Der antisemitische „Antisemitismus-Beschluss“

von Izaya Dill

Nicht der Schutz jüdischen Lebens in Deutschland ist das Ziel des Bundestagsbeschlusses vom 7.11., sondern die Ächtung und Kriminalisierung jeglicher Kritik am Staat Israel. Vordergründig wird der Kampf gegen Judenhass beschworen, in Wirklichkeit soll aber die Antisemitismus-Beschuldigung als Werkzeug verwendet werden, um Gegner der israelischen Politik zu diffamieren und mundtot zu machen. Der Beschluss erweitert die Grundlage, auf der die Repressionen gegen die wachsende Palästina-Bewegung noch weiter verschärft werden sollen. Der deutsche Schulterschluss mit dem zionistischen Staat soll verteidigt werden.

Der Beschluss spricht sich konkret für eine repressive Asyl- und Migrationspolitik, ein Betätigungsverbot der antizionistischen BDS-Bewegung sowie die Einschränkung der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit aus – angeblich zum Zweck der Antisemitismus-Bekämpfung. Wer oder was antisemitisch ist, soll maßgeblich mit der Arbeitsdefinition von Antisemitismus der Internationalen Allianz für Holocaustgedenken (IHRA) beurteilt werden. Dass sich auf die IHRA-Definition berufen wird, ist kein Zufall. Bereits 2019 bekannte sich der Bundestag im Rahmen seiner BDS-Resolution zu dieser Definition und erweiterte sie um einen Satz: „Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel [antisemitischer, Zusatz d. Verf.] Angriffe sein.“[1] Die IHRA-Definition ist allerdings auch ohne diese Ergänzung unscharf gefasst, weil sie den Unterschied zwischen judenfeindlicher Rede und antizionistischer Kritik verwischt. Sie ist deshalb als hervorragendes Mittel für die politische Instrumentalisierung des Antisemitismus-Begriffes geeignet: Einem israelischen Filmemacher vorzuwerfen, ein Judenfeind zu sein, weil er Israel als Apartheidstaat bezeichnet und ein Ende der Besatzung fordert, ist grotesk – Für den Bundestag war Yuval Abrahams Preisrede bei der Berlinale 2024 dennoch eines der „großen Antisemitismusskandale der letzten Jahre.“[2]

Dem Beschluss geht es darum, dass unter dem Deckmantel der Antisemitismus-Bekämpfung jede Forderung nach einer Befreiung Palästinas als antisemitisch verunglimpft und mit dem Vorwurf des israelbezogenen Antisemitismus die zionistische Politik vor jeglicher Kritik abgeschirmt werden soll. Israel betrachtet er als Repräsentanten jüdischer Menschen und setzt dadurch Juden und Israel in eins. Das Ziel des Beschlusses ist letztlich die ideologische Absicherung des strategischen Bündnisses zwischen Berlin und Israel. Unverhohlen wird daher auch der Eintritt Deutschlands „für die Existenz und legitimen Sicherheitsinteressen des Staates Israel als ein zentrales Prinzip der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik“[3] eingefordert. Das ist nicht neu: Die Sicherheit Israels sei wegen der historischen Verantwortung Deutschlands ein Teil seiner Staatsräson, gelobte Angela Merkel schon 2008 in einer Rede vor der Knesset. Und Noch-Kanzler Olaf Scholz bekräftigte im Oktober 2023: Die Sicherheit Israels sei deutsche Staatsräson!

Der Beschluss macht deutlich, dass die Erinnerungskultur der Shoah in der BRD ein theatrales Verwirrspiel darstellt: der plakativ zur Schau gestellte Philosemitismus[4] ist eine Farce, die zionistische Parteinahme für den siedlerkolonialen Apartheidstaat ist hingegen eine bittere Tragödie. “Nie wieder ist jetzt!” ist in der BRD die Losung einer staatlich gelenkten Gedenkpolitik, die die wirklichen Beweggründe ihrer Vertreter verschleiern soll. Die Regierung in Berlin unterstützt Israel, nicht weil sie edel gesinnt ist und eine historische Verantwortung für die Shoah empfindet, sondern weil ihr Handeln durch die politischen und ökonomischen Interessen der deutschen Bourgeoisie bestimmt wird. Es gibt drei Gründe, weshalb Berlin sein Bündnis mit Israel vehement verteidigt und entschlossen ausbaut:

1. erfüllt die bedingungslose Unterstützung Israels eine ideologische Funktion. Sie soll faschistische Kontinuitäten und die mangelnde Entnazifizierung in Westdeutschland nach 1945 verdecken, um es der BRD zu ermöglichen, sich als geläuterte Nation und vertrauenswürdigen Partner zu inszenieren.

