Imperialismus, „multipolare Weltordnung“ und nationale Befreiung

Von Thanasis Spanidis

Die Stellungnahme der KO zum Truppenabzug der USA aus Afghanistan („Ein Schritt in Richtung Befreiung Afghanistans“) hat Anlass zu diversen Diskussionen gegeben. Ich halte es für hilfreich, bestimmte kritische Punkte, die in dem Text angerissen werden, anzusprechen und in die Diskussion einzubringen. Dabei soll es nicht darum gehen, in den Text etwas hineinzulesen, was nicht darin steht, sondern vielmehr verschiedene Aspekte, die darin aufgeworfen aber nicht ausgeführt werden, überhaupt erst expliziter zum Thema zu machen. Im Zuge dessen wird sich leichter feststellen lassen, ob und wie weitgehend es dazu einen Dissens innerhalb der KO und ggf. mit anderen Organisationen gibt. An der Stellungnahme selbst will ich mich dabei nicht abarbeiten, sie soll eher einen „Aufhänger“ darstellen, um diese Fragen allgemeiner zu diskutieren.

1a. Nationale Befreiung und Etappentheorie

Meines Erachtens besteht ein Mangel der Stellungnahme darin, dass sie einen uneindeutigen Begriff von „nationaler Befreiung“ verwendet. Im Titel ist die Rede von der Vertreibung der Besatzer als einem „ersten Schritt“ in Richtung Befreiung. Im Text selbst wird ihr Abzug bereits als „nationale Befreiung“ und „der erste, notwendige Schritt in Richtung einer möglichen Zukunft, in der das Volk seinen eigenen Weg geht“ bezeichnet. Diese Ungenauigkeit ist aber kein Zufall – vielmehr drückt sie aus, dass die Frage, was genau eigentlich „nationale Befreiung“ bedeutet, mehrere mögliche Antworten zulässt – und dass diese Antworten wiederum Implikationen für eine kommunistische Strategie und Taktik haben können. Mit „nationaler Befreiung“ kann entweder einfach die Vertreibung einer Fremdherrschaft, also von Besatzern oder Kolonisatoren gemeint sein – also eine nationale Befreiung im weiteren Sinne. Im engeren Sinne kann damit aber auch die Erringung einer umfassenderen Unabhängigkeit, also z.B. auch ökonomischer Selbstständigkeit und Befreiung von starker politischer Einflussnahme gemeint sein. Für beide Verwendungen des Begriffs ließen sich Beispiele finden. 

Das Konzept der „Abhängigkeit“ in den Dependenztheorien

Aber welches Problem steht eigentlich hinter der Frage der nationalen Befreiung?

Es ist unbestritten, dass der Imperialismus als Weltsystem verschiedene Formen und Grade der Abhängigkeit zwischen Ländern, Staaten, aber auch Regionen produziert und diese sich ständig entwickeln, also verändern. Vor allem in Lateinamerika wurde in der Vergangenheit versucht, diese Abhängigkeitsbeziehungen theoretisch zu erklären mithilfe der sogenannten „Dependenztheorien“. Einige dieser Theorien waren klar bürgerlich, andere vertraten einen marxistischen Anspruch und verstanden sich als eine Ergänzung zur Leninschen Imperialismustheorie. Sie haben sicherlich dazu beigetragen, die Verhältnisse, in denen Abhängigkeiten entstehen und aufrechterhalten werden, genauer zu verstehen. Allerdings kranken alle diese Theorien an dem Problem, Abhängigkeit rein einseitig verstanden zu haben. Sie verstanden das Problem der Abhängigkeit als eine Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen entwickelten/unterdrückenden und abhängigen/unterdrückten Ländern. Die Dependenztheorien sind in den akademischen Diskussionen heute nur noch wenig präsent, auch als Ergebnis einer generellen Vorherrschaft liberaler und konservativer Positionen an den Universitäten. In der Linken, auch in der kommunistischen Bewegung (insbesondere z.B. im Maoismus[1], aber auch in anderen Strömungen der Bewegung), sind sie allerdings weiterhin einflussreich. Aus folgenden Gründen ist ihre Sichtweise jedoch problematisch:

