Stellungnahme der Zentralen Leitung der Kommunistischen Organisation
vom 24. Dezember 2023, überarbeitet am 10. März 2024
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Imperialismus und nationale Befreiung
2.1 Rechte und linke Abweichungen in der Frage der nationalen Befreiung
2.2 Womit haben wir es in Palästina zu tun?
3 Zur strategischen Orientierung des nationalen Befreiungskampfes
3.1 Die Rolle der Arbeiterklasse in Israel
3.2 Ein- oder Zwei-Staaten-Lösung?
3.3 Das Verhältnis zu bürgerlichen Kräften im Widerstand
4 Der internationale Kontext
5 Fazit
1Einleitung
Der Völkermord, den Israel in Gaza begeht, das gezielte Abschlachten eines Volkes und die fast völlige Zerstörung einer Millionenstadt, die Komplizenschaft aller westlichen Imperialisten bei diesem Verbrechen haben ein weiteres Mal die Frage der Befreiung Palästinas mit brutaler Dringlichkeit auf die Tagesordnung gesetzt. Fast automatisch stellen sich damit Fragen zum Charakter des palästinensischen Befreiungskampfes und dazu, was die richtige Strategie und Taktik dieses Kampfes sein kann. In der kommunistischen Bewegung gibt es zu vielen dieser Fragen sehr unterschiedliche Einschätzungen. Auch Kräfte (in Deutschland und international), die uns und unseren Analysen nahestehen, sind zu anderen Standpunkten gekommen, was die Einschätzung des palästinensischen Befreiungskampfes und die Rolle der Kommunisten darin angeht. Wir wiederum schätzen ein, dass einige dieser Schlussfolgerungen in eine falsche Richtung gehen und sowohl im Allgemeinen den internationalistischen Standpunkt in der kommunistischen Weltbewegung als auch die Unterstützung des palästinensischen Volkes im Besonderen schwächen können. Die Auseinandersetzung mit diesen Fehlorientierungen – die z.B. die grundsätzliche Einschätzung des Krieges, die strategischen Ziele des Befreiungskampfes und das Verhältnis zu bürgerlichen Kräften wie der Hamas betreffen – ist Anlass und Ziel dieses Textes. Wir hoffen, damit zu einer sachlichen Diskussion über diese Fragen und zur Korrektur einiger Fehler beitragen zu können.
2 Imperialismus und nationale Befreiung
Die Frage der nationalen Befreiung hing für die Kommunisten immer schon untrennbar mit der Analyse der Unterdrückungsverhältnisse im Imperialismus und der Strategie der sozialistischen Revolution zusammen.
So schreibt beispielsweise die Kommunistische Internationale in ihrem Programm von 1929 sehr eindeutig: „Die internationale proletarische Revolution stellt eine Kombination von Prozessen dar, die in Zeit und Charakter variieren: rein proletarische Revolutionen; Revolutionen bürgerlich-demokratischer Art, die sich zu proletarischen Revolutionen entwickeln; nationale Befreiungskriege; koloniale Revolutionen. Die Weltdiktatur des Proletariats kommt nur als Endergebnis des revolutionären Prozesses“. Über „nationale Kriege und koloniale Rebellionen“ wird festgehalten, dass sie „zwar keine revolutionären proletarisch-sozialistischen Bewegungen sind, aber dennoch objektiv, insofern sie die Vorherrschaft des Imperialismus untergraben, Bestandteil der proletarischen Weltrevolution sind“1. Die Entwicklungen der kommunistischen Weltbewegung in den letzten Jahren zeigen, dass es von besonderer Bedeutung ist, ein korrektes Verständnis von nationaler Befreiung zu entwickeln – schließlich wird dieser Begriff, der für die Strategie der kommunistischen Bewegung historisch gesehen einige Bedeutung hatte, heute oft in verfälschender und irreleitender Weise verwendet.
Der Imperialismus ist heute mehr denn je ein weltweites System, in das alle Länder in jeweils spezifischer Weise und bedingt durch ihre jeweilige historische Entwicklung integriert sind. In den meisten Ländern hat sich der Monopolkapitalismus als das ökonomische Wesen des Imperialismus herausgebildet. Der Kolonialismus, der noch nach dem Zweiten Weltkrieg riesige Teile des Planeten unterjochte, gehört weitgehend der Geschichte an, da sich fast alle ehemaligen Kolonien erfolgreich befreit haben, teilweise in schärfster kriegerischer Konfrontation mit den Kolonialmächten, teilweise auch in Absprache mit diesen.
Das Ringen um nationale Befreiung nahm im letzten und vorletzten Jahrhundert unterschiedliche Formen an – als Kampf gegen multinationale „Völkergefängnisse“ wie das russische Zarenreich, das Osmanische Reich oder Österreich-Ungarn, an deren Ende die Schaffung neuer bürgerlicher Nationalstaaten (Polen, Serbien, Ungarn, Griechenland, Bulgarien usw.) oder, im Falle Russlands, die Vereinigung in einer sozialistischen Republik stand; oder als Kampf um die Befreiung vom Joch des Kolonialismus und Halbkolonialismus (beispielsweise im Fall Chinas oder Persiens), der ebenfalls in die Schaffung neuer Staaten mündete, die einen bürgerlichen oder in wenigen Fällen auch einen sozialistischen Charakter hatten. Die Aufgabe der nationalen Befreiung, die in der Emanzipation aus rassistischen, unterdrückerischen und ausbeuterischen Verhältnissen bestand, unter die ganze Nationen unterworfen waren, ist seitdem im Wesentlichen abgeschlossen.
2.1 Rechte und linke Abweichungen in der Frage der nationalen Befreiung
Die auch in der kommunistischen Bewegung verbreitete Vorstellung, Ziel der nationalen Befreiung sei nicht nur eine politische Unabhängigkeit, sondern auch eine Art „ökonomische Souveränität“, ist eine Sackgasse. Denn natürlich ist es zwar richtig, dass das Wirtschaftsleben einer Nation, die in den kapitalistischen Weltmarkt integriert ist, immer äußeren Abhängigkeiten unterworfen ist. Diese Abhängigkeiten lassen sich unter kapitalistischen Bedingungen aber eben nur auf eine Art abschwächen, nämlich durch den Aufstieg innerhalb der imperialistischen Rangordnung, durch die Stärkung der eigenen Bourgeoisie im Verhältnis zu anderen. Ein solches Verständnis von „nationaler Befreiung“ bedeutet damit einfach, die Interessen der Arbeiterklasse den Erfordernissen der Kapitalakkumulation unterzuordnen. Mit nationaler Befreiung im eigentlichen Sinne hat das nichts zu tun, es ist schlicht und einfach die Politik im Interesse der Bourgeoisie, die die Regierungen aller bürgerlichen Staaten betreiben.
Es ist daher von großer Bedeutung, die Situation in einer Kolonie von anderen Abhängigkeitsverhältnissen zu unterscheiden. Von einem Kolonialsystem können wir dann sprechen, wenn erstens in einem Land keine eigenen staatlichen Strukturen existieren (oder im Fall einer Halbkolonie nur in eingeschränkter Form), sondern nur ein von einer fremden Macht aufgezwungener und von ihr abhängiger Verwaltungs- und Repressionsapparat; und wenn zweitens die Einwohner dieses Landes nicht die gleichen bürgerlichen Rechte genießen wie die Einwohner der Kolonialmacht. Aus diesem Grund ist z.B. das Baskenland keine Kolonie, weil Basken keine andere Staatsbürgerschaft haben als die anderen Bürger des spanischen Staates. Palästina hingegen ist eine Kolonie, weil die Palästinenser nicht nur keinen eigenen Staat haben, sondern auch einem strikten Apartheidsregime unterworfen sind, das ihnen wesentliche Rechte vorenthält.
Eine Sonderform des Kolonialismus stellt der Siedlerkolonialismus dar: Dabei wird nicht nur ein anderes Land oder Gebiet in Besitz genommen, sondern systematisch ein „Herrenvolk“ angesiedelt, mit dem Ziel, dauerhaft dort zu leben und eine Gesellschaft aufzubauen. Die einheimische Bevölkerung wird dabei grundsätzlich als Problem gesehen, die der unbeschränkten Aneignung des Landes durch die Kolonialherren im Weg steht. Siedlerkoloniale Systeme gab es historisch z.B. in den USA, Kanada, Neuseeland, Australien, Algerien und Südafrika, sie führten entweder zur Unterdrückung oder zur weitgehenden Vernichtung der einheimischen Bevölkerung.
Bedeutet die im Wesentlichen vollendete Dekolonisation der Welt nun, dass es heute keine nationalen Befreiungskämpfe gibt bzw. dass die Arbeiterklasse in solchen Kämpfen nichts mehr zu gewinnen hat? In der kommunistischen Weltbewegung aber auch in Deutschland scheinen einige Genossinnen und Genossen dieser Auffassung zu sein. Die Einschätzungen zum palästinensischen Befreiungskampf gehen in der marxistisch-leninistischen Bewegung weit auseinander. Eine Reihe von Parteien und Organisationen, die uns inhaltlich nahestehen und mit denen wir teilweise enge Beziehungen haben, erkennen zwar abstrakt an, dass in Palästina ein nationaler Befreiungskampf notwendig ist, schrecken aber davor zurück, ihn im Konkreten zu unterstützen. Dies betrifft auch in unterschiedlichem Grad manche revolutionäre Kräfte in Deutschland, die eine Art Äquidistanz, also einen Standpunkt gleicher Distanzierung, von Israel und der Hamas vertreten.
Diese Position ist gerade deshalb besonders problematisch, weil sie oft von Kommunisten vertreten wird, die eine grundsätzlich korrekte Analyse des Imperialismus haben, dann aber dazu tendieren, sie als eine abstrakte Schablone zu verwenden, die an jeden konkreten Fall gleichermaßen anzuwenden ist, ohne die Entwicklung konkret zu analysieren. Sie ist deshalb so problematisch, weil die Opportunisten genau diesen Vorwurf immer wieder gegen die Vertreter einer leninistischen Imperialismusanalyse erhoben haben: Unsere Auffassung des Imperialismus als Weltsystem sei eine „one size fits all“-Logik, die faktisch alle Länder miteinander gleichsetze und keinen Raum mehr zur Erfassung der riesigen Unterschiede lasse, die es doch konkret zwischen den verschiedenen Ländern gebe. Wir müssen an dieser Stelle ganz deutlich sagen: Wäre es tatsächlich so, dass wir die realen Unterschiede zwischen den Ländern – Unterschiede bei ökonomischer oder militärischer Macht, bei kulturellem Einfluss, Abhängigkeitsmechanismen wie den Franc CFA in Westafrika oder eben auch die anhaltenden (und jeweils wiederum sehr unterschiedlichen) Besatzungen von Palästina, der Westsahara, Nordzypern usw. – ignorieren würden, dann wäre das in der Tat kritikwürdig.
