentwickelten West- und Mitteleuropa überall Handelswege und Städte. Die Bevölkerung wuchs stark an, weil durch die verbesserten Produktionstechniken mehr Menschen ernährt werden konnten. Im späten Mittelalter revolutionierte das Schießpulver die Kriegstechnik, der Buchdruck schuf neue Grundlagen für die Wissenschaft. Immer feinere handwerkliche Tätigkeiten wurden möglich, sodass komplexe Geräte wie Uhren und Teleskope hergestellt wurden. Das Morgengrauen der kapitalistischen Neuzeit wurde schließlich durch neue Methoden der Eisen- und Stahlverarbeitung, immer effizientere Spinnmaschinen zur Textilproduktion und schließlich neue Kraftquellen wie die Dampfmaschine eingeläutet. Mit dem Fabriksystem entstand hier nun auch eine neue Form der Arbeitsorganisation, die das vorherige kleine Handwerk ablöste. In wenigen Jahrhunderten entwickelte sich nun mit rasantem Tempo das technische Niveau der heutigen Welt heraus, mit Computern, Satelliten, Teilchenbeschleunigern und Hochgeschwindigkeitszügen.
Die Entwicklung der Produktivkräfte war dabei eine Entwicklung aller Produktivkräfte: Die Arbeitsgegenstände wurden immer zahlreicher und erforderten immer mehr vorherige Bearbeitung. Die Arbeitsmittel wurden ebenfalls zahlreicher und komplexer, in ihnen steckte ebenfalls immer mehr Arbeit. Und vielleicht am stärksten hat sich der Mensch selbst durch all das verändert: Nicht nur physisch, indem er beispielsweise heute aufgrund der besseren Ernährung im Durchschnitt wesentlich größer ist als noch vor einigen Jahrhunderten. Sondern vor allem auch, was Kultur, den wissenschaftlichen Zugang zur Welt, den Arbeitsalltag, den Konsum, kurz: die gesamte gesellschaftliche Struktur angeht. Die Entwicklung der Produktionstechniken erlaubte ein viel stärkeres Bevölkerungswachstum, was wiederum erst die Bildung von Städten im großen Ausmaß und damit die fabrikmäßige Massenproduktion des heutigen Kapitalismus ermöglichte. Verschiedene Aspekte des Fortschritts der Produktivkräfte griffen also ineinander und förderten sich gegenseitig.
Die Fortentwicklung der Produktivkräfte vom Niederen zum Höheren lässt sich in der gesamten Menschheitsgeschichte als ein allgemeines historisches Gesetz beobachten. War diese Tendenz lange Zeit nur durch das unmittelbare Streben des Menschen angetrieben, den alltäglichen Überlebenskampf zu erleichtern, spielten zunehmend auch die gesellschaftlichen Umstände eine Rolle für die Produktivkraftentwicklung. Durch die gesellschaftliche Arbeitsteilung, durch staatlich organisierte Maßnahmen wie der Bau von Straßen und Bewässerungssysteme usw. konnte bereits in der frühen Antike der Fortschritt der Produktivkräfte außerordentlich beschleunigt werden. In der kapitalistischen Gesellschaft schließlich ist die Konkurrenz der Unternehmen ein Antrieb zum technischen Fortschritt. Das ist aber nicht absolut zu verstehen: Der Kapitalismus bremst teilweise auch den Fortschritt, vor allem in seinem monopolistischen Stadium (Kapitel 4.7). Doch trotz dieser unterschiedlichen Bedingungen und Aspekte der Produktivkraftentwicklung zieht sich diese Entwicklung durch alle Epochen. Sie ist das grundlegendste, revolutionärste Element der gesellschaftlichen Entwicklung: In der Geschichte haben sich die Bedingungen, unter denen der Mensch arbeitet und den materiellen Lebensprozess der Gesellschaft produziert, ständig umgewälzt. Und damit haben sich die Formen des Verkehrs und Austausches, die Beziehungen zwischen den Menschen, die gesellschaftlichen Strukturen, kulturelle und geistige Erscheinungen sowie Politik und Staatswesen stetig mit verändert. Einerseits war diese Anpassung der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung an den Fortschritt der Produktivkräfte notwendig, um die weitere Entwicklung zu ermöglichen, beispielsweise weil neue Produktionstechniken eine größere Konzentration von Arbeitern erforderten und daher das Zusammenleben in Städten erforderlich machten. Andererseits war sie aber auch eine mehr oder weniger unbewusste Folge davon, dass die Gesellschaft materiell gesehen immer komplexer, größer und reicher wurde. So bildeten sich neue Denkweisen über die Welt heraus, höher entwickelte Kunst und Literatur, aber z.B. auch effizientere Tötungsmethoden in der Kriegstechnik.
3.5.3 Produktionsverhältnisse
Auch wenn die Entwicklung der Produktivkräfte das grundlegende vorantreibende Gesetz der Menschheitsgeschichte ist, besteht die gesellschaftliche Entwicklung noch aus anderen Elementen. Die Produktivkraftentwicklung verlief in der Geschichte unter sehr unterschiedlichen Bedingungen, in sehr unterschiedlich strukturierten Gesellschaften.