  1. Weil sie die widersprüchlichen Beziehungen zwischen Staaten des „Zentrums“, die eben auch von (wechselseitigen) Abhängigkeiten geprägt sind, als entscheidendes Element des imperialistischen Weltsystems außer Acht lässt bzw. in ihrer Bedeutung unterschätzt.
  2. Weil sie eine scharfe Einteilung der Welt in entwickelte und abhängige Länder vornimmt und dabei die zahlreichen Abstufungen dazwischen ignoriert.
  3. Weil sie den Aspekt der Abhängigkeit, der als wesentlicher Grund für die Aufrechterhaltung der Unterentwicklung gesehen wird, verabsolutiert, und dadurch unterschätzt, wie sehr das imperialistische Weltsystem ständigen Verschiebungen und Auf- und Abstiegsprozessen unterliegt. Dass selbst ehemalige Kolonien zu bedeutenden Wirtschafts- und Militärmächten aufsteigen können, lässt sich mit diesen Theorien nur schwer erklären.
  4. Weil sie die Bourgeoisien der „abhängigen“ Länder als eigene Klassenkräfte mit eigenen kapitalistischen/imperialistischen Ambitionen unterschätzt und damit politisch aus der Schusslinie nimmt. Die Dependenztheorien haben damit eine klassenneutrale Tendenz, weil sie letzten Endes die beherrschten Klassen der „abhängigen“ Länder gemeinsam mit der Bourgeoisie dieser Länder unter den Begriff „Abhängigkeit“ fassen. In Lateinamerika äußert sich das beispielsweise bis heute oft darin, dass sozialistische Kräfte faktisch „den Imperialismus“ mit den USA gleichsetzten und die einheimische Bourgeoisie nicht als Gegner erkennen oder sogar, vor allem wenn sie eine größere Unabhängigkeit von den USA anstrebt, als Verbündeten begreifen. In relativ entwickelten kapitalistischen Ländern wie Brasilien, Argentinien, Mexiko oder Chile wurden und werden „linke“ bürgerliche Regierungen (Kirchner in Argentinien, Lula/Rousseff in Brasilien, Bachelet in Chile, López Obrador in Mexiko) als Teil einer „fortschrittlichen“ oder gar antiimperialistischen Tendenz verstanden.

Imperialismus als System wechselseitiger, hierarchischer Abhängigkeiten

Plausibler ist dagegen eine Konzeption des Imperialismus, die diesen als ein System wechselseitiger, aber hierarchischer Abhängigkeitsbeziehungen versteht, also als eine Art „Pyramide“ mit einer Spitze und einer nach unten breiter werdenden Basis[2]. Weil der Kapitalismus sich weltweit ungleichmäßig entwickelt und insbesondere durch Krisen die Hierarchie zwischen den Staaten sich ständig verändert, sollte das Bild der „Pyramide“ dabei natürlich nicht statisch verstanden werden. Wichtig ist an dieser Konzeption allerdings, dass sie:

  1. Den Imperialismus als ein Weltsystem versteht, das auch die weniger entwickelten, selbst die ärmsten und/oder völlig abhängigen Länder mit einbezieht. Imperialismus ist damit also keine bloße „Eigenschaft“, die nur einer Handvoll Länder zukommt, sondern ein Gesamtsystem.
  2. Die Wechselseitigkeit der Abhängigkeiten mit einbezieht, woraus folgt, dass die Dominanz eines Landes nie absolut ist und auch ständig infrage gestellt werden kann. 

Das bedeutet wiederum nicht, dass der hierarchische Charakter dieser gegenseitigen Abhängigkeiten vergessen werden sollte. „Man ist gut beraten, Analysen zu vermeiden, die zwar die Charakteristika des Imperialismus als ein die ganze Welt durchdringendes System und die von jedem Land in einer bestimmten Phase des Kapitalismus übernommenen imperialistischen Rollen betonen, aber die imperialistische Hierarchie selbst trivialisieren.“, schreibt die Kommunistische Partei der Türkei dazu[3]. Sicherlich besteht zwischen den USA und Mexiko ein Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit, trotzdem sind die USA der sehr viel stärkere Pol in dieser Beziehung und es ist schwer vorstellbar, dass dieses Verhältnis sich in einem überschaubaren Zeitraum umkehren könnte. Über Abhängigkeit müssen wir also weiterhin sprechen.