Doch das ist nicht der Fall. Die Erkenntnis, dass die Dekolonisierung der Welt im Großen und Ganzen abgeschlossen ist, kann nicht den Blick darauf versperren, dass Palästina weiterhin einem siedlerkolonialen Regime und einer barbarischen nationalen Unterdrückung unterworfen ist. Dass wir den nationalen Befreiungskampf als Teil der revolutionären Strategie heute für die allermeisten Länder als hinfällig verwerfen müssen, ändert nichts daran, dass er in Palästina eben alles andere als hinfällig ist, sondern eine dringende zu lösende Aufgabe darstellt, an der wir als kommunistische Weltbewegung nicht vorbeikommen.
Wir haben als KO in den letzten zwei Jahren stark dafür argumentiert, dass der Krieg in der Ukraine von seinem Wesen her als ein Zusammenstoß zwischen zwei imperialistischen Blöcken zu verstehen ist, als ein Krieg um die Neuaufteilung der Welt. Ein solcher Krieg, der um die Einflusssphären, Marktanteile, Rohstoffe und Transportwege der Kapitalisten geführt wird, kann nicht im Interesse der breiten Masse des Volkes, der Arbeiterklasse, sein. Daraus folgt für die Kommunisten notwendig, dass keine der beiden Seiten in einem solchen Krieg zu unterstützen ist – was nicht zwangsläufig heißt, dass wir beide Seiten in unserer Agitation und Propaganda genau gleich behandeln müssen. Aber die Position des Sozialchauvinismus, die sich mit der herrschenden Klasse der einen oder anderen Seite solidarisiert und bereit ist, unsere Klassengeschwister für die Profite der Kapitalisten in den Tod zu schicken, muss bekämpft, ihr Einfluss auf die kommunistische Bewegung zurückgedrängt und beseitigt werden.
Hat der Krieg in Palästina denn den gleichen Charakter wie der in der Ukraine? Ist es auch hier geboten, die Aktionen beider Seiten qualitativ gleich zu bewerten und zu verurteilen? Leider gibt es diese Position innerhalb „unseres Lagers“ der kommunistischen Bewegung, also unter den Gruppen, Organisationen und Parteien in Deutschland und international, die grundsätzlich einen marxistisch-leninistischen Standpunkt einnehmen, die beispielsweise den Krieg in der Ukraine aus internationalistischer Sicht beurteilen und die falschen Imperialismusauffassungen, die den Imperialismus auf eine Handvoll westliche Staaten reduzieren, verwerfen. Gegen diese Position, die die Analyse des Ukrainekriegs mechanisch auf den Kontext Palästinas überträgt, wollen wir hier argumentieren. Denn es geht bei dieser Frage um viel: Darum, mit welcher Haltung die Kommunisten in Palästina und Israel an die Frage der nationalen Befreiung des palästinensischen Volkes herangehen müssen; aber für uns auch darum, die marxistisch-leninistische Imperialismusanalyse und unsere Konzeption einer revolutionären Strategie gegen eine linke Abweichung zu begründen, die der kommunistischen Bewegung letzten Endes Schaden zufügt. Denn wenn der antirevisionistische Teil der kommunistischen Bewegung dabei versagt, die Frage der nationalen Befreiung dort, wo sie sich tatsächlich noch stellt, korrekt in die revolutionäre Strategie einzubetten, profitiert davon zwangsläufig der rechte Opportunismus. Eine faktische Distanzierung vom palästinensischen Befreiungskampf führt dazu, diesen Kampf in Palästina den islamischen und bürgerlich-nationalistischen Kräften zu überlassen und in der kommunistischen Weltbewegung diejenigen Kräfte zu stärken, die überall auf der Welt „nationale Befreiungskämpfe“ führen wollen, auch wenn das mit den tatsächlichen Verhältnissen und Kämpfen vor Ort nichts zu tun hat.
Auch die in Deutschland manchmal anzutreffende Ansicht, dass der „Nahostkonflikt“ ja „nicht von uns in Deutschland gelöst werden wird“ und es deshalb nicht wichtig sei, dass Kommunisten in Deutschland sich dazu positionieren, ist vehement zu verwerfen. Die Arbeiterklasse ist ebenso wie die kommunistische Bewegung international. Die Kolonisierung Palästinas und die Unterdrückung des palästinensischen Volkes sind objektiv ein Problem der weltweiten Arbeiterklasse, einschließlich der in Israel, und eben nicht nur eins der Palästinenser. Zu leugnen, dass die Besatzung Palästinas ein Problem für die Arbeiterklasse der ganzen Welt ist, bedeutet letztendlich überhaupt zu leugnen, dass es gemeinsame Interessen der Arbeiterklasse der Welt gibt und damit eine Ablehnung des proletarischen Internationalismus überhaupt. Es gibt keine Grundlage dafür, die Arbeiterklasse bestimmter Länder aus der Gemeinsamkeit des Klasseninteresses „auszuklammern“. Das zu tun, bedeutet eine Schwächung der Kampfkraft der Klasse, denn diese liegt ja gerade in ihrer Einheit über alle Grenzen hinweg begründet.
Auch für den deutschen Imperialismus ist die Beteiligung an der kolonialen Unterdrückung Palästinas von entscheidender Wichtigkeit und trägt zur Stabilisierung seiner Herrschaft bei: Erstens indem er es der herrschenden Klasse Deutschlands erlaubt, seine Unterstützung Israels als Lehre aus dem Holocaust und als Wiedergutmachung für die Nazi-Verbrechen darzustellen. Damit wird gezielt der Eindruck erzeugt, wonach die Herrschenden etwas „aus der Vergangenheit gelernt“ hätten, obwohl nach 1945 bewusst die Entscheidung getroffen wurde, die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, die den Faschismus hervorgebracht hatten, nicht anzutasten. Zweitens werden unter der ideologischen Bemäntelung der „Aufarbeitung der Schuld“ von deutschen Unternehmen lukrative Geschäfte mit Israel gemacht, u.a. auch Rüstungsverkäufe. Drittens spielt Israel für die USA und EU die Rolle, als Speerspitze des „Westens“ in der Region die Interessen der europäischen und US-amerikanischen Bourgeoisien gegen rivalisierende Mächte wie Iran, Syrien und die Hisbollah durchzusetzen. Viertens nutzt der deutsche Staat das Thema, um mithilfe eines grotesk verzerrten Antisemitismusbegriffs Kommunisten und allgemein jeden, der einen Standpunkt gegen Besatzung und Kolonialismus einnimmt, zu kriminalisieren und zu unterdrücken. Wir kommen also auch deshalb in Deutschland gar nicht daran vorbei, uns mit dem palästinensischen Befreiungskampf zu befassen.
Es ist also zunächst festzuhalten: In Palästina findet ein nationaler und antikolonialer Befreiungskampf statt, der von den Kommunisten der ganzen Welt zu unterstützen ist. Die Unterstützung dieses Kampfes ist gewissermaßen ein Test, an dem der proletarische Internationalismus sich in der Praxis erweist – und das gilt gerade da, wo – wie in Deutschland – die Solidarität mit dem palästinensischen Volk einem wahren Sturm der rechten Hetze durch Regierung, Medien und bürgerliche Parteien ausgesetzt ist.
2.2 Womit haben wir es in Palästina zu tun?
Die unterschiedlichen Schlussfolgerungen in Bezug auf den Charakter des Krieges in Palästina können zum Teil auch daraus erwachsen, dass in der kommunistischen Bewegung kein einheitliches Verständnis darüber vorherrscht, wie die Verhältnisse in Palästina zu charakterisieren sind. Schaffen wir diese Klarheit also zunächst einmal:
Israel ist kein „gewöhnlicher“ Nationalstaat etwa wie Deutschland oder Italien. Es ist auch nicht gleichzusetzen mit multiethnischen bürgerlichen Staaten, in denen es weiterhin Formen nationaler Diskriminierung gibt, wie beispielsweise der Türkei oder Spanien. Israel ist die staatliche Umsetzung der Idee des Zionismus, die sich folgendermaßen zusammenfassen lässt: Nach dem Zionismus sind die Juden nicht nur eine Religionsgemeinschaft, sondern eine Nation; die Juden können nur dann in Freiheit leben, wenn sie einen eigenen jüdischen Staat schaffen, der einen „Schutzraum“ für potenziell alle Juden der Welt bietet. Begründet wird die angebliche Notwendigkeit dieses Staates mit den Verfolgungen und Diskriminierungen, denen Juden jahrhundertelang ausgesetzt wurden, sowie natürlich seit dem Holocaust mit den ungeheuerlichen Verbrechen des Faschismus, insbesondere des deutschen.