Die längste Zeit lebten die Menschen in kleinen, umherziehenden Gemeinschaften, in denen die wenigen Güter geteilt wurden und nicht einzelnen gehörten. Diese Urgesellschaft beruhte also auf der einfachen Zusammenarbeit der Menschen auf der Grundlage einer ungefähr gleichmäßigen Verteilung der Arbeitsprodukte. Das ökonomische Grundgesetz dieser „urkommunistischen“ Gesellschaft bestand also in der ungefähr gleichmäßigen Verteilung der Güter zur Sicherung der Existenzbedingungen der Menschen auf niedrigem Niveau mithilfe primitiver Produktionsinstrumente.
In der sogenannten Antike setzte sich dann aber das Privateigentum an den Produktionsmitteln durch – und nicht nur an diesen, sondern auch am Menschen selbst. Ein Teil der Menschen, meistens Kriegsgefangene anderer Völker, besaß nicht nur kein Eigentum an Produktionsmitteln, sondern war selbst Eigentum – Sklaven. Diese Sklavenhaltergesellschaft, wie es sie z.B. im alten Rom, aber auch in anderen Staaten gab, kannte eine Vielzahl unterschiedlicher Gruppen: Neben den Sklaven und den Sklavenhaltern gab es auch freie, aber nicht-besitzende Schichten von Menschen. Die Voraussetzung für die Entstehung der Sklavenhaltergesellschaft war, dass die Produktivkräfte sich so weit entwickelt hatten, dass es möglich war, nicht nur das nackte Überleben zu sichern, sondern einen Überschuss zu produzieren, den eine besitzende Klasse sich aneignen konnte. Diese Klasse der Sklavenhalter konnte ihren Lebensunterhalt und in zunehmendem Maße auch ihren Luxus durch die Ausbeutung der Sklaven bestreiten. Das ökonomische Grundgesetz der Sklavenhaltergesellschaft bestand darin, dass das Mehrprodukt durch die Sklavenhalter durch die Ausbeutung der Sklaven angeeignet wurde, wobei die Grundlage das Eigentum der Sklavenhalter an den Produktionsmitteln und den Sklaven war.
Das sogenannte Mittelalter war im Wesentlichen durch das System des Feudalismus geprägt, auch wenn es weiterhin auch Formen des Gemeineigentums und der Sklaverei gab. Im Feudalismus war das Verhältnis zwischen unfreien Bauern und Feudalherren entscheidend: Die Bauern waren zwar keine Sklaven mehr, sie konnten nicht nach Belieben gekauft und verkauft oder an einen anderen Ort gebracht werden. Sie besaßen auch eigene Arbeitsinstrumente, z.B. Geräte für die Landwirtschaft und Nutztiere, und konnten einen Teil ihrer Zeit für sich und ihre Familie arbeiten. Gleichzeitig waren sie aber insofern unfrei, dass sie den Ort, an dem sie lebten, nicht in freier Entscheidung verlassen durften. Sie waren als Leibeigene einem Herrn unterstellt, dem sie Dienste leisten mussten – entweder in Form von Abgaben oder indem sie einen Teil ihrer Arbeit direkt auf dem Acker des Herrn leisten mussten. Die adligen Feudalherren waren wiederum keine einheitliche Klasse, sondern stark geschichtet und unterteilt: Einerseits wurde der Adel in geistlichen und weltlichen Adel unterteilt, die beide vom Feudalsystem profitierten. Andererseits war der Adel sozial stark differenziert: Von kleinen Rittern, die teilweise selbst in relativer Armut lebten, bis zu unermesslich reichen Herzögen, Königen, Bischöfen und Kardinälen. Dabei verlieh der König den niedriger gestellten Fürsten Macht und Titel sowie die Verfügung über ein gewisses Stück Land und die darauf lebenden Bauern. Auf diesem Eigentum an Grund und Boden und der damit verbundenen Herrschaft über die dazugehörigen Bauern beruhte die Macht der verschiedenen Gruppen von Feudalherren. Dafür, dass ihnen diese Macht gewährt wurde, folgten die Fürsten dem König mit ihren Soldaten in den Krieg. Der Feudalismus war von einer Dezentralisierung der Herrschaft gekennzeichnet, weil diese vor Ort nicht durch den Zentralstaat, sondern durch die Feudalherren ausgeübt wurde. Das ökonomische Grundgesetz der Feudalordnung können wir so formulieren, dass sich die Klasse der Feudalherren das Mehrprodukt für ihren Konsum aneignete, indem sie auf Grundlage ihres Eigentums am Grund und Boden und der Herrschaft über die leibeigenen Bauern, die damit auch zu einem gewissen, beschränkten Grad das Eigentum der Feudalherren bildeten, diese Bauern ausbeutete. Allerdings unterschieden sich die genauen Formen des Feudalismus je nach Region zum Teil sehr stark und der Feudalismus setzte sich auch nicht überall auf der Welt durch.
Der Kapitalismus schließlich ist eine Gesellschaft, in der es normalerweise keine gesetzliche Trennung in Sklaven, Leibeigene und Freie mehr gibt, auch wenn Sklaverei de facto weiterhin existiert. Vor dem Gesetz sind, zumindest dem Wortlaut nach, alle gleich. Trotzdem ist die Trennung in Arme und Reiche damit keineswegs aufgehoben, sondern vielmehr auf die Spitze getrieben. Wie genau der Kapitalismus aufgebaut ist und nach welchen Gesetzmäßigkeiten er sich entwickelt, werden wir in Kapitel 4 sehen.