2. besteht zwischen Deutschland und Israel seit Jahrzehnten eine milliardenschwere Rüstungskooperation. Aus den Werften von Thyssen-Krupp in Kiel stammen die Dolphin-U-Boote und die Sa’ar-Korvetten der israelischen Marine. Hunderte Merkava-Panzer der zionistischen Besatzungsarmee werden unter anderem mit Dieselmotoren aus deutscher Herstellung betrieben. Laut den Daten des Stockholmer Friedensforschungsinstituts (SIPRI) haben sich seit dem Beginn des israelischen Vernichtungsfeldzugs in Gaza die Exportgenehmigungen für deutsche Rüstungsexporte verzehnfacht. Die BRD war 2023 der zweitgrößte Waffenlieferant an Israel und verantwortlich für 47% der gesamten israelischen Rüstungseinfuhren, nach den USA mit 53%. Die Bundeswehr kauft ihrerseits in Israel produzierte Heron-Kampfdrohnen und Arrow-3-Luftabwehrraketen.[5] [6]

3. nimmt Israel in der geopolitischen Strategie des westlichen Imperialismus eine zentrale Rolle ein. In Absprache mit den USA zielt Deutschland darauf ab, die europäische Position im Nahen Osten zu stärken, damit ein amerikanischer Rückzug aus der Region und die Fokussierung der US-Streitkräfte auf den Machtkampf mit China erleichtert wird.[7]

Der Beschluss ist also zu keinem Zeitpunkt tatsächlich mit der Absicht gefasst worden, Judenhass zu bekämpfen und jüdisches Leben zu schützen. Gestützt auf die bewusst vage gehaltene IHRA-Definition, vermengt er gewollt Judenfeindlichkeit und Antizionismus, um Kritik an der zionistischen Siedlerkolonie als antisemitisch zu diffamieren. Fatal ist es, dass der vermeintliche “Antisemitismus-Beschluss” – auf antisemitische Weise – die Gleichsetzung von jüdischen Menschen mit dem Staat Israel vollzieht und sich somit selbst ad absurdum führt.

Ohnehin ist die zionistische Annahme falsch, dass jüdische Menschen in Israel Schutz finden könnten. In Wirklichkeit gibt es auf dieser Welt keinen anderen Ort, an dem Juden in größerer Unsicherheit leben als in Israel: dem zionistischen Staat, der seit dem Tag seiner Gründung Generationen von Menschen in Kriege führt und dessen Fortbestand auf Landraub und Apartheid beruht. Erst wenn der Zionismus besiegt, die Besatzung Palästinas beendet und der Sozialismus errichtet ist, kann das Land zwischen Jordan und Mittelmeer zu einer sicheren Heimstätte werden – für Palästinenser und für Juden.


[1] BT-Dr. 19/10191, S. 1.

[2] BT-Dr. 20/13627, S. 3.

[3] Ebd., S. 4.

[4] Sympathie und Zuneigung gegenüber Juden und dem Judentum

[5] Vgl. Forensis, Kurzstudie. Deutsche Rüstungsexporte nach Israel 2003–2023, 02.04.2024.

https://content.forensic-architecture.org/wp-content/uploads/2024/05/Forensis-Report-German-Arms-Exports-to-Israel-2003-2023_German.pdf

[6] Vgl. Who Profits Research Center, The Companies Supplying Weapons to Israel’s Attack on Gaza, 17.12.2023. https://www.whoprofits.org//writable/uploads/publications/1704198844_be4b3465011bcea6c0a0.pdf

[7] Vgl. Im nationalen Interesse Deutschlands, in: German Foreign Policy, 24.09.2024. https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9693

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