Das Besondere am Zionismus, was ihn in besonderem Maße reaktionär macht, ist nicht allein, dass viele seiner führenden Vertreter sich von Anfang an rassistisch gegen andere Volksgruppen, insbesondere gegen die Palästinenser, geäußert haben, denn solche Ausprägungen gab es auch in anderen nationalistischen Bewegungen. Besonders reaktionär ist der Zionismus aufgrund der Konstellation, in der er wirksam ist: Jüdische Menschen leben auf der ganzen Welt verstreut und es gab während der Entstehungsphase der zionistischen Ideologie Ende des 19. Jahrhunderts kein Land, das nicht bereits von anderen Völkern besetzt war. Der Zionismus propagierte nun aber nicht einfach nur, dass es Orte geben müsse, an denen Angehörige des Judentums in Frieden leben können müssen – natürlich wäre ein solches Ziel richtig und unterstützenswert gewesen und wurde von den Kommunisten auch immer schon geteilt. Der Zionismus war und ist der Auffassung, dass ein solches Land entweder rein oder zumindest vorrangig jüdisch besiedelt sein und der zu schaffende Staat ein Staat der Juden sein müsse. Dass die Zionisten ihren Staat in der damaligen britischen Kolonie Palästina errichten wollten, hatte allein religiöse Gründe – weil das antike Israel als Heimstatt der Juden erneut geschaffen werden sollte und alle Juden aufgrund der religiösen Bewertung des Landes als „Heiliges Land“ angeblich ein „Geburtsrecht“ hätten, in diesem Land zu leben, ganz im Gegensatz zur einheimischen Bevölkerung Palästinas, der ein solches Recht nicht zugesprochen wurde. Auch die säkularen Strömungen des Zionismus machten damit letzten Endes die Religion zu ihrem Bezugsrahmen – und mussten es auch, da das Judentum in Wirklichkeit eine ethnisch-religiöse Gruppe und keine Nation ist2. Aus Sicht des britischen Imperialismus, der zu dieser Zeit Palästina als „Mandatsgebiet“ kontrollierte, ging es freilich auch um handfeste Interessen: Ein zionistischer Staat, der durch die Verdrängung der arabischen Bevölkerung zum „natürlichen Feind“ der umliegenden arabischen Länder würde, versprach, ein sehr nützlicher Verbündeter für die Durchsetzung britischer Interessen in der ganzen Region zu werden. Der Zionismus wollte also einen Staat für die Juden schaffen, das jedoch in einem Land, in dem die Juden seit Jahrhunderten nur eine relativ kleine Minderheit waren. So heißt es in einem Bericht der britischen Regierung von 1921 über ihr damaliges Mandatsgebiet Palästina: „Der jüdische Anteil an der Bevölkerung beträgt 76.000. Fast alle sind in den letzten 40 Jahren nach Palästina gekommen. Vor 1850 gab es im Lande nur eine Handvoll Juden“3. Die gesamte Bevölkerung Palästinas wird in dem Bericht als „kaum 700.000 Menschen“ angegeben, sodass nach dieser Quelle die jüdische Bevölkerung nach Jahrzehnten jüdischer Immigration nach Palästina um die 11% ausmachtegemacht hat. Laut den demografischen Daten der Jewish Virtual Library lebten 1882 24.000 Juden in Palästina, was 8% der Bevölkerung ausmachte, 1922 60.000 (11% der Bevölkerung) und 1947 630.000 (32%)4. Auch die im 20. Jahrhundert (auch schon vor der faschistischen Machtübernahme in Deutschland) massiv anschwellenden Ströme jüdischer Immigranten nach Palästina konnten also keine jüdische Mehrheit in Palästina schaffen. Dieses Ziel war nicht anders zu erreichen als durch die Vertreibung der Palästinenser, also eine ethnische Säuberung des Landes5. Und so geschah es: Während der Nakba, der ethnischen Säuberung Palästinas 1947 und 1948, die vor, während und nach der israelischen Staatsgründung stattfand, wurden etwa 750.000 Palästinenser gewaltsam von ihrem Land vertrieben und Tausende in verschiedenen Massakern ermordet6. Die Nakba war nicht, wie oft behauptet, eine Reaktion auf den Krieg der arabischen Staaten gegen Israel, sondern die Durchführung von Plänen, die zionistische Gruppen in Palästina bereits seit langem verfolgten und bereits lange zuvor durch Terroranschläge gegen palästinensische Zivilisten zu verwirklichen versucht hatten.
Ergänzend zur Vertreibung und Ermordung der Palästinenser, die bis heute anhält und in Form der Zerstörung von Häusern und Landwirtschaft der Palästinenser sowie des unter allen israelischen Regierungen fortgesetzten Siedlungsbaus weiter umgesetzt wird, wird zudem seit Jahrzehnten ein striktes Apartheidssystem aufgebaut und weiter verschärft. Das 2018 beschlossene „Nationalstaatsgesetz“, das Verfassungsrang und einen Unveränderlichkeitsstatus (Art. 11) genießt, bezeichnet Israel als „Nationalstaat des jüdischen Volkes“, explizit also nicht als Staat aller seiner Bürger (Art. 1). Es schreibt zudem die Annexion Ostjerusalems („Die Hauptstadt Israels ist das gesamte und vereinigte Jerusalem“, Art. 3) und den zionistischen Siedlungsbau, d.h. die fortgesetzte Vertreibung der Palästinenser fest („Der Staat Israel sieht in der Weiterentwicklung der jüdischen Besiedlung einen nationalen Wert. Er setzt sich dafür ein, die Etablierung und die Konsolidierung jüdischer Besiedlung anzuspornen und voranzutreiben“, Art. 7)7.. Somit ist das System der Apartheid und Vertreibung, das den Palästinensern systematisch die Rechte verweigert, die den Bürgern Israels zustehen, (und auch die arabischen Staatsbürger Israels systematisch diskriminiert, in der israelischen Verfassung festgeschrieben.
Das offensichtliche Ziel des Siedlungsbaus im Westjordanland besteht darin, auch diesen Landstrich letzten Endes dem zionistischen Staatsprojekt einzuverleiben und eine Zwei-Staaten-Lösung unmöglich zu machen (s.u.). Dabei hat der Staat Israel bis heute seine Grenzen nicht definiert, ein Ende der ausufernden territorialen Ansprüche Israels ist also nicht in Sicht. Der völkermordende Krieg, den Israel im Oktober in Gaza entfesselt hat, ist ebenfalls nur eine Konsequenz des zionistischen Projekts der kontinuierlichen Landnahme, die das palästinensische Volk als „Fremdkörper“ auf seinem eigenen Land sieht und eine Lösung dieses „Problems“ letzten Endesschlussendlich nur in der Vertreibung oder physischen Vernichtung dieses Volkes sieht, wie zahlreiche führende Politiker Israels klar und deutlich ausgesprochen haben. Der Staatspräsident Israels, Jitzhak Herzog, beispielsweise: „Es ist ein ganzes Volk, das verantwortlich ist. Diese Rhetorik über Zivilisten, die angeblich nicht involviert wären, ist absolut unwahr (…) und wir werden kämpfen, bis wir ihr Rückgrat brechen“. Der Sprecher der israelischen Armee Daniel Hagari: „Wir werfen hunderte Tonnen von Bomben auf Gaza. Der Fokus liegt auf Zerstörung, nicht auf Genauigkeit“ 8. Amichai Elijahu, der faschistische Minister für Kulturerbe, sprach in einem Radiointerview über die „Möglichkeit“, eine Atombombe auf den Gazastreifen zu werfen, was Netanjahu kritisierte9. Doch Premierminister Netanjahu selbst adressierte an die Israelis: „Ihr müsst euch daran erinnern, was Amalek euch angetan hat, sagt unsere Heilige Bibel“. Als Amalek wird in der jüdischen Überlieferung ein Volk bezeichnet, das in biblischer Zeit als Erzfeind des jüdischen Volkes galt. In der hebräischen Bibel (Tanach) wird zur Vernichtung ihrer Männer und Frauen, ihrer Kinder, Säuglinge und ihres Viehs aufgerufen10 – und genau auf diese Konsequenz will Netanyahu offensichtlich anspielen. Eine Vielzahl weiterer Zitate führender israelischer Politiker, die die genozidale Absicht des Regimes zweifelsfrei belegen, könnte hier angeführt werden.
Es ist entscheidend zu verstehen, dass die ethnische Säuberung und die Apartheid, letztlich auch der offene Genozid, den wir nun in Gaza sehen, bereits in der grundsätzlichen Anlage des Siedlerkolonialismus begründet sind. Die indigene Bevölkerung Nordamerikas wurde von den weißen Siedlern systematisch eingepfercht, entmenschlicht und schließlich ermordet, ebenso wie die Aborigines in Australien oder die Herero und Nama in Namibia. Eine Ideologie, die wie der Zionismus seit seinen Anfängen, das beanspruchte Land als „Land ohne Volk“ versteht, also die einheimische Bevölkerung schlicht nicht als „Volk“ und nicht als Menschen gelten lässt, trägt die Saat der Apartheid und des Völkermords in sich.
Der Kampf für die Befreiung des palästinensischen Volkes ist also nicht einfach ein Kampf zwischen verschiedenen Interessen oder Ideologien und schon gar kein „Religionskonflikt“. Er ist – und zwar relativ unabhängig davon, welche Kräfte in diesem Kampf eine führende Rolle spielen – ein Überlebenskampf, ein Kampf gegen die schrittweise, jetzt beschleunigte Vertreibung und Vernichtung und die Apartheid, die das palästinensische Volk unterdrückt und entmündigt. Der Kampf des palästinensischen Volkes gegen Kolonisierung, Apartheid und gegen die eigene Vertreibung bzw. Auslöschung ist eine objektive Notwendigkeit – so objektiv notwendig, wie dass der Kampf zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie immer wieder aufbricht. Den Palästinensern steht, anders als in anderen Fällen nationaler Unterdrückung (beispielsweise den Kurden zumindest in der westlichen Türkei), nicht die Möglichkeit offen, durch Assimilation in die Staatsnation den Grausamkeiten der Herrschenden zu entkommen. Der Zionismus ist in der Konsequenz eine völkische Blut-und-Boden-Ideologie, die den Palästinensern nur die Wahl zwischen Widerstand oder Untergang lässt. Unter diesen Bedingungen würde jedes Volk den Widerstand wählen und das zu Recht.
3 Zur strategischen Orientierung des nationalen Befreiungskampfes
Ohne einen Sieg der palästinensischen Befreiungsbewegung ist weder der welthistorische Kampf der Völker gegen das barbarische System des Kolonialismus noch der Sieg über die Apartheid in Südafrika und den USA vollständig. Wir müssen also in aller Deutlichkeit betonen: Der palästinensische Befreiungskampf ist ein gerechter Kampf und es liegt objektiv im Interesse der Arbeiterklasse auf der ganzen Welt, ihn zu unterstützen.
Das beantwortet aber noch nicht die Frage danach, mit welchen Zielen er geführt werden muss und auf welche Kräfte man sich dabei in welcher Form als Bündnispartner stützen kann. Beginnen wir mit der Frage der Ziele des Befreiungskampfes.
Das Ziel des Klassenkampfes der Arbeiterklasse ist der Sozialismus-Kommunismus, also die Überwindung der kapitalistischen Klassengesellschaft, die politische Machtübernahme der Arbeiterklasse und die Vergesellschaftung der Produktionsmittel mit zentraler Planung der gesamten Produktion. In der kommunistischen Bewegung sind seit langem Auffassungen verbreitet, wonach der Sozialismus nicht das unmittelbare Ziel des Klassenkampfes sein solle, sondern nur über eine Zwischenetappe erreichbar sei, die je nach Land „antimonopolistische Demokratie“ oder „nationale Befreiung“, „ökonomische Souveränität“, in der maoistischen Variante auch „Neudemokratische Revolution“ genannt und jeweils unterschiedlich konzipiert wird. Derartige Etappenstrategien implizieren immer, dass aus irgendeinem Grund die Vergesellschaftung der Produktionsmittel noch nicht möglich sei und deshalb zunächst eine Entwicklungsetappe notwendig sei, in der die Herrschaft der Bourgeoisie oder eines Teils derselben weiter besteht, gegebenenfalls im „Bündnis“ mit der Arbeiterklasse und anderen Schichten und Klassen. Nun sind die Interessen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie jedoch einander diametral entgegengesetzt. Es kann keine gemeinsame Herrschaft von Arbeiterklasse und Kapitalisten geben und erst recht keinen bürgerlichen Staat, der im Interesse der Arbeiterklasse agiert und irgendwie den Übergang zum Sozialismus vorbereitet. Das Wesen der Herrschaft der Bourgeoisie ist es, die Akkumulation des Kapitals, d.h. die Ausbeutung der Arbeitskraft, zu organisieren. Das Wesen der Herrschaft der Arbeiterklasse ist es, die Produktionsmittel der Bourgeoisie zu entreißen und zu vergesellschaften. Zwischen diesen zwei Polen kann es keinen Kompromiss und kein Mittelding geben. Diese Erkenntnis gehört zu den grundlegenden des Marxismus und gilt für alle bürgerlichen Staaten.