Abhängigkeiten können sich auf verschiedene Weise ausdrücken: Als ökonomische Abhängigkeiten, bei denen z.B. ein schwächeres Land von einem stärkeren abhängig ist, indem es aus diesem viele verarbeitete und hochtechnologische Güter kauft und/oder das Kapital des stärkeren Landes erhebliche Teile der Produktion, der Infrastruktur, des Handels oder des Finanzsystems kontrolliert. Es gibt aber auch politische und militärische Abhängigkeit, bei denen ein Land im Extremfall direkt einer Besatzung oder gar Kolonialherrschaft unterworfen ist oder z.B., indem eine Regierung stark von ausländischen Geheimdiensten dirigiert wird o.ä. Das Problem hierbei ist, dass diese beiden Formen der Abhängigkeit sich zwar einerseits deutlich unterscheiden und nach sehr unterschiedlichen politischen Antworten verlangen, andrerseits aber auch nicht immer scharf voneinander abgrenzbar sind. Denn die Grundlage einer politischen Abhängigkeit ist in der Regel eine ökonomische: Damit ein imperialistisches Land so viel Einfluss irgendwo gewinnen kann, muss die Grundlage der Bourgeoisie dieses Landes für eine eigene Kapitalakkumulation sehr schwach sein und/oder diese Kapitalakkumulation sehr eng mit den Interessen des dominierenden Landes verbunden sein. Zudem gibt es prinzipiell unendlich viele Grade und Formen der politischen Abhängigkeit. So war Griechenland in der Krise sicherlich keine „Kolonie“ oder ein „besetztes Land“, wie es Opportunisten verschiedener Spielart behaupteten. Dennoch war die Anwesenheit der Troika im Land, die über den Kredithebel direkten Einfluss auf die Entscheidungen der Regierung nehmen konnte, sicherlich eine Form der politischen und ökonomischen Abhängigkeit – allerdings auch nur deshalb, weil die griechische Bourgeoisie dem mehrheitlich zustimmte, da die Senkung der Lohnkosten, Angriffe auf die Gewerkschaften und sowieso der Verbleib Griechenlands in der EU und Eurozone ihren Interessen entsprach. 

Wie umgehen mit dem Problem nationaler Abhängigkeit?

Nun verlangt aber eine politische Abhängigkeit unter Umständen nach einer ganz anderen praktischen Antwort als eine ökonomische Abhängigkeit. In einem von imperialistischen Mächten besetzten Land ist es richtig, gegen die Besatzung zu kämpfen, für eine politische und militärische nationale Befreiung. Im Zweiten Weltkrieg war es in den besetzten Ländern richtig, den antifaschistischen Kampf auch als einen nationalen Befreiungskampf zu führen. Und das nicht nur, weil ein souveräner Nationalstaat sicherlich das „geringere Übel“ gegenüber einem Besatzungsregime ist und eher die Entfaltung des Klassenkampfes erlaubt, sondern auch, weil der Kampf gegen die Besatzung in dem Land in der Regel das beherrschende politische Thema und die zentrale Konfliktlinie ist, zu der die Kommunisten sich unbedingt aktiv verhalten müssen. Aus diesem Grund ist es auch unzulässig, in einem von imperialistischer Aggression bedrohten Land seine Politik allein gegen das örtliche Regime zu richten und dadurch ggf. den imperialistischen Aggressoren einen Dienst zu leisten, so wie es Teile der iranischen „Linken“ tun. 

Doch was ist, wenn die Besatzung eines Tages endet? Die ökonomische und meist auch die politische Abhängigkeit des Landes wird dadurch in der Regel nicht beseitigt. Aus Sicht der imperialistischen Besatzer wird vermutlich auch die Kalkulation entscheidend gewesen sein, dass man mit „informellen“ Formen der Beherrschung das Land kostengünstiger unter Kontrolle halten kann als mit unmittelbarer Besatzung – so lief es bekanntlich oft im Prozess der Dekolonisierung, denn bei weitem nicht alle ehemaligen Kolonien haben ihre Unabhängigkeit durch einen bewaffneten Aufstand erkämpft. 

Welches Verhältnis nehmen die Kommunisten dann zu diesen anderen, indirekteren Formen der Abhängigkeit und zur Frage der nationalen Befreiung ein? Sicherlich ist es richtig, die Abhängigkeit in einer gewissen Form weiterhin zu problematisieren. Ist es aber richtig, die Herstellung der nationalen Souveränität zur Parole zu machen, wie es unter der Besatzung oder Kolonialherrschaft evtl. richtig war? Nein, denn eine solche Parole führt die kämpfende Arbeiterklasse des Landes in die Irre: Ihr Kampf wird um bessere Lebensbedingungen und letztendlich um die Erringung der Arbeitermacht geführt, die dann selbstverständlich versuchen wird, die verschiedenen Formen nationaler Abhängigkeit zu überwinden. Ihr Ziel kann aber nicht eine vergrößerte „ökonomische Souveränität“ im Sinne einer stärkeren Verhandlungsposition ihrer eigenen Bourgeoisie sein. Denn die Interessen der Bourgeoisie und des Proletariats bleiben auch in unterentwickelten Ländern unversöhnlich, zumal gerade in diesen Ländern die Erhöhung der Profite durch Niedriglöhne eine entscheidende Bedeutung in der Entwicklungsstrategie der Bourgeoisie hat – und das sogar viel stärker als in den reichen imperialistischen Ländern, deren globale ökonomische Dominanz weniger auf niedrigen Löhnen als auf technologischer Vorherrschaft, stabiler bürgerlicher Herrschaft, Infrastruktur, gut ausgebildeten Arbeitskräften usw. beruht. Orientiert die Arbeiterklasse bzw. ihre Partei sich nun darauf, die kapitalistische Entwicklung des Landes voranzubringen, gibt sie damit den Kampf um die Macht, also um den Sozialismus zwangsläufig auf. Dies ist damit gemeint, wenn beispielsweise die KKE betont, dass der Imperialismus als Weltsystem auch nach einer im Kern einheitlichen Strategie der Kommunisten aller Länder verlangt. Damit stellt sich die KKE zu recht gegen die verbreitete Position, dass jedes Land seine für sich angepasste Strategie brauche und deshalb auch jede KP diese für sich entwickeln müsse, ohne dass jemand anderes berechtigt wäre, sie dafür zu kritisieren. 