Die Ideologen des Kapitalismus behaupten oft und gerne, eine andere Gesellschaft als den Kapitalismus könne es nicht geben. Das ist offensichtlich eine Lüge, da die Menschheit während weit über 99% ihrer Existenz ohne den Kapitalismus gelebt hat. Es ist aber auch deshalb falsch, weil der Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte ist. Auch er wird eines Tages untergehen. Und entweder wird die Menschheit mit ihm untergehen, oder sie wird eine neue Gesellschaftsform schaffen: Die sozialistische bzw. kommunistische Gesellschaft, mit der wir uns in Kapitel 9 beschäftigen werden.
In marxistischen Lehrbüchern und Überblickswerken zur Weltgeschichte finden wir oft die Unterteilung der menschlichen Gesellschaften in folgende Entwicklungsstufen:
- Die Urgesellschaft bzw. den „Urkommunismus“
- Die Sklavenhaltergesellschaft in der Epoche, die als Antike bezeichnet wird.
- Den Feudalismus in der Epoche, die als Mittelalter bekannt ist.
- Den Kapitalismus.
- Und schließlich die sozialistische und kommunistische Gesellschaft.
Die geschichtliche Entwicklung der Gesellschaften verlief allerdings natürlich je nach Land und Weltregion mit gewissen Unterschieden und lässt sich mit einem einfachen Schema nicht erschöpfend darstellen. So bildete sich beispielsweise nicht in allen Ländern eine feudalistische Ordnung heraus. Und auch in den Ländern, in denen wir die Grundelemente einer Feudalgesellschaft vorfinden, gab es große Unterschiede. Grob können wir zumindest sagen, dass in allen Ländern die gesellschaftliche Entwicklung in einer Form der Urgesellschaft beginnt und heute im Kapitalismus angekommen ist, sowie dass in allen Ländern die nächste Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung nach dem Kapitalismus der Sozialismus sein muss.
Es gibt also verschiedene, historisch sich entwickelnde Stufen der gesellschaftlichen Produktion. Historische Stufen sind es deswegen, weil sich die Menschen einer Epoche das angesammelte Wissen ihrer Vorfahren zunutze machen und weiterentwickeln können. Es fängt also nicht jede Generation wieder „von vorne“ an, sondern baut auf dem auf, was bereits da ist. Gesellschaftlich ist die Produktion, weil sie nicht einfach die Summe voneinander unabhängig arbeitender Produzenten ist – Menschen teilen Arbeiten auf, spezialisieren sich und sparen so riesige Mengen an Arbeitszeit ein, anstatt dass jeder alles macht. Es ist vollkommen unmöglich, dass ein Mensch Medizin studiert und Arzt wird, wenn er gleichzeitig den ganzen Tag auf dem Feld arbeiten muss, Holz für seine Hütte fällt, Tiere jagt und Kleidung aus deren Leder macht usw. Ein wichtiger Gradmesser für den Entwicklungsgrad einer Gesellschaft ist der Grad der gesellschaftlichen Arbeitsteilung.
Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal der unterschiedlichen historischen Epochen ist jedoch ein anderes und es wurde bereits angesprochen: Nämlich das Verhältnis der Menschen zu den Produktionsmitteln.
Marx schreibt dazu: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen.“ (Marx: Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW 13, S. 8).
Was meint Marx damit? Zuerst mal sagt er, dass jede Gesellschaft auf einer bestimmten Art und Weise beruht, die Produktion zu organisieren. Diese gesellschaftlichen Verhältnisse sind vom Willen der Menschen unabhängig, und zwar in dem Sinne, dass sie ihre eigene Entwicklungslogik haben – eben eine Selbstbewegung im dialektischen Sinne (siehe Kapitel 3.2) – und in ihrer Entwicklung nicht von einer Zentrale aus gesteuert werden.
Jedenfalls nennt Marx diese Verhältnisse Produktionsverhältnisse. Aus dem Produktionsverhältnis, also dem Verhältnis, das die Menschen zu den Produktionsmitteln haben, ergibt sich aber immer auch ein Verhältnis der Menschen untereinander: So ging z.B. in der Sklavenhaltergesellschaft das Eigentum der Sklavenhalter am Boden, an den Bergwerken usw. auch mit dem Eigentum an den Sklaven einher. Auch im Kapitalismus beruht die Macht der herrschenden Klasse auf dem Eigentum an Produktionsmitteln, ebenso wie die Unterdrückung der Arbeiterklasse auf dem Nichteigentum an Produktionsmitteln (siehe Kapitel 4). Deshalb sind die Eigentumsverhältnisse nur der juristische Ausdruck für die Produktionsverhältnisse, die die gesellschaftliche Struktur im Wesentlichen bestimmen.
Marx stellt auch fest, dass die Produktionsverhältnisse einer bestimmten Entwicklungsstufe der Produktivkräfte entsprechen. Das ist in beide Richtungen zu verstehen: Einerseits entstehen bestimmte Produktivkräfte erst unter einer höheren Stufe der Produktionsverhältnisse: Unter den feudalen Produktionsverhältnissen war z.B. keine industrielle Großproduktion möglich, da die Masse der Werktätigen als Bauern auf dem Land lebten, da eine wirtschaftliche Konkurrenz unter den Produzenten fehlte und es keinen genügenden Anreiz zur Einführung neuer Technologien gab, aber auch weil der Staat aufgrund des Lehnswesens viel zu stark dezentralisiert war, um den Aufbau einer Industrie zu unterstützen und die hohen Regulierungserfordernisse einer Industriegesellschaft zu erfüllen usw. Flugzeuge, Raketen, Hochgeschwindigkeitszüge, all das wäre unter dem Feudalismus unmöglich gewesen. Daraus folgt, dass der Feudalismus ab einem gewissen Entwicklungsniveau der Produktivkräfte zu einem Hindernis für die weitere Entwicklung der Produktivkräfte wurde, so wie schon vor ihm die antike Sklavenhaltergesellschaft. Es musste eine ökonomische Umwälzung geben, die Entstehung neuer Produktionsverhältnisse war notwendig geworden. Zuerst entwickelte der Kapitalismus sich noch unter der Feudalherrschaft, vor allem in den Städten Europas, die relativ eigenständig waren und daher der entstehenden neuen gesellschaftlichen Klasse den notwendigen Spielraum boten, die sie für ihren langsamen Aufstieg brauchte. Diese neue Klasse war die Bourgeoisie, die Klasse der Kapitalisten.