Wie verhält es sich aber nun in Palästina, wo die Aufgabe der nationalen Befreiung noch nicht vollendet wurde? Man stößt oft auf die Auffassung, wonach in Palästina zuerst die Befreiung von der kolonialen Unterdrückung erkämpft werden müsse und dann erst der Kampf um den Sozialismus geführt werden könne. Gegen diese Auffassung muss entgegengehalten werden: Auch in Palästina herrschen kapitalistische Verhältnisse vor, auch in Palästina gibt es Klassenunterschiede. Zwar stimmt es, dass auch die Bourgeoisie in Palästina durch die israelische Besatzung und wiederholten Kriege an ihrer Entwicklung gehindert wird. Doch auch die palästinensische Bourgeoisie strebt wie jede andere danach, ihre Herrschaft über die breiten werktätigen Massen zu konsolidieren.
Manchmal wird die Existenz einer palästinensischen Bourgeoisie überhaupt infrage gestellt. Und tatsächlich ist die palästinensische Wirtschaft sehr kleinteilig, sie besteht also zum größten Teil aus kleinbürgerlichen und kleinkapitalistischen Wirtschaftseinheiten. Doch auch an der palästinensischen Gesellschaft ist die gesetzmäßige Entwicklung des Kapitalismus zum Monopolkapitalismus nicht vorbeigegangen. Neben dem Einfluss ausländischer Monopole, die natürlich auch in den palästinensischen Gebieten ihre Produkte verkaufen, gibt es auch eine Handvoll größerer palästinensischer Unternehmen, die innerhalb des kleinen palästinensischen Marktes eine Monopolstellung einnehmen. Zu nennen sind beispielsweise das Telekommunikationsunternehmen Paltel mit einem Vermögenswert von umgerechnet 740 Mio. US$ und 2630 Angestellten11, das führende Finanzinstitut Palästinas Bank of Palestine (ca. 6,5 Mrd. US$ und 1800 Angestellte, Stand 2022)12 und das Investmentunternehmen PADICO (815 Mio. US$ und 4300 Angestellte, Stand 2021)13. Zu den Klassenverhältnissen und der Bourgeoisie in Gaza lassen sich nicht viele Zahlen finden, aber doch ein paar, die ein Bild vermitteln: In einer Erklärung von 2020 der GPGFTU14 ist die Rede von 2000 Fabriken in verschiedenen Sektoren15. Der Generalstreik in Gaza 2014 umfasste 40.000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst16. Nach verschiedenen Berichten, die allerdings schwer zu überprüfen sind, leben einige Führungspersonen der Hamas wie Ismail Haniyeh im Ausland, während Immobilien in Gaza auf die Namen ihrer Kinder eingetragen sind,17,18. Neben finanzieller Unterstützung von anderen Staaten investieren sie ihr Kapital im Ausland, beispielsweise in Firmen in Algerien, Saudi-Arabien, Sudan, Türkei und in den Vereinigten Arabischen Emiraten, oft im Bausektor.19 Auch die US-Sanktionen gegen einzelne Unternehmen und Investoren unter anderem in Katar und der Türkei sprechen für das Vorhandensein dieser Geldströme, deren Größe laut Schätzung der US-Regierung 500 Millionen Dollar beträgt20.
Die palästinensischen Kapitalisten stehen in einem widersprüchlichen Verhältnis zum Befreiungskampf: Einerseits haben sie ein Interesse an einem palästinensischen Staat, da die fehlende Souveränität der Autonomiebehörde (z.B. keine eigene Steuererhebung und damit völlige finanzielle Abhängigkeit von Israel), ihre eingeschränkte Kontrolle der Infrastruktur sowie die ständige Instabilität und wiederholten Kriege große Hindernisse für die palästinensische Kapitalakkumulation darstellen. Auf der anderen Seite ist aber auch der bewaffnete Widerstand gegen die Besatzung eine Bedrohung ihrer Profite, insbesondere größere Operationen, die massive israelische Angriffe und weitere Einschränkungen des ökonomischen Spielraums nach sich ziehen können. Politisch drückt sich diese Ambivalenz darin aus, dass die bürgerliche Führung der Palästinenser gespalten ist in den kollaborationistischen Flügel (Fatah) und den Flügel, der den bewaffneten Widerstand organisiert (Hamas, PIJ).
Wie würde nun ein Palästina aussehen, das unter der Führung der Bourgeoisie von der Besatzung befreit würde?
Werfen wir dafür zum Vergleich einen Blick auf die benachbarten arabischen Länder: Dass in Ägypten, in Jordanien, im Libanon die koloniale Herrschaft abgeschüttelt wurde, war ein historischer Fortschritt. Doch die Massen leben in diesen Ländern weiterhin im Elend, werden weiterhin von korrupten und repressiven Regierungen kontrolliert, die den Ausbeuterklassen dienen. Es sind dabei gerade die eigenständigen Strategien und Interessen der Bourgeoisien in diesen Ländern, die eine eigene Kapitalakkumulation anstreben und dafür die Arbeiterklasse zu einem Leben voller Entbehrungen und Elend verdammen. Dass die nationale Befreiung in diesen Ländern zu neuen bürgerlichen Staaten geführt hat, war dabei aber keine Zwangsläufigkeit, sondern lag an der mangelnden Stärke und teilweise den strategischen Fehlern der Kommunisten – insbesondere der Unfähigkeit, in der Strategie die nationale Befreiung mit der sozialistischen Revolution zu verbinden.
Der nationale Befreiungskampf ist dort, wo er wie in Palästina noch eine objektive Grundlage hat, ein Kampf, in dem die Kommunisten ihre Rolle als konsequenteste Vorkämpfer für die Arbeiterklasse und die Volksmassen unter Beweis stellen können und müssen. In Palästina leidet das Volk sowohl unter der nationalen Unterdrückung durch den zionistischen Staat, der sie wegen ihrer Nationalität willkürlich verhaftet und verprügelt, von ihrem Land vertreibt, an Checkpoints drangsaliert, ihre Häuser zerstört, ihre Familien ermordet, als auch unter ihrer Unterdrückung als Arbeiterklasse und mit Abstand ärmster Teil der Gesellschaft, der im Gazastreifen schon lange unter unwürdigsten Bedingungen im nackten Elend lebt, mit kaum nutzbarem Trinkwasser, Mangelernährung und katastrophalen Wohnverhältnissen und in der Westbank ebenfalls überwiegend in bitterer Armut ums tägliche Überleben kämpft. Dabei hängen nationale und Klassenunterdrückung eng miteinander zusammen: Zwar gibt es auch eine israelische Arbeiterklasse, aber die Lage der Palästinenser ist im Durchschnitt weitaus schlechter. Sie werden von Israel nicht nur rassistisch unterdrückt, sondern auch in Armut gehalten und als billige Arbeitskräfte für die israelischen Kapitalisten ausgepresst. Eine Befreiung, die das Apartheidsystem und den alltäglichen Staatsterror abschafft, wäre ohne Zweifel ein Fortschritt und per se zu begrüßen und dennoch wäre es für die allermeisten Angehörigen des palästinensischen Volkes nur eine halbe Befreiung (das aber immerhin schon!), wenn ihre Ausbeuter nur die Nationalität wechseln würden bzw. die Bourgeoisie, die es auch in Palästina gibt, nun zur neuen herrschenden Klasse würde.
Der Kampf der Kommunisten sollte sich also gegen den siedlerkolonialen Apartheidstaat als besonders reaktionäre, verabscheuungswürdige Form kapitalistischer Unterdrückung richten, dabei aber eben die kapitalistische Grundlage dieser Unterdrückung nicht aus den Augen verlieren und kein kapitalistisches, sondern ein sozialistisches Palästina anstreben. Es gibt dabei keinen sachlichen Grund, weshalb die nationale Befreiung als Zwischenetappe verstanden werden sollte, statt als elementares strategisches Ziel der sozialistischen Strategie. Das bedeutet natürlich nicht, dass im Zweifelsfall eine nationale Befreiung unter bürgerlichen Vorzeichen nicht ebenfalls zu begrüßen und zu unterstützen wäre, um anschließend den Kampf gegen den neuen bürgerlichen Staat aufzunehmen. Doch das zu tun ist etwas anderes als wenn die Kommunisten in ihrer eigenen Strategie die Notwendigkeit der nationalen Befreiung als separaten Schritt, der unbedingt vor der sozialistischen Revolution kommen müsse, einplanen. Eine solche Auffassung führt dazu, dass die kommunistische Partei sich nicht mehr die Aufgabe stellt, den nationalen Befreiungskampf zur Sammlung von Kräften für die sozialistische Revolution zu nutzen, mit dem Ziel, dass die neue Macht, die im Ergebnis dieses Kampfes geschaffen wird, die Voraussetzungen herstellt, auf so direktem Wege wie möglich zum Sozialismus überzugehen.
Die organische Verbindung beider strategischen Ziele miteinander – der Befreiung vom Kolonialismus und der Befreiung von der Herrschaft der Bourgeoisie – bedeutet dabei keineswegs nur die Verbindung von abstrakten Parolen und von Zielen, die in ferner Zukunft liegen. Sie bedeutet vor allem auch, dass im alltäglichen Kampf des palästinensischen Volkes, der sich keineswegs nur gegen die militärische Besatzung richtet, sondern auch ökonomische Kämpfe beinhaltet, die Kommunisten alle Felder und Formen dieses Kampfes erlernen und beherrschen und sich auf all diesen Gebieten eine Avantgarderolle erkämpfen müssen. Das bedeutet, dass auch in Palästina die Organisierung der Arbeiterklasse für die Lösung aller ihrer Probleme vorangetrieben werden muss, das heißt in den Betrieben und den Nachbarschaften, gegen die zionistische Besatzung, gegen die mit ihr kollaborierende Palästinensische Autonomiebehörde, letzten Endes aber auch gegen bürgerlichen Organisationen wie die Hamas, für freie Bildung und Gesundheitsversorgung, Organisationsfreiheit, Wohnung usw. Da die Besatzung die allermeisten dieser Probleme verursacht oder verschärft, richtet der Kampf sich zwingend und automatisch auch immer gegen die Besatzungsmacht.