Die Folgen einer falschen Behandlung der nationalen Frage lassen sich vielerorts beobachten, beispielhaft seien die PCF (Französische KP) und die PCP (Portugiesische KP) herausgegriffen. Die PCF betonte in den Nachkriegsjahrzehnten schon früh sehr stark die Unabhängigkeit Frankreichs als strategisches Ziel, zu einem Zeitpunkt, wo Frankreich nicht nur nicht besetzt war, sondern selbst als Kolonialmacht blutige Unterwerfungsfeldzüge in Algerien und Indochina führte. Diese falsche Auffassung der nationalen Frage führte sie auch dazu, die Notwendigkeit einer einheitlichen revolutionären Strategie der kommunistischen Weltbewegung als eine der ersten infrage zu stellen. Sie war der „Türöffner“ für den „Eurokommunismus“, der letzten Endes die PCF von einer Arbeiterpartei in eine bürgerliche Partei verwandelte. 

In Portugal vermied die PCP es unter ihrer damaligen Führung, sich der „eurokommunistischen“ Tendenz anzuschließen. Im 21. Jahrhundert wurde jedoch deutlich, dass auch die PCP ein fragwürdiges Verständnis der nationalen Frage propagiert, was auch zum Gegenstand verschiedener Konflikte in der kommunistischen Weltbewegung geworden ist. So analysiert die PCP in ihrem Programm, dass die Politik der bisherigen Regierungen Portugal in einen „abhängigen peripheren Marionettenstaat“ verwandle, „dessen Politik – zunehmend im Gegensatz zu den Interessen Portugals und seines Volkes – von supranationalen Organen entschieden werden, die im Wesentlichen vom transnationalen Kapital und einem Direktorat der mächtigsten und reichsten Staaten“ gelenkt werden[4]. Bei den EU-Wahlen 2019 gab sie einen gemeinsamen Appell mit „kommunistischen, progressiven, antikapitalistischen, antineoliberalen, linken und ökologischen Kräften“ heraus, die vermeintlich diesem Ziel der „nationalen Befreiung von der EU“ dienten, darunter auch klar sozialdemokratische Kräfte wie die deutsche Linkspartei, die Izquierda Unida aus Spanien, die „Rifondazione Comunista“ aus Italien usw. Auch hier hat eine fragwürdige Behandlung der nationalen Frage letztlich zur Legitimation einer fragwürdigen politischen Strategie und Taktik beigetragen.

Wie verhält es sich aber nun genau in Ländern unter direkter imperialistischer Besatzung oder Kolonialherrschaft, wie beispielsweise Palästina oder bis vor Kurzem Afghanistan? Grundsätzlich anders oder nicht? Ich denke, beides. 

Grundsätzlich anders ist die Situation dadurch, dass der Feind unmittelbar im Land steht, Städte, Dörfer und Infrastruktur zerstört, die Zivilbevölkerung abschlachtet und jede Entwicklung verunmöglicht. Deshalb ist der Kampf gegen diesen Feind und auch eine entsprechende Bündnistaktik eine vorrangige Aufgabe der Kommunisten. Besonders in islamisch geprägten Ländern bereitet dieser Punkt vielen Linken in Deutschland Schwierigkeiten, weil sie auch begrenzte Übereinkünfte und Aktionseinheiten mit ideologisch „reaktionären“ Gruppen (z.B. der Hamas) per se ablehnen. Dies geht aber an den Gesetzmäßigkeiten und Erfordernissen eines Krieges vorbei, denn ein Krieg verläuft nicht in denselben Bewegungsformen wie ein „friedlicher“ politischer Kampf. In einem Krieg sind Formen der Diplomatie oder Übereinkünfte auch mit ideologischen Gegnern, manchmal sogar mit der verfeindeten Kriegspartei, oft genug unvermeidlich.