Wir haben bereits weiter oben gesehen, dass die Entwicklung der Produktivkräfte vom Niederen zum Höheren ein grundlegendes geschichtliches Gesetz darstellt. Nun verstehen wir, dass diese Entwicklung nicht einfach nur technisch zu verstehen ist, also in dem Sinne, dass neue Technologien und Arbeitsmethoden erfunden werden. Vielmehr sind die Produktivkräfte nur in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang zu verstehen und mit der historischen Entwicklung ist eine Zunahme dieses gesellschaftlichen Charakters der Produktivkräfte festzustellen. Das bedeutet, dass die Produktivkräfte, je weiter sie sich entwickeln, immer weniger von einzelnen Personen und immer mehr nur noch durch die gesamte Gesellschaft angewandt werden können. Wir werden sehen, dass diese Entwicklungstendenz unter der kapitalistischen Produktionsweise ein höheres Niveau erreicht als jemals zuvor und dabei den Widerspruch zwischen diesem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und dem Privateigentum an den Produktionsmitteln immer größer werden lässt.
Wir sehen also, dass Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse in einem engen inneren Zusammenhang stehen. Bestimmten Produktionsverhältnissen entspricht auch ein bestimmtes Entwicklungsniveau der Produktivkräfte. Das heißt aber auch: Mit der Weiterentwicklung der Produktivkräfte werden diese Produktionsverhältnisse an einem bestimmten Punkt unvermeidlich historisch überholt, sie müssen gesprengt werden und neue Produktionsverhältnisse an ihre Stelle treten. Diese Einheit von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen in einer bestimmten historischen Epoche und die gesetzmäßige Beziehung zwischen beidem bezeichnet der Marxismus als Produktionsweise.
3.5.4 Basis und Überbau
Bei den fünf oben angesprochenen Typen von Produktionsverhältnissen lassen sich zwei Gruppen unterscheiden: In zwei der genannten Gesellschaftsformen, nämlich der Gesellschaft des ursprünglichen Gemeineigentums (auch „Urkommunismus“ genannt) und in der sozialistischen/kommunistischen Gesellschaft gibt es kein Privateigentum an den Produktionsmitteln und auch keine Gruppe von Menschen, die dadurch über andere Menschen bestimmen kann. Sklavenhaltergesellschaft, der Feudalismus und die kapitalistische Produktionsweise gemein, dass es in ihnen eine kleine Gruppe von Menschen gibt, denen die wichtigsten Produktionsmittel gehören und mit denen sie die Masse der arbeitenden Menschen dazu zwingen können, für sie zu arbeiten. Es handelt sich bei diesen drei Gesellschaftsformen um Klassengesellschaften. Es gibt jeweils eine oder mehrere Ausbeuterklassen, die von der Arbeit der Mehrheit der Gesellschaft leben, diese also ausbeuten. Was ist mit Ausbeutung gemeint?
Indem es mit dem Fortschritt der Produktivkräfte möglich wurde, mehr als nur das unmittelbare Überleben zu sichern, konnte sich auch eine besondere Klasse von Menschen herausbilden, die selbst nicht im Produktionsprozess tätig sein musste, sondern von dem Überschuss, den die Masse der arbeitenden Menschen erzeugte, ihren Lebensunterhalt bestreiten konnte. In der Sklavenhaltergesellschaft sah das dann so aus, dass die Sklaven wesentlich länger und härter arbeiten mussten, als es notwendig gewesen wäre, wenn sie nur sich selbst hätten ernähren müssen. Sie arbeiteten also praktisch nur einen Teil der Zeit für sich und einen Teil des Arbeitstages für den Herrn. Bei den Leibeigenen wurde diese Teilung des Arbeitstages dann noch sichtbarer, indem man z.B. den zweiten Teil des Arbeitstages direkt auf dem Acker des Herrn verbrachte. Wie wir später sehen werden, ist es auch bei der Arbeiterklasse im Kapitalismus nicht anders. Die Arbeitszeit, die ein Sklave, Leibeigener oder moderner Proletarier über den Teil des Arbeitstages, der zur Befriedigung seiner lebenswichtigen Bedürfnisse notwendig war, hinaus verrichtete, bezeichnet Marx als Mehrarbeit. Gibt es eine Klasse (z.B. Sklavenhalter), die sich die Mehrarbeit einer anderen Klasse (z.B. Sklaven) bzw. deren Produkte aneignet (denn dem Sklaven gehörte ja das Produkt seiner Arbeit nicht mehr), dann ist das Ausbeutung. Der Ausbeutungsbegriff bei Marx ist demnach nicht moralisch, er bezeichnet keine „besonders schlechten Arbeitsverhältnisse“ oder Kinderarbeit oder Überarbeitung durch den 14-Stunden-Tag. Ausbeutung ist ein wissenschaftlich objektiver Begriff, der schlicht und einfach das Verhältnis zwischen zwei Gruppen von Menschen bezeichnet, von denen die eine für die anderen arbeitet und Mehrarbeit leistet. Welche besondere Gestalt die Ausbeutung im Kapitalismus annimmt, wird ein zentrales Thema des nächsten Kapitels sein. Ob in einer Gesellschaft Ausbeutung der Arbeitskraft stattfindet und welche Formen diese annimmt, sind die entscheidenden Unterscheidungsmerkmale verschiedener Produktionsweisen.