3.1 Die Rolle der Arbeiterklasse in Israel
Manchmal hören wir das Argument, die Arbeiterklasse bzw. das Volk in Israel sei so eng mit dem Siedlerkolonialismus verbunden und profitiere so sehr von ihm, dass es unmöglich sei, sie für eine Unterstützung des palästinensischen Befreiungskampfes zu gewinnen. Oberflächlich betrachtet scheint auch einiges für diese Einschätzung zu sprechen: Wahrscheinlich gibt es nur wenige Länder, in denen ein so großer Teil der Bevölkerung offensiv und ohne Scham offen faschistische Standpunkte vertritt und in denen allgemein die chauvinistische, rassistische Verhetzung der Bevölkerung so weit fortgeschritten ist. In Israel gibt es auf Social Media einen Trend, dass Influencer sich über sterbende Zivilisten in Gaza lustig machen. Es gibt Videos von feiernden Israelis, die den Tod palästinensischer Kinder bejubeln, aufgehängte Transparente in Tel Aviv, die explizit einen Genozid fordern und eine israelische Regierung, die offen und wiederholt ihre genozidale Absicht ausspricht, ohne irgendeinen Aufschrei der israelischen Gesellschaft befürchten zu müssen. Für die chauvinistische Einbindung der israelischen Arbeiterklasse gibt es natürlich auch eine materielle Basis: Sie leben auf Land, das den Palästinensern einst gewaltsam geraubt wurde. Ein Teil von ihnen lebt in Siedlungen im Westjordanland, wo aufgrund von staatlichen Subventionen das Leben deutlich billiger ist als in Israel selbst.
Doch können wir dabei stehen bleiben? Können wir alle oder fast alle Israelis als Faschisten abstempeln, die damit Feinde der internationalen Arbeiterklasse sind? Natürlich nicht. Vor allem ist diese Betrachtungsweise sehr oberflächlich. Sie geht von einem Bewusstseinsstand aus, der eine Momentaufnahme ist, statt die objektiven Klasseninteressen der israelischen Arbeiterklasse zu bestimmen und von diesen ausgehend strategische Orientierungen abzuleiten.
Das Kriterium für die Entwicklung der Strategie ist schließlich für Kommunisten nie das aktuelle Kräfteverhältnis oder der Bewusstseinsstand der Arbeiterklasse, sondern die gesetzmäßige Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse und die objektiven Interessen der Klassen, die in diesen Verhältnissen leben. Was ist also das objektive Interesse der israelischen Arbeiterklasse?
Israel ist ein Kolonialstaat und ein Apartheidstaat, aber es ist auch eine kapitalistische Klassengesellschaft. Die israelische Arbeiterklasse genießt massive Vorrechte gegenüber den Palästinensern, doch sie ist gleichzeitig, und das ist ihre wesentlichste Eigenschaft, eine ausgebeutete Klasse, die so wie die Arbeiter der ganzen Welt täglich ihre Arbeitskraft verkaufen muss, um den Profit der Kapitalisten zu vermehren. Die israelische Gesellschaft ist von extremer sozialer Ungleichheit geprägt, vergleichbar etwa den USA. Die ärmere Hälfte der Bevölkerung, die jüdische wie palästinensische Bürger Israels umfasst, verdienen umgerechnet nach Kaufkraft im Durchschnitt unter 1000 US$ im Monat, während es über 157.000 Millionäre im Land gibt21. Im vermeintlichen „Schutzraum für jüdisches Leben“, wie zionistische Propagandisten den Staat Israel bezeichnen, leben auch Millionen Juden unter unwürdigen und ärmlichen Verhältnissen. Das betrifft z.B. viele Juden aus arabischen Ländern, die unter falschen Versprechungen ins Land geholt wurden und in Israel in Armut leben und vielen rassistischen Diskriminierungen ausgesetzt sind. Es besteht jedenfalls kein Zweifel – auch der israelischen Arbeiterklasse hat der Kapitalismus nichts zu bieten, auch sie braucht den Sozialismus. Doch hat sie auch ein objektives Interesse am palästinensischen Befreiungskampf? Objektiv hat die israelische Arbeiterklasse dieses Interesse sogar in besonderem Maße. Denn sie bezahlt mit den Landgewinnen und Privilegien, die sie vom Kolonialsystem erhalten hat, mit der Stärkung der Klassenherrschaft ihrer Ausbeuter. Dieser Ausbeuter, der Klassenfeind der Arbeiterklasse Israels, ist die israelische Bourgeoisie, die mit einem bis an die Zähne bewaffneten terroristischen Staatsapparat regiert und die das israelische Volk in diesem Krieg in seinen verschiedenen Formen sterben lässt (im Krieg, als Folge von Anschlägen der palästinensischen Gruppen usw.). Auch der 7. Oktober 2023 hat gezeigt: Nirgendwo ist das Leben für Juden unsicherer, nirgendwo die Wahrscheinlichkeit eines gewaltsamen Todes für Juden höher als im angeblichen „Schutzraum“ Israel, der seine Bevölkerung letztlich als Kanonenfutter für seine ständigen Kolonialkriege benutzt.
Die israelische Bourgeoisie nutzt den von ihr selbst verursachten und ständig am Leben gehaltenen Kriegszustand, um ein chauvinistisches Klima zu schüren, das sich zuerst gegen die Palästinenser in den besetzten Gebieten, dann gegen die palästinensischen Bürger Israels, dann gegen die äthiopischen und arabischen Juden usw. richtet, bis die gesamte Arbeiterklasse nach ethnischen und religiösen Kriterien zersplittert und gegeneinander aufgehetzt ist. Nicht nur die Spaltung in Juden und Palästinenser ist relevant, sondern die der Juden untereinander in mittel- und osteuropäische (Aschkenasim), orientalische (Mizrachim), südeuropäische (Sephardim), äthiopische usw. sowie die der Palästinenser in die Bewohner des Gazastreifens, der Westbank und die Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft. Hauptleidtragende dieser effektiven Herrschaftsstrategie sind natürlich die Palästinenser, doch auch die jüdische Arbeiterklasse hat ein Interesse daran, die Spaltung und Zersplitterung der Klasse zu überwinden und für das gemeinsame Klasseninteresse zu kämpfen. Aus diesem Grund ist für die israelische Arbeiterklasse „die nationale Emanzipation Irlands keine Frage abstrakter Gerechtigkeit oder humanitärer Gefühle, sondern die erste Bedingung für ihre eigene soziale Emanzipation“. Haben wir Irland gesagt? Entschuldigung, wir wollten Palästina sagen. Nur sind es nicht wir, die hier sprechen, sondern Karl Marx in seinem Brief von 1870 an Meyer und Vogt über die Aufgaben der Internationale in der irischen Frage22. Wenn es also im vitalen Interesse der britischen Arbeiterklasse war, sich von dem Chauvinismus zu befreien, der die Unterdrückung des irischen Volkes rechtfertigte, so ist es im Interesse der israelischen Arbeiterklasse, die Unterdrückung des palästinensischen Volkes zu bekämpfen und zu überwinden – nur dann kann sie sich selbst befreien. Aus diesem Grund ist die israelische Arbeiterklasse für den palästinensischen Befreiungskampf nicht nur nicht der Feind, sondern objektiv ein Verbündeter. Die israelische Arbeiterklasse für dieses Bündnis zu gewinnen, ist zuallererst die Aufgabe der Kommunisten in Israel. Umgekehrt ist es für die Strategie des palästinensischen Befreiungskampfes aber auch von entscheidender Wichtigkeit, zumindest einen größeren Teil der israelischen Arbeiterklasse zu gewinnen. Denn solange das israelische Volk fast geschlossen hinter dem terroristischen Besatzungsregime steht (auch wenn viele vor seinen Verbrechen eher die Augen verschließen als sie explizit zu befürworten), ist ein Sieg kaum möglich. Wird der Kampf rein militärisch geführt, ohne eine politische Bündnisstrategie, werden die Palästinenser wahrscheinlich immer unterlegen bleiben.
3.2 Ein- oder Zwei-Staaten-Lösung?
Wenn wir nun von nationaler Befreiung Palästinas sprechen, was meinen wir dann damit? Die Diskussion über die genaue Form der nationalen Befreiung Palästinas, ob also eine Ein- oder Zwei-Staaten-Lösung angestrebt werden sollte, ist wichtig, aber es ist nicht die wichtigste Diskussion. Entscheidend ist zunächst einmal, in der kommunistischen Bewegung Einigkeit darüber zu erreichen, dass der palästinensische Befreiungskampf zu unterstützen ist; dass er auch dann zu unterstützen ist, wenn wir mit den Kräften, die darin eine führende Rolle spielen, in entscheidenden Punkten nicht übereinstimmen; dass Kritik an bürgerlichen Kräften im palästinensischen Befreiungskampf zwar richtig und legitim ist, aber die Verurteilung dieser Kräfte und die von den imperialistischen Medien ständig eingeforderte „Distanzierung“ falsch sind, weil sie die Verzerrungen und Lügen der Imperialisten bedient; dass der Befreiungskampf ein Kampf um die nationale und die soziale Befreiung, also die Befreiung vom Kapitalismus ist und die Kommunisten darin eine führende Rolle erkämpfen müssen, indem sie den Befreiungskampf konsequenter unterstützen, als es bürgerliche Kräfte können.
Das Ziel dieses Kampfes muss letzten Endes die Abschaffung jeder nationalen Unterdrückung und als Folge davon die Überwindung der Spaltung zwischen der israelischen und der palästinensischen Arbeiterklasse sein. Möglich ist das nur durch die völlige Gleichstellung und Gleichberechtigung beider Völker, eine umfassende Wiedergutmachung der israelischen Verbrechen an den Palästinensern, ein Rückkehrrecht oder mindestens eine gleichwertige Entschädigung für alle palästinensischen Flüchtlinge und letztlich auch eine Bestrafung der verantwortlichen Politiker und Militärs in Israel für ihre Verbrechen. Doch wie ist es möglich, dorthin zu kommen?
Die meisten kommunistischen Parteien vertreten bis heute die Forderung nach einer Zwei-Staaten-Lösung in den Grenzen von 1967, also vor dem Sechstagekrieg (in dem Israel u.a. den Gazastreifen und das Westjordanland militärisch eroberte) und mit Ostjerusalem als Hauptstadt des palästinensischen Staates. Sicherlich wäre ein solcher Plan, wenn er in einem wirklich unabhängigen palästinensischen Staat resultieren würde und nicht in einer erneuten Marionettenregierung Israels auf dem Territorium der Palästinenser, ein Fortschritt für das palästinensische Volk. Eine Zwei-Staaten-Lösung in dieser Form und mit definierten Grenzen Palästinas und Israels würde konkret bedeuten: Ein Ende der Hungerblockade Gazas durch die israelische Armee, ein Ende des israelischen Siedlungsbaus, der fortlaufenden territorialen Expansion des Zionismus und der Vertreibung der Palästinenser, ein Ende der Militärcheckpoints in der Westbank und des Apartheid-Straßensystems, das den Palästinensern die Nutzung des Großteils ihrer eigenen Straßen verbietet und vor allem ein Ende der periodisch wiederkehrenden Kriege Israels gegen das palästinensische Volk. Hätte eine solche Option die Chance, zur Realität zu werden, sollte man sie sicherlich unterstützen.