Grundsätzlich gleich ist die Situation allerdings insofern, als auch in einem besetzten Land das Ziel des Kampfes nicht ein „freier“ bürgerlicher Staat sein kann. Auch hier ist es notwendig, dass die Kommunisten den Sozialismus, die Befreiung der Arbeiterklasse auf die Tagesordnung setzen. Das ist eine strategische, keine taktische Frage, oder mit anderen Worten: Es geht nicht darum, dass jede Parole und jedes Plakat den Begriff Sozialismus enthalten muss. Es geht darum, dass dieses Ziel für die KP das oberste handlungsleitende Ziel ist. Die Befreiung des eigenen Territoriums von fremder Besatzung, die Mobilisierung des legitimen Patriotismus der Bevölkerung dienen der Vorbereitung der Machtübernahme. Der antifaschistische Befreiungskampf während des Zweiten Weltkrieges beging in vielen Ländern in genau dieser Frage verheerende Fehler: Der Sozialismus wurde von den Kommunisten, die im antifaschistischen Kampf eine führende Rolle spielten, nur noch als Fernziel und faktisch oft eher als Identität der Partei weiter hochgehalten, während das eigentliche Ziel nun die Vertreibung des Faschismus (teilweise auch der reaktionären Kräfte allgemein, z.B. in Griechenland der Monarchie) und die nationale Souveränität in einer bürgerlich-demokratischen, bestenfalls „volksdemokratischen“ Republik war. Dieser Fehler wog umso schwerer, als gerade durch den Krieg in einigen Ländern eine revolutionäre Situation heranreifte, die von den örtlichen KPen – die ohne die zu diesem Zeitpunkt aufgelöste Komintern ohnehin weitgehend auf sich selbst gestellt waren – jedoch nicht ausgenutzt wurde: Besonders Italien und Griechenland sind hier zu nennen. Um jedes Missverständnis zu vermeiden, noch mal ganz deutlich: Falsch war es nicht, gegen den Faschismus als taktischen Hauptfeind, für die nationale Befreiung, für die Verteidigung der Sowjetunion zu kämpfen und sich auf den Standpunkt des Patriotismus zu stellen. Falsch war es, diesen Kampf nicht dem strategischen Ziel des Sozialismus unterzuordnen und für dieses nutzbar zu machen. Und diesen Fehler sollte man auch heute, wo es in der Regel nicht um einen Kampf gegen den Faschismus im engeren Sinne, sondern gegen imperialistische Besatzung oder Siedlerkolonialismus (in Palästina) geht, nicht wiederholen. 

Was bedeutet das nun konkret für den Kampf gegen die Besatzer in Afghanistan, Palästina, Irak oder gegen die Interventen in Syrien etc.? Erstens, es ist richtig, diesen Kampf zu führen. Zweitens, die Bedingungen vor Ort entscheiden darüber, wo es richtig und wo es falsch ist, mit Kräften zu kooperieren, die zwar gegen denselben Feind kämpfen, aber grundsätzlich andere Ziele verfolgen. Drittens, diese Kräfte bleiben auf strategischer Ebene weiterhin Gegner – und zwar egal, ob es sich um islamisch-konservative Kräfte oder um „progressiv“-sozialdemokratische handelt – und müssen letztendlich politisch neutralisiert werden, um den Kampf um die Macht führen zu können. Daraus ergibt sich m.E., dass wir gut beraten sind, uns mit überschwänglicher Rhetorik, die z.B. die Vertreibung der US-Truppen durch die Taliban als „objektiv[en] Sieg für das gesamte afghanische Volk“ bezeichnet und gar mit dem Sieg der antiimperialistischen und kommunistischen Kräfte in Saigon vergleicht, zurückzuhalten. Denn das wird der differenzierten und durchaus komplizierteren Konstellation nicht gerecht und weckt leicht die falschen Assoziationen. 

1b. „Unterdrückte“ und „unterdrückende“ Nationen

Mit dem vorangegangenen Thema hängt auch die oft implizit mitschwingende Frage zusammen, ob es heute weiterhin richtig ist, die Welt in „unterdrückende und unterdrückte Nationen“ zu unterteilen. Eine solche Unterscheidung findet sich bei Lenin (z.B. „Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“, Lenin Werke 22, S. 144-159). Dass Lenin diese Begriffe benutzte, sollte allerdings alleine kein Grund sein, daran festzuhalten. Ist es also sinnvoll, an dieser Unterscheidung festzuhalten? 