Weil in der gesellschaftlichen Entwicklung die ökonomischen Beziehungen, also die Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte, das bestimmende sind, bezeichnet Marx sie auch als die Basis der Gesellschaft. Zur ökonomischen Basis gehören die Produktions- und Eigentumsverhältnisse, die Formen der Verteilung und des Austausches des produzierten Reichtums und die Unterteilung der Gesellschaft in Klassen und Schichten. Wie ein Haus, dem man sein Fundament entziehen würde, auf den Boden fallen und zerbrechen würde, so ist eine Gesellschaft ohne ihre Basis, das heißt ohne Arbeit, nicht möglich. Wie gezeigt wurde, folgt die Entwicklung der gesellschaftlichen Basis bestimmten historischen Gesetzmäßigkeiten, wie der Entwicklung der Produktivkräfte und der Einheit von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen.
Da aber auch ein Fundament wenig Sinn ergibt, wenn man darüber kein Haus baut, so entspricht auch der gesellschaftlichen Basis immer ein gesellschaftlicher Überbau, der sich in mehrere Teile untergliedern lässt. Bestimmte Produktionsverhältnisse erfordern bestimmte Gesetze und bestimmte Gesetze erfordern bestimmte Staatsapparate, die über ihre Einhaltung wachen. Der Feudalismus brauchte eine Staatsgewalt, die die leibeigenen Bauern dazu zwang, auf dem Landstück zu bleiben, auf dem sie geboren waren und auf dem Feld ihrer Herren Arbeitsdienste zu leisten. Im feudalen Staat waren die Menschen vor dem Gesetz nicht gleich, sondern in verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Rechten unterteilt. Der Kapitalismus basiert auf der freien Bewegung der Arbeitskraft und auf Verträgen zwischen formal Gleichgestellten, daher schützt der bürgerliche (kapitalistische) Staat nicht mehr die Standesprivilegien, aber weiterhin das Privateigentum. Staatliche und politische Strukturen bilden den politischen Teil des Überbaus.
Aber auch die Ideen einer Epoche sind von der ökonomischen Basis abhängig. Das heißt natürlich nicht, dass in einer bestimmten Gesellschaft immer alle Menschen genau dasselbe denken. Die Menschen haben ja verschiedene Stellungen innerhalb der Gesellschaft, sie machen darauf basierend unterschiedliche Erfahrungen und kommen dementsprechend zu unterschiedlichen Auffassungen und Schlussfolgerungen. Daher unterscheiden sich tendenziell die unterschiedlichen Klassen auch nach ihren vorherrschenden Ideen. Dennoch gibt es in jeder Gesellschaft vorherrschende Ideen. Welche Gedanken es sind, die zur herrschenden Ideologie aufsteigen können, hängt ab von der vorherrschenden Produktionsweise und der Klasse, die in ihr herrscht. Im Kapitalismus ist das die bürgerliche Ideologie in ihren verschiedenen Varianten, die aber alle letztlich den Kapitalismus als die beste, oft genug sogar als die einzig mögliche Form der Gesellschaft anpreisen. Es gibt also auch einen ideologischen Teil des Überbaus. Auch die Kultur im weitesten Sinne, die Wissenschaft usw. können diesem Teil zugerechnet werden. Zum Überbau sind also einerseits politische, juristische, weltanschauliche, moralische Ideen und Vorstellungen zu rechnen, die sich auf der Grundlage der materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse herausbilden. Andererseits gehören dazu aber auch die politischen, juristischen oder kulturellen Institutionen wie z.B. Staatsapparate, Parteien und Organisationen, Kultur- und Bildungseinrichtungen.
Dass der Marxismus von Basis und Überbau der Gesellschaft spricht, heißt nicht, dass damit eine einseitige Ursache-Wirkung-Beziehung gemeint wäre. Marx, Engels und Lenin haben immer betont, dass der Überbau in vieler Hinsicht auf die Basis zurückwirkt und sogar tiefgreifende Umwälzungen der Basis auslösen kann. So beispielsweise in der sozialistischen Gesellschaft, wo Elemente des Überbaus, besonders die kommunistische Partei und die sozialistische Ideologie, eine größere Bedeutung für die Umwälzung der Verhältnisse als in vergangenen Gesellschaftsordnungen besitzen. Gemeint ist mit dem Begriff Basis nur, dass die historischen Gesetzmäßigkeiten, die die Entwicklung von Gesellschaften und den Übergang von einer Gesellschaftsform zur nächsten bestimmen, im Bereich der materiellen Produktion zu finden sind und eben nicht in den Ideen der Menschen. Auch Basis und Überbau bilden aber eine dialektische Einheit, in der sich beide Seiten gegenseitig in ihrer Entwicklung beeinflussen. Engels schreibt dazu:
„Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase. Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus – politische Formen des Klassenkampfs und seine Resultate — Verfassungen, nach gewonnener Schlacht durch die siegende Klasse festgestellt usw. — Rechtsformen, und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmensystemen, üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form. Es ist eine Wechselwirkung aller dieser Momente, worin schließlich… als Notwendiges die ökonomische Bewegung sich durchsetzt.“ (Engels: Brief an Joseph Bloch in Königsberg, MEW 37, S. 463).