Doch erstens wäre sie nicht die endgültige Antwort auf die nationale Frage des palästinensischen Volkes: Sie beantwortet nicht, was mit den Millionen palästinensischen Flüchtlingen passieren soll, die in Palästina und seinen Nachbarländern seit Jahrzehnten in Flüchtlingslagern leben. Sollen sie alle in der dicht besiedelten Westbank Platz finden und auf Rückkehr in ihre Heimat und Häuser oder auf eine Entschädigung für die geraubten und zerstörten Häuser verzichten? Sie regelt auch nicht die Frage des Wiederaufbaus, wenn große Teile des palästinensischen Territoriums, insbesondere Gaza, durch Israels Kriege und Blockade unbewohnbar gemacht wurden. Zweitens stellt sich die Frage nach der Realisierbarkeit dieser Lösung: Etwa 10% der Bevölkerung Israels, 700.000 Personen, leben als Siedler im Westjordanland. Es ist einerseits völlig klar, dass ohne eine Evakuierung aller Siedler und die Übergabe der Siedlungen an den palästinensischen Staat eine Zweistaatenlösung unmöglich ist. Es gäbe ohne das Ende der Siedlungen kein zusammenhängendes palästinensisches Territorium, sondern einen nicht lebensfähigen Flickenteppich, der alle paar Kilometer vom israelischen Militär unterbrochen wird. Und genau das ist der wesentliche Grund, weshalb der Staat Israel unter allen seinen Regierungen den Siedlungsbau vorangetrieben hat: Um eine Zwei-Staaten-Lösung unmöglich zu machen. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, welche israelische Regierung bereit sein sollte, 700.000 Siedler aus dem Westjordanland abzuziehen. Da es sich beim Großteil dieser Siedler um rechtsextreme Fanatiker handelt, die in paramilitärischen Formationen organisiert und bewaffnet sind und der Überzeugung sind, durch den Landraub, den sie verüben, Gottes Werk zu tun, wäre eine solche Entscheidung ohne einen innerisraelischen Bürgerkrieg kaum vorstellbar.
Es ist klar, dass keine zionistische Regierung, auch keine, die einer „liberalen“ Variante des Zionismus folgt, eine solche Maßnahme ergreifen würde. Eine Zwei-Staaten-Lösung wäre also nur möglich, wenn dies entweder den Zionisten aufgezwungen wird, mit anderen Worten nach einer entscheidenden militärischen Niederlage Israels, oder wenn in Israel politische Kräfte an die Macht kämen, die bereit wären, nicht nur mit dem Ziel der ständigen territorialen Expansion zu brechen, sondern auch erheblichen Zwang gegen den rechtsextremen Teil der eigenen Gesellschaft anzuwenden, und sei es in der Form, dass die Versorgung und der militärische Schutz der Siedlungen durch Israel eingestellt würden. Die erste Option bedeutet einen militärischen Großkonflikt der umliegenden arabischen Staaten mit Israel, an dem zumindest im Moment keiner der arabischen Staaten interessiert zu sein scheint. Es bedeutet einen Krieg, der hauptsächlich zwischen bürgerlichen Staaten geführt werden würde, der möglicherweise zu einem großen Krieg in der Region eskalieren würde und in dem potenziell Hunderttausende ihr Leben lassen könnten, bei dem Kommunisten sich nicht auf die Seite der kapitalistischen Staaten schlagen dürfen, denn diese würden nicht um die Befreiung Palästinas kämpfen, sondern um die Neuaufteilung der Welt. Davon abgesehen ist es nur Spekulation, ob bei einer militärischen Niederlage wirklich ein Ende des Zionismus herauskommen würde – die vergangenen Kriege mit Israel beweisen eher, dass dies ein Wunschdenken ist.
Es bleibt also vermutlich kaum eine andere Möglichkeit, als den Zionismus politisch zu schlagen und Kräfte an die Macht zu bringen, die bereit sind, alles Notwendige zu tun, um einen dauerhaften gerechten Frieden zu gewährleisten. Damit auch in Israel in der Bevölkerung ein solches Bewusstsein Fuß fassen kann, muss durch entschlossenen Widerstand – den Widerstand der Palästinenser in seinen verschiedenen Formen, die Solidarität der Arbeiter- und Antikriegsbewegung auf der ganzen Welt, die Sympathie der arabischen und muslimischen Völker, aber letztlich auch die aus eigenen Interessen motivierte Unterstützung durch bürgerliche Staaten – der Preis für die fortgesetzte Besatzung und Kolonisierung immer weiter in die Höhe getrieben werden, damit sich Besatzung und Apartheid für die herrschende Klasse Israels nicht mehr lohnen. Erst wenn das zionistische Regime eine Mischung aus politischen und militärischen Niederlagen erleidet, wird das in der siedlerkolonialen Gesellschaft Israels ein Umdenken anregen. Denn umgekehrt zeigt sich: In Zeiten, in denen der Widerstand so schwach war, dass in Israel die Illusion einer heilen Welt mit gepflegten Parks, sauberen Spielplätzen und erfolgreichen Startup-Unternehmen aufrechterhalten bleiben konnte, gab es auch für diejenigen Israelis, die keine überzeugten Rassisten sind, keinen Grund, über die Besatzung und die Zustände auf der anderen Seite des Zauns nachzudenken – und deshalb schreitet die Faschisierung der israelischen Gesellschaft seit vielen Jahren ungebremst voran, während die Antikriegsbewegung weiter in die Defensive gerät. Also: Ohne einen organisierten, effektiven und opferbereiten palästinensischen Widerstandskampf wird es nicht vorangehen.
Wenn aber das Ende des Zionismus ohnehin die Voraussetzung für jede einigermaßen friedliche Koexistenz von Juden und Palästinensern in Palästina ist, dann stellt sich aber doch die Frage: Sobald diese, heute unendlich fern scheinende, aber doch unumgängliche Bedingung einmal erfüllt ist, wäre es dann nicht das Richtige, von vornherein einen gemeinsamen Staat aller in Palästina lebenden Menschen anzustreben?
Eine solche Ein-Staaten-Lösung würde bedeuten, dass das zionistische Projekt ein für alle Mal beendet wäre, dass es keinen „jüdischen Staat“ mehr gäbe, sondern einen Staat, in dem jüdische Israelis und Palästinenser völlig gleichberechtigt nebeneinander und miteinander leben würden, in dem die blutige Vergangenheit aufgearbeitet und das jahrzehntelange Unrecht gegenüber den Palästinensern wiedergutgemacht würde. Er wäre sicherlich nur als Ergebnis eines längeren Prozesses denkbar, in dem die Grundlage nicht nur für Frieden, sondern auch für ein Zusammenleben gelegt werden müssten. Dabei müssten natürlich vor allem die Israelis beweisen, dass sie den Frieden wollen und es kein Zurück zum Chauvinismus und Rassismus geben wird. Die rechte Panikmache, dass in einem gemeinsamen Staat nun die Juden diejenigen wären, die vertrieben und entrechtet würden, hat dabei wenig Grundlage. Ähnliches wurde auch über das Ende der Apartheid in Südafrika behauptet und auch dort gab es keine Pogrome gegen die Weißen, obwohl diese eine viel kleinere Minderheit darstellten als die Juden in Palästina. Als Ergebnis eines echten Friedensprozesses gäbe es auch schlicht keinen Grund dafür und es gibt historisch zahlreiche Beispiele einer friedlichen Koexistenz von jüdischen und arabisch-muslimischen Bevölkerungen – unter anderem in Palästina selbst.
Die Ein-Staaten-Lösung ist aber auch deshalb das richtige Ziel, weil sie das Problem – nämlich die Existenz eines Staates, der grundsätzlich ganz Palästina (und auch Teile seiner Nachbarländer) als sein potenzielles Territorium betrachtet und die Palästinenser als Fremdkörper auf diesem Land – an der Wurzel packen würde. Sie würde zudem ermöglichen, das Rückkehrrecht der Vertriebenen zu realisieren und ein friedliches Zusammenleben beider Völker anstatt einer bloßen Nachbarschaft umzusetzen. Eine Form der Zwei-Staaten-Lösung könnte dabei freilich einen ersten Schritt darstellen, der sich später in eine Art Konföderation und dann einen gemeinsamen Staat weiterentwickeln kann.
3.3 Das Verhältnis zu bürgerlichen Kräften im Widerstand
Eine Kernfrage der Differenzen in der kommunistischen Bewegung über den palästinensischen Befreiungskampf ist die, welches Verhältnis Kommunisten zu bürgerlichen Kräften des palästinensischen Widerstands eingehen sollten. Auf der einen Seite steht die Position, dass Kommunisten sich von Kräften, die eine reaktionäre Ideologie vertreten, aktiv distanzieren müssten. Andere sind der Ansicht, dass eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Kräften des palästinensischen Widerstands und Kritik an den islamischen Gruppen den Widerstand spalte und vom einzig relevanten Ziel ablenke, nämlich dem Kampf gegen den Zionismus.
Dass wir die zweite Position nicht teilen können, ergibt sich bereits aus unserer strategischen Orientierung. Die Verbindung des nationalen Befreiungskampfes mit dem revolutionären Kampf um den Sozialismus, die Ablehnung einer Etappenstrategie für Palästina bedeuten natürlich, dass bürgerliche Gruppierungen wie die Hamas oder der Palästinensische Islamische Dschihad (PIJ) Konkurrenten innerhalb der Befreiungsbewegung sind, deren Einfluss die Kommunisten bekämpfen und zurückdrängen müssen. Für eine sozialistische Revolution werden solche Kräfte nicht nur nicht zu gewinnen sein, sondern sie werden wahrscheinlich eines Tages als deren Todfeinde agieren und alles versuchen, sie zu verhindern.
Die Trennung der nationalen Frage von der Klassenfrage, wie sie die bürgerlichen Widerstandskräfte betreiben, bedeutet zweitens eine Schwächung des nationalen Befreiungskampfes. Nur die Kommunisten sind in der Lage, den täglichen Kampf der Volksmassen für Brot, Wohnung und menschenwürdige Lebensbedingungen konsequent mit dem Kampf gegen die Besatzung und Apartheid zu verbinden; nur sie können daher alle Energien, alle Kampfreserven des Volkes wirklich anzapfen und für den Kampf um die Befreiung mobilisieren.