In einem gewissen Sinne sollte klar sein, dass es natürlich weiterhin ganze Völker gibt, die summarisch einer brutalen, barbarischen Unterdrückung unterworfen werden: Die Palästinenser, die Sahrawis, die indigene Bevölkerung in vielen Ländern Lateinamerikas, die Adivasi in Indien usw. Aber auch die Iraker oder Afghanen, deren Länder von den USA und ihren Verbündeten seit Jahrzehnten mit Krieg und Zerstörung überzogen werden. Sicherlich ist es nicht falsch, hier den Begriff „unterdrückte Völker“ anzuwenden. 

Wie weit taugt aber diese Unterscheidung zur Analyse des Imperialismus insgesamt? Ich denke, nicht sehr viel, und das aus ähnlichen Gründen wie denen, die gegen die Dependenztheorie sprechen. In den meisten Ländern der Welt ist keineswegs die gesamte Nation unterdrückt, sondern lediglich die Arbeiterklasse und andere arme Klassen und Schichten, z.B. Kleinbauern oder ein „Lumpen-Kleinbürgertum“ (z.B. Straßenhändler etc.). Die Bourgeoisie der „abhängigen“ Länder ist in der Regel nicht unterdrückt, sondern nimmt in der internationalen Arbeitsteilung lediglich eine untergeordnete bzw. Zwischenstellung ein. Auch sie ist aber eine Ausbeuterklasse, hat parasitären Charakter und häuft teilweise enorme Reichtümer auf Kosten der im Elend lebenden Arbeiter und Bauern an. Einige dieser Kapitalisten schafften es immer wieder in die Liste der absolut reichsten Individuen der Erde: Lakshmi Mittal, Kushal Pal Singh und Mukesh Ambani aus Indien, Carlos Slim aus Mexiko, Zhong Shanshan, Jack Ma oder Zhang Yiming aus China, das sich ja auch immer noch als „Entwicklungsland“ darstellt usw. Es ist sehr irreführend, die Bevölkerung dieser Länder kollektiv als unterdrückte Nation zu bezeichnen, auch wenn es unbestreitbar ist, dass große Teile der Massen bspw. in Indien oder Mexiko nach wie vor in absolutem Elend leben müssen. 

Umgekehrt gilt aber auch: Dass die Mehrheit des Volkes bzw. der Nation unterdrückt wird, gilt ebenfalls für alle Länder, auch die führenden imperialistischen Mächte. Die strategischen Aufgaben der Arbeiterklasse sind in Mexiko nicht prinzipiell anders als in Deutschland. In beiden Ländern besteht die Herausforderung darin, unter der Führung einer KP ein gesellschaftliches Bündnis aufzubauen, um die Macht zu übernehmen.

All das bedeutet keineswegs, dass es keine Unterschiede zwischen Mexiko und Indien einerseits und den USA oder Deutschland andrerseits gäbe oder dass diese irrelevant seien. Es bedeutet nur, dass diese Unterschiede mit dem Konzept der gegenseitigen asymmetrischen/hierarchischen Abhängigkeiten sehr viel besser zu erfassen sind als mit einer starren Unterteilung in „unterdrückte“ und „unterdrückende“ Nationen. Auch die Zwischenstufen zwischen der Spitze und dem „Bodensatz“ der Pyramide – zu denen die allermeisten Länder gehören – lassen sich mit dieser Unterteilung nicht befriedigend erfassen: Mexiko, Indien, die Türkei, Iran usw. gehören weder zu den reichsten Staaten der Welt noch sind sie mit Ländern wie Haiti, Malawi, Jemen oder DR Kongo zu vergleichen. 

Damit soll nicht gesagt sein, dass jeder, der diese Unterteilung weiterhin verwenden will, dies in opportunistischer Absicht tut oder opportunistische Schlussfolgerungen daraus zieht. Das ist sicherlich nicht der Fall. Allerdings legt diese Terminologie solche Schlussfolgerungen nahe und ist analytisch wenig zielführend.