3.5.5 Klassen und Klassenkampf
„Als Klassen bezeichnet man große Menschengruppen, die sich voneinander unterscheiden nach ihrem Platz in einem geschichtlich bestimmten System der gesellschaftlichen Produktion, nach ihrem (größtenteils in Gesetzen fixierten und formulierten) Verhältnis zu den Produktionsmitteln, nach ihrer Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und folglich nach der Art der Erlangung und der Größe des Anteils am gesellschaftlichen Reichtum, über den sie verfügen. Klassen sind Gruppen von Menschen, von denen die eine sich die Arbeit der andern aneignen kann infolge der Verschiedenheit ihres Platzes in einem bestimmten System der gesellschaftlichen Wirtschaft.“ (Lenin: Die große Initiative, LW 29, S. 410)
Klassen unterscheiden sich also nach ihrer Stellung innerhalb der Produktionsordnung der Gesellschaft, d.h. dem Eigentum und der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel, und erst daraus abgeleitet nach dem Anteil am gesellschaftlichen Reichtum, den sie erhalten. In allen Gesellschaften, die auf Ausbeutung beruhen, gibt es Klassen mit entgegengesetzten Interessen. Die Ausbeuterklassen streben nach der Aneignung von möglichst viel Mehrarbeit der ausgebeuteten Klassen. Dafür pressen sie die ausgebeuteten Klassen so weit aus wie möglich. In allen Klassengesellschaften gab es darum den ständigen Kampf zwischen den entgegengesetzten Klassen: den Klassenkampf. So wurde z.B. das Römische Reich von zahllosen Sklavenaufständen und mehreren großen Bürgerkriegen der Sklaven gegen ihre Sklavenhalter, wie die zwei Sklavenkriege auf Sizilien und den Aufstand des Spartacus erschüttert. Daneben gab es auch in den Städten ständige politische Auseinandersetzungen zwischen der herrschenden Klasse der Patrizier und den freien, aber eigentumslosen Plebejern.
Im Feudalismus gab es ebenfalls verschiedene Formen des Klassenkampfs, z.B. in Form der Bauernkriege und -aufstände, durch Auseinandersetzungen zwischen niederem und höherem Adel sowie zwischen Kirche und weltlichem Adel, durch den Kampf der Städte um ihre Freiheit von der feudalen Unterdrückung usw.
Im Kapitalismus schließlich spitzt sich der Klassenkampf enorm zu, weil die ganze Gesellschaft in zwei entgegengesetzte Lager polarisiert wird: Die Klasse der Kapitaleigentümer, die Bourgeoisie, auf der einen Seite und die Arbeiterklasse, die kein Privateigentum an Produktionsmitteln besitzt, auf der anderen Seite. Zwar gibt es auch hier noch Zwischenschichten wie das Kleinbürgertum, aber diese tendieren immer entweder in das eine oder das andere Lager. Die beiden Hauptklassen führen einen ständigen Kampf um die Höhe des Lohns, um die Länge des Arbeitstags, um das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung, auf Rechte am Arbeitsplatz. Aber auch auf politischer Ebene um politische Rechte wie z.B. gegen die Privilegien der herrschenden Klasse, gegen politische Repressionen, gegen die Kriege der Bourgeoisie und für das allgemeine Wahlrecht, das für die Frauen in Deutschland erst 1918 durch den Kampf der Arbeiterbewegung durchgesetzt wurde. Und schließlich findet der Klassenkampf auch auf ideologischer Ebene statt, als Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Varianten der Ideologie der Bourgeoisie und der Weltanschauung der Arbeiterklasse, dem Marxismus-Leninismus. Der Marxismus-Leninismus ist die Weltanschauung der Arbeiterklasse, auch wenn bei weitem nicht alle Arbeiter ihn unterstützen oder überhaupt kennen. Sein Klassencharakter ergibt sich daraus, dass er – und nur er – die Interessen der Arbeiterklasse konsequent zum Ausdruck bringt und für die Befreiung der Arbeiterklasse von der Ausbeutung durch das Kapital kämpft.
Allerdings bedeutet die Existenz von Klassen natürlich noch nicht, dass diese automatisch ein Zusammengehörigkeitsgefühl als Klasse, ein Verständnis über die Tatsache und die Ursachen der Ausbeutung und Bewusstsein über die Notwendigkeit der Revolution entwickelt – dieses Bewusstsein nennt man Klassenbewusstsein. Marx bezeichnete eine Klasse, die objektiv als Menschengruppe existiert, aber noch nicht notwendigerweise ein Klassenbewusstsein besitzt, als Klasse an sich. Wird sie sich über die Ursachen ihrer Unterdrückung bewusst und strebt danach, sie im Kampf zu überwinden, wird sie zur Klasse für sich (Marx: Elend der Philosophie, MEW 4, S. 181f).