Drittens bietet nur eine Strategie, die auf die Organisierung des Klassenkampfes abzielt, auch die Perspektive, an die Klasseninteressen des Proletariats auf der anderen Seite der Grenze zu appellieren. Insofern ist die Dominanz der Hamas in der palästinensischen Befreiungsbewegung aus Sicht der Zionisten eigentlich sogar günstig, jedenfalls im Vergleich zu einem Szenario, wo tatsächlich revolutionäre Kräfte die Befreiungsbewegung anführen würden.
Für die Kommunisten ist die Vorherrschaft von islamisch-konservativen Kräften in der Befreiungsbewegung aus den genannten Gründen hingegen durchaus ein Problem. Ihr Einfluss muss zurückgedrängt werden und die Kommunisten müssen auch (und vor allem) in diesem Kampf die Führung übernehmen.
Doch wie ist es möglich, an diesen Punkt zu kommen? Dafür sollten wir uns zunächst darüber bewusst werden, wie es die Hamas geschafft hat, zur fast unumstrittenen Führung des palästinensischen Widerstands zu werden. Die Ursachen dafür sind unterschiedlich: Zum einen das Versagen, ja der Verrat der säkularen Kräfte in Gestalt der PLO, die ihre Unterschrift unter das sogenannte „Friedensabkommen“ von Oslo gesetzt haben. In Oslo erkannte die PLO Israel an, jedoch ohne eine klare Garantie für einen palästinensischen Staat zu bekommen. Im Gegenteil wurde die Besatzung des Westjordanlandes festgeschrieben, indem das Land in drei Zonen aufgeteilt wurde, von denen der Großteil entweder allein unter israelische Kontrolle oder unter gemeinsame Verwaltung Israels und der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) gestellt wurde. Die neu gegründete PA war deshalb alles andere als ein Schritt zur Befreiung Palästinas – ganz im Gegenteil ist sie ein Instrument Israels, um mit einer Art palästinensischer Hilfspolizei die Besatzung des Westjordanlandes aufrechtzuerhalten und den palästinensischen Widerstand zu unterdrücken. Der Osloer Vertrag war somit in den Augen vieler Palästinenser eine einseitige Kapitulation vor Israel. Die Hamas schaffte es, sich dagegen als Kraft des konsequenten Widerstands zu profilieren, der Oslo und die Unterwerfung unter Israel ablehnte. Sie profitierte dabei davon, dass der israelische Staat sie jahrelang nicht behelligt bzw. gefördert hatte, um den damaligen Hauptfeind Israels, die PLO, durch den Aufstieg einer innerpalästinensischen Konkurrenz zu schwächen23. Dass die Hamas einen anhaltenden Einfluss auf die palästinensischen Massen in Gaza besitzt, liegt sicherlich weniger an ihrem programmatischen Ziel, einen islamischen Staat zu errichten als an ihrer tatsächlichen Führungsrolle im bewaffneten Widerstand. Um der Hamas diese Führung streitig zu machen, gibt es für die Kommunisten keinen anderen Weg, als selbst in der ersten Reihe des Widerstands gegen die Besatzung zu stehen. Dieser Weg funktioniert also nicht durch eine Kritik von außen, sondern nur durch den Kampf innerhalb der Widerstandsbewegung, wobei darauf geachtet werden muss, dass die objektive Konkurrenz unterschiedlicher Kräfte innerhalb der Widerstandsbewegung nicht den Widerstand insgesamt schwächt und damit nur den Besatzern nützt. Wäre das der Fall, würde es das Programm der Kommunisten in den Augen des Volkes diskreditieren.
Dieser entscheidende Punkt ist es, an dem ein Teil der kommunistischen Bewegung in Deutschland und der Welt entgleist ist. Aus verschiedenen Richtungen hören wir Argumente wie, dass die Hamas doch reaktionär sei; dass man doch aus den iranischen Erfahrungen gelernt habe; dass ein Bündnis mit den Islamisten nur dazu führt, dass am Ende die Kommunisten massakriert werden; dass die Hamas wahlweise einen Feudalstaat oder ein Regime nach dem Vorbild des IS oder der Taliban schaffen oder gar die Juden in Israel auslöschen wolle.
Mit all diesen Behauptungen wollen wir uns nicht allzu ausführlich beschäftigen. Das Problem mit der Hamas ist nicht, dass sie „feudal“ wäre – denn eine Rückkehr zum Feudalismus kann es nicht geben – sondern, dass sie bürgerlich ist, dass sie einen kapitalistischen Staat schaffen will und keinen Staat der Arbeiterklasse. Die Gleichsetzung der Hamas mit dem IS ist schlicht eine Wiederholung der israelischen Kriegspropaganda, die gezielt versucht, genau dieses Bild zu vermitteln. Mit der Realität hat sie nicht viel zu tun, denn nicht nur unterscheiden sich die Methoden erheblich, auch ideologisch hat die Hamas mehr mit der AKP und Erdogan gemein als mit dem IS. Während der IS „Ungläubige“ systematisch ermordet und seine Gewalttaten öffentlich zelebriert hat, leben unter der Hamas religiöse Minderheiten relativ unbehelligt. Und da, wo die Hamas repressiv gegen konkurrierende politische Kräfte vorgeht, ist das jedenfalls kein Vergleich zum offenen Staatsterror, dem alle palästinensischen Widerstandsgruppen von Seiten Israels ausgesetzt sind. Der Vorwurf des „eliminatorischen Antisemitismus“ ist besonders in Deutschland oft zu hören und geht ebenfalls an der Sache, die damit beschrieben werden soll, gänzlich vorbei. Was die Hamas antreibt, ist nicht der Wunsch nach Vernichtung möglichst vieler Juden, sondern der Kampf gegen den Zionismus und seinen Staat. Aus der Logik dieses Kampfes ergibt sich, dass Kämpfer der Hamas teilweise auch israelische Zivilisten umbringen – jedoch nicht per se, weil es sich um Juden handelt, sondern weil sie Bürger des Staates sind, mit dem die Hamas sich im Krieg befindet. Dagegen bemüht die Charta der Hamas von 2017 sich darum (anders als die überholte Charta von 1988), den Kampf gegen den Zionismus von dem gegen das Judentum abzugrenzen und lehnt Antisemitismus auch explizit ab24. Es gibt kein plausibles Argument, diese Formulierungen als reine Doppelzüngigkeit abzutun. In der Vergangenheit hat die Hamas sogar deutlich signalisiert, dass sie den Staat Israel akzeptieren würde, wenn Israel zu Zugeständnissen an die Palästinenser bereit wäre. So der Führer des bewaffneten Arms der Hamas Khaled Meshal, 2007: „Als Palästinenser spreche ich heute von einer palästinensischen und arabischen Forderung nach einem Staat in den Grenzen von 1967. Es stimmt, dass es in Wirklichkeit eine Entität oder einen Staat namens Israel auf dem Rest des palästinensischen Landes geben wird. Das ist eine Realität, aber ich werde mich damit nicht befassen, in dem ich sie anerkenne oder zulasse“.25 Ähnlich hat sich auch Ahmed Yusuf, Berater des politischen Führers Ismail Haniya, geäußert.
Auch die Taten der Hamas – ihre über die Jahre hinweg wiederholten Angebote für einen Waffenstillstand mit Israel26, die nach Aussagen freigelassener Geiseln durchaus humane Behandlung von Gefangenen27 usw. – belegen nicht den „antisemitischen Vernichtungswahn“, den ihr die herrschende Propaganda, aber auch deutsche Linke, die damit offensichtlich unter dem Einfluss dieser Propaganda stehen, unterstellen wollen.
In Deutschland, aber nicht nur dort, herrscht im „linken“, selbst im kommunistischen Spektrum eine sehr problematische Fixierung auf die Hamas als Feindbild vor. Problematisch ist sie nicht deshalb, weil die Hamas eigentlich unsere Sympathien verdient hätte, sondern weil dadurch das Wesen der Sache vollkommen verzerrt wird. Was in Palästina vor sich geht, ist nicht ein Krieg zwischen zwei Seiten, die beide abzulehnen sind, es ist schon gar kein „Religionskonflikt“ zwischen Juden und Muslimen, sondern es ist ein Kolonialkrieg um Land, eine ethnische Säuberung des Landes und ein Völkermord. Bei einem Völkermord gibt es aber keine „zwei Seiten“, sondern es gibt Täter und Opfer. Wenn Kommunisten die von der herrschenden Klasse diktierte Bedingung akzeptieren, dass die Verurteilung der Hamas als „antisemitisch“ Voraussetzung jeder Diskussion und jeder vorsichtigen Kritik an der Politik Israels ist, dann gibt man damit den Kapitalisten ein Herrschaftsinstrument in die Hand, das man ihnen gerade aus der Hand schlagen müsste. Wenn es akzeptiert wird, dass die Wurzel des Problems nicht das koloniale Herrschaftsverhältnis ist, sondern der angebliche Antisemitismus der Palästinenser, dann wird es unmöglich, einer Lösung des Konflikts näherzukommen.
Doch das Problem fängt nicht erst dort an, wo Kommunisten der Propaganda des Klassenfeindes aufsitzen und diese wiederholen. Vielmehr erkennen wir hier grundsätzlich problematische Auffassungen von der Strategie des nationalen Befreiungskampfes. Die Genossinnen und Genossen, die die „Distanzierung“ von der Hamas als Vorbedingung jeder Äußerung anerkennen, verstehen letztlich auch nicht, was ein nationaler und antikolonialer Befreiungskampf ist. Sie verstehen nicht, dass der Satz „der Hauptfeind steht im eigenen Land“ zwar für alle kapitalistischen Staaten gilt, aber nicht für ein tatsächlich kolonisiertes Volk; dass also Israel, bzw. die israelische Monopolbourgeoisie, der Hauptfeind der palästinensischen Arbeiterklasse und des palästinensischen Volkes ist und dass im Kampf gegen diesen astronomisch überlegenen Gegner alle Kräfte der Befreiungsbewegung gezwungen sind, ihre schwachen Kräfte auf diesen Feind zu richten; dass die Tatsache, dass eine nationale Befreiungsbewegung von Kräften geführt wird, die die Kommunisten in Zukunft bekämpfen werden, kein Grund ist, der Befreiungsbewegung den Rücken zu kehren, sondern gerade dazu anspornen muss, sie umso konsequenter voranzutreiben. Unter diesen Bedingungen ist auch eine konsequent kommunistische Kraft dazu gezwungen, mit anderen Organisationen des Widerstands punktuell zu kooperieren.