2. Multipolare Weltordnung 

Im Zusammenhang mit der Stellungnahme zu Afghanistan hat sich ein weiterer Diskussionspunkt herauskristallisiert, nämlich die Frage, wie die Entwicklung des imperialistischen Weltsystems hin zu einer neuen Multipolarität in diesem Kontext einzuschätzen ist. Denn so richtig es ist, dass das Ende der Besatzung die Voraussetzung für Fortschritt jeglicher Art ist, so offen bleibt die Frage, welche Verschiebungen im imperialistischen Weltsystem daraus folgen werden. Es scheint sich abzuzeichnen, dass der Abzug der US- und NATO-Truppen aus Afghanistan in der Tat auch in dem Sinne eine strategische Niederlage der westlichen Imperialisten ist, dass ihre Position in Zentralasien damit auf Dauer geschwächt sein dürfte. Afghanistan hatte historisch eine strategische Bedeutung für die USA (so wie früher schon für den britischen Imperialismus) als Verbindungsglied zwischen China, Indien/Pakistan und Persien bzw. Iran. Heute ist dabei insbesondere von Bedeutung, dass Afghanistan mit China und Iran an zwei der strategischen Feinde der USA grenzt und zudem im weiteren Sinne zur Südflanke des dritten Feindes, nämlich Russland, zählt. Russland und China (ökonomisch sticht China dabei heraus) übernehmen inzwischen den Platz der USA als vorherrschende imperialistische Mächte in der zentralasiatischen Region, nachdem die USA, deren Vorherrschaft ebenfalls nie absolut und gesichert war, in den 2000er Jahren eine Reihe von Rückschlägen erlitten haben und das ökonomische, politische und militärische Potenzial Russlands und Chinas seitdem erheblich gewachsen ist. 

Für das afghanische Volk ist es unabhängig davon erfreulich, dass die Besatzung endet, denn eine imperialistische Politik mit diplomatischen und ökonomischen Mitteln ist für die Bevölkerung natürlich nicht dasselbe wie Krieg und Besatzung. Aber was diese Entwicklung für den Rest der Welt bedeutet, scheint noch nicht entschieden zu sein. Auch die Frage, inwieweit der Sieg der Taliban auch durch ausländische, teilweise imperialistische Akteure vorangetrieben und bedingt war, inwiefern also hier nicht einfach das afghanische Volk, sondern auch fremde Interessen (z.B. die Pakistans, das wiederum faktisch mit China verbündet ist) sich durchsetzen konnten, müsste geklärt werden. Wenn dem aber so ist und das afghanische Volk als solches gar nicht das Subjekt in diesem Krieg war (jedenfalls nicht als autonomes, für seine eigenen Interessen organisiert kämpfendes Subjekt), dann ist es zumindest irreführend, von einem „Sieg für das gesamte afghanische Volk“ zu sprechen.

Zunehmende Weltkriegsgefahr

Möglicherweise bietet eine „multipolare Weltordnung“ zwar neue taktische Spielräume, die von revolutionären Bewegungen und Regierungen mit dem Ziel des Aufbaus des Sozialismus genutzt werden könnten. So dürfte z.B. die zumindest teilweise Erhaltung der territorialen Integrität und Souveränität Syriens für das syrische Volk die bei weitem bessere Option sein im Vergleich zu einem Versinken des Landes in jahrzehntelangen Bürgerkriegen und ethnischen und religiösen Konflikten, wie sie die USA gezielt geschürt haben. 

Eine solche Weltordnung ist aber gleichzeitig unter imperialistischen Bedingungen auch weitaus gefährlicher, was die Gefahr einer globalen Konfrontation mit enormem Vernichtungspotenzial angeht und füttert zudem in gewaltigem Ausmaß im Volk und in der kommunistischen Bewegung Illusionen in sehr problematische Irrwege – v.a. die Vorstellung, wonach die Parteinahme für ein konkurrierendes imperialistisches Zentrum in einem globalen Konflikt eine positive Perspektive für die Arbeiterklasse bieten könnte. Solchen Irrwegen, die insbesondere durch den in den letzten Jahren massiv verstärkte unkritische China-Verehrung innerhalb des opportunistischen Flügels der kommunistischen Bewegung Aufwind erhalten, müssen wir deutlich entgegentreten und dürfen ihnen nicht durch uneindeutige Formulierungen oder indem man diese Frage auslässt, Vorschub leisten. 