3.5.6 Revolution
Der Klassenkampf wurde nicht erst durch Marx und Engels entdeckt. Schon der griechische Philosoph Platon schrieb darüber, dass sich in jeder Stadt quasi zwei Stände feindlich gegenüberstehen würden, nämlich das Lager der Reichen gegen das der Armen. Zudem müssten die Sklavenhalter die Sklaven nur deshalb nicht fürchten, weil sie die Staatsmacht auf ihrer Seite hätten. Marx und Engels entdeckten allerdings die Gesetzmäßigkeiten der verschiedenen Produktionsweisen, die den Klassenkampf notwendig hervorbringen. Und sie zeigen, dass der Klassenkampf sich nicht einfach als endloses Tauziehen innerhalb eines immer gleichen Rahmens abspielt, sondern jeweils auf eine Lösung hindrängt: Auf die Ablösung der herrschenden Produktionsweise durch eine neue. Diesen Übergang zu einer neuen Produktionsweise, die mit einer qualitativen Umgestaltung der Gesellschaft als Ganzes einhergeht, bezeichnen wir als Revolution.
Der Historische Materialismus erklärt Revolutionen also nicht, wie es teilweise die bürgerliche Geschichtsschreibung tut, als das Ergebnis der Taten großer Männer oder der Verbreitung umstürzlerischer Ideen. Natürlich können einzelne Männer und Frauen eine wichtige Rolle dabei spielen und natürlich sind Revolutionen von bestimmten Ideen geleitet. Doch diese Analyse greift viel zu kurz. Denn warum entstehen die umstürzlerischen Ideen überhaupt und wie können sie so einflussreich werden, dass sie eine ganze Gesellschaftsordnung aus den Angeln heben können? Dafür, so haben Marx und Engels argumentiert, müssen wir uns ansehen, wie bereits in der alten Gesellschaft die Bedingungen für die Entstehung einer neuen heranreifen.
Dieser revolutionäre Prozess hat zwei Seiten: Auf der einen Seite entwickeln sich die Produktivkräfte zwangsläufig bis zu einem bestimmten Punkt, wo sie mit den herrschenden Produktionsverhältnissen unvereinbar werden. Im Feudalismus war es die Entstehung der ersten Formen der Massenproduktion in den Manufakturen, die dem System den Todesstoß versetzte: Denn die Bindung der Masse der arbeitenden Menschen an das Land, das sie bearbeiteten, war mit den Erfordernissen einer Fabrikproduktion, die auf eine wachsende Stadtbevölkerung und mobile Arbeitskräfte angewiesen war, nicht mehr vereinbar. Auf der anderen Seite schafft die alte, noch vorherrschende Produktionsweise aber auch die gesellschaftlichen Kräfte, die hinter der Revolution stehen werden. Im Feudalismus war das vor allem die neu entstandene Bourgeoisie, die nach ihrer freien wirtschaftlichen Entfaltung strebte und der die verschiedenen Vorrechte des Adels und Einschränkungen des wirtschaftlichen Verkehrs (Zünfte, königliche Privilegien, Leibeigenschaft usw.) im Wege standen.
Eine Umwälzung der Produktionsweise ist eine so grundlegende Veränderung der ökonomischen Abläufe und Klassenstruktur der Gesellschaft, dass sie nicht ohne entsprechende politische Folgen bleiben kann. So war es auch bei der Entstehung des Kapitalismus: Der alte Herrschaftsapparat des Feudalismus war für den entstehenden Kapitalismus nicht mehr zeitgemäß. Das Entstehen der Industrie und mit ihr der Arbeiterbewegung, die begann für ihre Interessen zu kämpfen und sich zu organisieren, machten einen neuen Staat notwendig. Die Bourgeoisie war mit den begrenzten Freiheiten, die ihr der Feudalismus gelassen hatte, nicht mehr zufrieden, sie wollte ihren eigenen Staat mit ihrer eigenen Herrschaft. Es kam in allen entwickelten Ländern zu einem Kampf zwischen der neu aufsteigenden Bourgeoisie und dem alten Adel sowie den Königshäusern. Die Bourgeoisie hatte bereits das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben revolutioniert (umgewälzt) und eine neue Gesellschaftsstruktur geschaffen. Jetzt wurde sie auch zur treibenden Kraft politischer Revolutionen. Diese nahmen unterschiedliche Formen an – in Frankreich z.B. verlief die Revolution vergleichsweise radikal, mit der Abschaffung der Monarchie und Adelsprivilegien und der Hinrichtung des Königs. In Deutschland und England hingegen wurden die Monarchien nur eingeschränkt und die Herrschaft des Königs vom Parlament (und damit indirekt den politischen Vertretern der Bourgeoisie) abhängig gemacht. In Deutschland wurde die Monarchie durch eine erneute bürgerliche Revolution 1918 gestürzt, in England und einigen anderen Ländern blieb sie bis heute bestehen. Allen diese Revolutionen war jedoch gemein, dass sie einen bürgerlichen Charakter hatten: Es waren Umstürze, die die alte herrschende Klasse entmachteten, die Bourgeoisie zur neuen herrschenden Klasse erhoben und damit den Weg für die volle Durchsetzung der kapitalistischen Gesellschaft ebneten.