Unabhängig davon, ob es für das afghanische Volk ein Fortschritt ist, wenn die Besatzungstruppen verschwinden, sollten wir also in einer umfassenderen Perspektive auch berücksichtigen, welche allgemeinen Entwicklungstendenzen sich in der Niederlage der USA ausdrücken. Afghanistan ist jetzt keine US-Marionette mehr und sicherlich politisch unabhängiger als zuvor, allerdings werden Pakistan und China nun vermutlich mehr zu sagen haben. Die USA hingegen haben ihre Stellung als Folge ihrer militärischen Niederlage sicherlich auch bewusst kalkulierend aufgegeben, um die entsprechenden Ressourcen strategisch rationaler in die Mobilisierung gegen China zu investieren. Ganz grob heißt das: Weniger Geld für Bodentruppen, Infanterievehikel und Luftangriffe in Afghanistan – mehr Geld für Fregatten, U-Boote und Kampfflugzeuge der neuesten Generation, um einen zukünftigen Krieg um Taiwan oder das Südchinesische Meer zu führen. Man kann also gewissermaßen die Frage stellen, ob die Option einer relativen Befriedung Afghanistans nicht vielleicht durch einen weiteren Anstieg der Weltkriegsgefahr zwischen der NATO, China und Russland erkauft wurde.Die zwischenimperialistische Konfrontation zwischen der NATO, d.h. vor allem den USA und China wird zunehmend zur entscheidenden Konfliktlinie im imperialistischen System. China holt dabei auch militärisch rasant auf, unter anderem weil die USA einen gewaltigen Teil ihres enormen Militärhaushalts in den letzten zwei Jahrzehnten in zwei Kriege gesteckt haben, deren globalpolitischer Nutzen zumindest fragwürdig ist. Die Differenz zwischen dem US-amerikanischen und dem chinesischen Militärhaushalt liegt inzwischen ausschließlich an diesen Kriegen – zieht man sie ab, liegen beide Mächte ungefähr gleichauf. Was bedeutet das? Die VR China konzentriert ihre Ressourcen darauf, ihre Armee, insbesondere ihre Seestreitkräfte zu denen einer Weltmacht auf Augenhöhe mit den USA aufzubauen, während die USA riesige Summen in Kriege „verschwenden“, die unter ganz anderen weltpolitischen Bedingungen beschlossen und begonnen wurden. Der US-amerikanische Vier-Sterne-Admiral James Stavridis hat das so kommentiert: „China gibt sein Geld sehr klug aus. Es konzentriert sich extrem – nicht nur auf offensive Cyberwaffen, sondern auch auf seine Operationen im Weltraum, seine Hyperschall-Marschflugkörper und seine Tarnkappentechnologien. China hat zugesehen, wie die Vereinigten Staaten Billionen von Dollar ausgaben, sich in zwei teure Kriege im Irak und in Afghanistan verstrickten, und sagte: „Wir brauchen das alles nicht. Wir werden uns nicht an solchen Kriegen beteiligen. Wir werden unsere Ausgaben sehr intelligent einsetzen.[5]. Wir sollten uns vermutlich nicht darüber freuen, wenn die USA nun beginnen, zunehmend ihre Ausgaben ebenfalls „intelligenter“, d.h. mehr an den Schwerpunkt ihrer globalen Strategie angepasst einzusetzen. 

Eine „multipolare“ imperialistische Weltordnung ist nicht per se „fortschrittlicher“ oder „besser“ für die Arbeiterklasse als eine „unipolare“ es ist. Die TKP hält dazu fest: „Aus den Positionen in der imperialistischen Hierarchie lassen sich keine direkten Rückschlüsse auf die historischen Rollen der Länder ableiten. Die Tatsache, dass die Länder, die nicht an der Spitze der Hierarchie stehen, begrenzte Auswirkungen auf das System im Allgemeinen haben, macht ihre internationalen Aktionen nicht fortschrittlich“; und: „Die Existenz bestimmter Länder, die die imperialistische Hierarchie herausfordern und Störungen im System erzeugen, führt nicht in allen Fällen zu günstigen Konsequenzen für den Kampf der Arbeiterklasse. Der kapitalistische Charakter dieser Länder, die im Rahmen des Systems handeln, sollte niemals vergessen werden.“[6].

Da allerdings solche Illusionen in der kommunistischen Weltbewegung verbreitet sind, ist es wichtig, jederzeit diese Differenzierung vorzunehmen und entsprechende Missverständnisse (auch präventiv) auszuräumen. Auch die Gefährlichkeit der neuen „multipolaren“ Konstellation sollte man als Teil seiner Analyse benennen und sich entsprechend vorsichtig dazu positionieren, statt wegen des Truppenabzugs die (rhetorischen) Sektkorken knallen zu lassen. 


[1] Maoistische Kräfte wie z.B. die Naxaliten in Indien charakterisieren selbst ein starkes kapitalistisches Land wie Indien als vollkommen vom Imperialismus abhängig.

[2] Eine Metapher, die von der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) in verschiedenen Publikationen verwendet wird.

[3] TKP 2017: Thesen zum Imperialismus entlang der Achse von Russland und China, These 18.

[4] PCP Programme and Constitution, S. 11.

[5] „We need to avoid stumbling into a major war”, Interview von Bernhard Zand mit James Stavridis, Spiegel 6.5.2021.

[6] TKP 2017, Thesen 13 und 16.

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