Wir haben gerade nur über ein Beispiel von Revolutionen gesprochen: Die bürgerlichen Revolutionen, die historisch gesehen dem Feudalismus ein Ende machten und dem Kapitalismus den Weg geebnet haben. Doch die bürgerlichen Revolutionen sind nicht die letzte Art von Revolution, die die Geschichte hervorgebracht hat. Die Bourgeoisie hat zwar in der Geschichte eine Zeit lang für den gesellschaftlichen Fortschritt gekämpft, weil sie für die Abschaffung der Ständeprivilegien und der Leibeigenschaft war und durch die kapitalistische Produktionsweise den Fortschritt der Produktivkräfte stark beschleunigt hat. Aber heute hat der Kapitalismus schon lange nichts Fortschrittliches mehr an sich, sondern ist im Gegenteil, wie wir noch genauer sehen werden, eine verfaulende, historisch überholte Produktionsweise. Und auch der Kapitalismus hat die gesellschaftlichen Kräfte hervorgebracht, die ihn überwinden werden: Mit der industriellen Massenproduktion kam auch die Arbeiterklasse (das Proletariat) auf die Welt. Schon früh begann die Arbeiterklasse, sich zu organisieren und für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen zu kämpfen. In diesem historischen Kontext entstand auch die neue Sicht auf die Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen – der Historische Materialismus, der Marxismus. Mit der Entstehung der industriellen Massenproduktion gewann die Wissenschaft eine viel größere Bedeutung im Wirtschaftsprozess als je zuvor. Es setzte sich langsam in allen gesellschaftlichen Bereichen eine wissenschaftliche Sichtweise durch, indem man z.B. begann, die Organismen der Tiere und Pflanzen besser zu verstehen usw. Marx und Engels konnten sich deshalb auf die Erkenntnisse der Naturwissenschaften und der bürgerlichen Philosophie stützen, um ihre dialektisch-materialistische Weltsicht zu entwickeln. Mit der Arbeiterklasse entstand gleichzeitig erstmalig eine Klasse, die aufgrund ihrer Position im System der Produktion die Voraussetzungen besaß, um die Gesetzmäßigkeiten der vorherrschenden Produktionsweise und der historischen Entwicklung allgemein richtig zu erkennen. Anders als der Feudalismus, der vielfältige Formen der Herrschaft nebeneinander bestehen ließ und in sich vereinte, treibt der Kapitalismus tendenziell zur Vereinheitlichung der Gesellschaft unter der Herrschaft des Kapitals. Wie wir im folgenden Kapitel sehen werden, stehen die Entwicklungsgesetze des Kapitalismus miteinander in einem engen inneren Zusammenhang und ergeben sich auseinander. Daher wurde es möglich, den Gesamtzusammenhang der historischen Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft theoretisch zu erfassen. Die Arbeiterklasse bildet sich als weltumspannende Klasse in einem globalen System heraus. Der Blick der Arbeiterklasse ist nicht mehr so lokal eingeschränkt wie der der bäuerlichen Landbevölkerung, sondern er richtet sich direkt auf das Kapital als die beherrschende Kraft der kapitalistischen Gesellschaft und ihren Hauptgegner im Klassenkampf. Gleichzeitig ist sie frei von jedem Eigentum an Produktionsmitteln, weshalb Marx und Engels schrieben, sie habe „nichts zu verlieren als ihre Ketten“. Marx und Engels erkannten also, dass die Arbeiterklasse die einzige wirklich revolutionäre Klasse im Kapitalismus ist und die historische Aufgabe hat, sich selbst durch den Sturz der Bourgeoisie zu befreien.
Der Historische Materialismus ist auch in der Lage, die historischen Entwicklungen, die zu seiner eigenen Entstehung führten, zu analysieren. Und seine Entstehung wurde dann wiederum selbst zu einer historisch wirksamen Macht, als die Theorie, die die Arbeiterklasse in ihrem Kampf zunehmend anleitete. Bereits 1871, infolge des deutsch-französischen Krieges, ergriff in Paris zum ersten Mal die Arbeiterklasse die Macht: Die Pariser Kommune, die Marx und Engels als erstes Beispiel für die Diktatur des Proletariats, den Staat der Arbeiterklasse sahen, hielt sich nur 72 Tage, bevor sie mit brutaler Gewalt von ihren Feinden vernichtet wurde. Aber schon die nächste proletarische Revolution würde im Jahr 1917 das kapitalistische Eigentum und den dazugehörigen Herrschaftsapparat in Russland erfolgreich hinwegfegen und zum ersten Mal in der Geschichte eine sozialistische Gesellschaft aufbauen. Mit der sozialistischen Revolution werden wir uns in Kapitel 6 ausführlicher beschäftigen.
Arbeitsfrage:
- Was ist mit den Begriffen Produktionsmittel, Produktivkräfte, Produktionsverhältnisse und Produktionsweise gemeint? Was bedeuten die Begriffe Ausbeutung und Klassenkampf?
Diskussionsfragen:
- Kann in der Geschichte trotz der aktiven und bewussten Rolle des Menschen in ähnlicher Weise von objektiven Gesetzmäßigkeiten gesprochen werden wie in der Naturwissenschaft?
- Was unterscheidet einen marxistischen von einem bürgerlichen Fortschrittsbegriff? Diskutiert anhand des folgenden Zitates: “Erst wenn eine große soziale Revolution die Ergebnisse der bürgerlichen Epoche, den Weltmarkt und die modernen Produktivkräfte, gemeistert und sie der gemeinsamen Kontrolle der am weitesten fortgeschrittenen Völker unterworfen hat, erst dann wird der menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen heidnischen Götzen gleichen, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte.” (Marx: Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien. MEW, Band 9, S. 226).
- Die Entstehung der Arbeiterklasse ging mit einer neuen Phase des Klassenkampfes einher. Ist es weiterhin richtig, wie Marx und Engels damals zu sagen, sie habe “nichts zu verlieren, als ihre Ketten“?
- Diskutiert den Begriff der Revolution anhand eines historischen Beispiels.