Wenn wir sagen, dass die Kommunisten in Palästina darum ringen müssen, den Widerstand anzuführen (anstatt sich von ihm abzugrenzen, weil er momentan von der Hamas angeführt wird), dann können wir auch konkret darüber sprechen, was das heißt. Es bedeutet, sich der Hamas nicht unterzuordnen und seine eigene Programmatik, eigene Kämpfe und eigene Forderungen zu entwickeln. Es bedeutet, auch dort, wo die Hamas regiert, für ökonomische Reformen im Interesse der Arbeiterklasse zu kämpfen, Zugeständnisse für die verelendeten Massen zu erkämpfen, dadurch die Idee des Sozialismus zu verbreiten und die Massen aufzuklären. In diesen Kämpfen ist die Hamas natürlich ein Gegner. Bei militärischen Aktionen gegen die Besatzungsmacht hingegen müssten die Kommunisten überprüfen, ob die Aktion dem Ziel der Befreiung des Volkes dient oder nicht und auf dieser Grundlage entscheiden, ob man sich an ihnen beteiligt oder nicht. Dabei gelten für Kommunisten natürlich andere Maßstäbe als für bürgerliche Kräfte, z.B. insofern als man zivile Opfer zu vermeiden versuchen sollte. Dies ergibt sich nicht nur aus moralischen Erwägungen, sondern vor allem auch daraus, dass die israelische Arbeiterklasse ja nicht der Feind ist, sondern als Verbündeter gewonnen werden soll. All das bedeutet aber eben auch, dass eine gewisse Zusammenarbeit mit der Hamas möglich und in bestimmten Fällen anzustreben ist – und gleichzeitig die Hamas in dem Maße angeprangert und entlarvt werden sollte, in dem ihre Aktionen dem Widerstand und dem bewaffneten Kampf schaden. Durch ein solches Verhältnis zu den bürgerlichen Widerstandskräften wird eben nicht die sozialistische Revolution im Namen der nationalen Befreiung geopfert, sondern im Gegenteil die Aussichten auf die sozialistische Revolution gerade dadurch gestärkt, dass man alle Kräfte auf die nationale Befreiung ausrichtet. Eine Spaltung des Widerstands aufgrund ideologischer Differenzen und trotz der Einigkeit im strategischen Ziel, die koloniale Unterdrückung abzuschütteln, ist Sektierertum und nützt einzig und allein den Herrschenden, die alles tun werden, um solche Spaltungen zu fördern und zu vertiefen.
Die hier skizzierte strategische Linie des nationalen Befreiungskampfes ist ganz und gar nicht neu. Es ist grundsätzlich die Linie, die kommunistische Parteien schon immer in nationalen Befreiungskämpfen verfolgt haben, sei es in China, wo die KP in bestimmten Situationen mit der bürgerlich-nationalistischen Kuomintang zusammengearbeitet und sie in anderen bekämpft hat, sei es die Zusammenarbeit Che Guevaras mit nichtkommunistischen Revolutionären im kubanischen Befreiungskampf, die nationalen Befreiungsbewegungen in Vietnam oder auf dem Balkan im Zweiten Weltkrieg – überall haben die Kommunisten die Führung in diesem Widerstandskampf dadurch gewonnen, dass sie gemeinsam mit anderen Kräften gegen den Hauptfeind kämpften, in diesem Kampf die Führung gewannen und gegebenenfalls, wie im Falle Chinas oder Griechenlands, auch den Kampf gegen die bürgerlichen Kräfte aufnahmen, wo und wenn es notwendig wurde. Dabei wurden sicherlich taktische Fehler gemacht (auch teilweise sehr schwere), doch der Fehler bestand nicht darin, überhaupt in einem nationalen Befreiungskampf gemeinsame Absprachen, punktuelle Zusammenarbeit und vereinzelt Bündnisse mit nichtkommunistischen Kräften einzugehen.
Wodurch unterscheidet sich der Fall Palästina von all diesen Beispielen? Einige antworten darauf damit, dass die Hamas eine islamistische, fundamentalistische Organisation sei und wir als Kommunisten doch den Säkularismus verteidigen würden. Beides ist richtig und beides verfehlt an dieser Stelle völlig den Kern der Sache. Der Kern eines Konflikts liegt nun einmal nicht in seinem ideologischen Überbau, sondern in der materiellen Basis begründet. Deshalb ergibt es keinerlei Sinn, den Chauvinismus palästinensischer Gruppen mit dem israelischen Chauvinismus gleichzusetzen. Abstrakt gesehen mögen beide „schlimm“ sein, doch der Marxismus lehrt uns, das Wesen der Sache nicht in Reden, Parolen und Ideen zu suchen, sondern vielmehr darauf zu achten, wovon die Ideologie Ausdruck ist. Auf der einen Seite gibt es einen Chauvinismus, der den israelischen Kolonialismus, das sich daraus zwangsläufig ergebende Apartheidsystem und großenteils auch den Genozid rechtfertigt und auf der anderen Seite gibt es einen Chauvinismus, der eine falsche ideologische Hülle eines an sich gerechtfertigten Kampfes gegen Unterdrückung ist.
Der Widerstand gegen die Kolonisierung ist die Essenz des Nationalismus der Hamas oder zumindest die materielle Grundlage ihres Erfolgs. Es stellt natürlich ein großes Problem für uns dar, dass die einzige Ideologie, die heute vor Ort erfolgreich damit ist, zum Vehikel des Befreiungswunsches der palästinensischen Massen zu werden, die islamistische ist, diejenige, die Israel und die CIA (z.B. in Afghanistan) finanziert und angefacht haben, um den säkularen Widerstand bzw. den Kommunismus zu bekämpfen.
Dass dies so ist, sollte uns aber auch nicht allzu sehr überraschen, wenn es stimmt, dass die Religion nichts als der „Heiligenschein“ des „Jammertales“ ist, als das Marx die unterdrückerischen und menschenfeindlichen Verhältnisse der Klassengesellschaften bezeichnet28. Der politische Islam hat den Unterdrückten in Palästina eine Ideologie gegeben, die nicht nur mit ihrer nationalen Identität kompatibel scheint und, wenn auch in idealistisch verdrehter Form, das „Jammertal“ des irdischen Lebens im Kapitalismus anprangert, sondern auch das Märtyrertum, das angesichts des immensen Machtgefälles für so viele Söhne und Töchter des palästinensischen Volkes das unvermeidliche Ende ihres Kampfes bedeutet, erträglich zu machen scheint. Wenn wir um die Führung im Befreiungskampf ringen, müssen wir genauso darum ringen, die schädliche Ideologie aus den Köpfen der Palästinenser zu treiben. Wenn wir die Massen vom Sozialismus und von der Richtigkeit unserer Strategie und Taktik überzeugen wollen, heißt das die Religion zurückzudrängen. Dabei müssen wir uns aber der Ursache ihres Erfolgs bewusst sein und auch den ideologischen Kampf taktisch klug angehen, um die Massen nicht von uns zu isolieren. Denn, wenn Kommunisten in dieser konkreten historischen Situation glauben, der Hauptfeind sei der politische Islam, dann bedeutet das, dass sie Wesen und Erscheinung der Sache miteinander vertauscht haben.
Eine seltsame Blüte dieser Abweichung besteht auch darin, wenn Kommunisten für die Hamas die schlimmsten Verurteilungen finden, aber ihren Hauptrivalen, die Fatah, mit Samthandschuhen anfassen. Der Grund dafür ist offensichtlich wieder ein idealistisches Herangehen, das ignoriert, welche Rolle diese Kräfte tatsächlich spielen: Nämlich im Falle der Fatah die Rolle, für die Kolonialherren als Verwalter eines Bantustans29zu agieren und dabei nicht zuletzt auch repressive Funktionen für Israel auszuführen. Bei allem, was an der Hamas problematisch und kritikwürdig ist, stellt die Fatah für den palästinensischen Befreiungskampf das weitaus größere Problem dar.
4 Der internationale Kontext
Zur marxistischen Methode des Herangehens an Konflikte gehört, dass jeder Konflikt als Teil eines größeren, weltweiten Gesamtzusammenhangs zu betrachten ist, dass die Wechselwirkung mit den Widersprüchen des Imperialismus auf Weltebene immer zu bedenken ist. Das gilt selbstverständlich auch für den Krieg in Palästina. Oben wurde ausgeführt, dass der Krieg von seinem Charakter her einerseits von israelischer Seite ein Kolonialkrieg ist und andrerseits von palästinensischer Seite ein nationaler Befreiungskrieg. Es handelt sich also nicht im Wesentlichen um einen Konflikt zwischen den Imperialisten um die Neuaufteilung der Welt.
Das bedeutet aber natürlich nicht, dass andere imperialistische Interessen als die israelischen darin keine Rolle spielen würden. Betrachten wir zunächst die Interessen der größten imperialistischen Zentren: Da sind zuerst die Interessen der USA zu nennen, für die die Region des „Mittleren Ostens“ (Westasiens) aufgrund ihrer Ölreserven, aber auch der Aktivitäten der gegnerischen Mächte Russland und Iran nach wie vor eine besondere geostrategische Bedeutung hat und die deshalb Israels wichtigste Unterstützer bleiben und in der Tat eine notwendige Bedingung für die Fortexistenz des zionistischen Kolonialprojekts. In zweiter Hinsicht sind da aber auch die Interessen der größten kapitalistischen Mächte der EU zu nennen, die ebenfalls teils enge Wirtschaftsbeziehungen mit Israel haben, es mit Waffensystemen beliefern und für die Israel genauso den Charakter eines Vorpostens in dieser – auch für die EU strategisch entscheidenden – Region hat.
Komplizierter ist die Haltung Russlands: Die russische Bourgeoisie pflegt einerseits seit langem enge Beziehungen zu Israel und Israel hat umgekehrt die Sanktionen gegen Russland nach Beginn der russischen Invasion nicht mitgetragen. Andrerseits ist Moskau aber auch mit dem Iran und Syrien verbündet, zwei Erzfeinden Israels, und ringt um Einfluss in der arabischen Welt.
Die Türkei hatte historisch gute Beziehungen zu Israel, die auch noch bis in die ersten Jahre der Regierungszeit Recep Tayyip Erdoğans reichten. Ungefähr seit 2008-2010, konkret ausgelöst durch den israelischen Angriff auf Gaza 2008/2009 („Operation Gegossenes Blei“) und den Überfall auf das türkische Schiff Mavi Marmara 2010, das mit Hilfsgütern auf dem Weg nach Gaza war, hat eine Neupositionierung der Türkei stattgefunden. Der tatsächliche Hintergrund ist die seit dieser Zeit stattfindende Reorientierung der Türkei unter der AKP auf engere Beziehungen zu Nicht-NATO-Staaten und zur arabischen Welt. Dies dient dem Bemühen, eine eigenständigere Rolle als regionale Großmacht unabhängig von der NATO zu spielen und sich als Interessenvertretung aller Muslime darzustellen. Dabei hilft der türkischen Regierung auch die ideologische Nähe der AKP zur Hamas, die von der Türkei als legitime Widerstandsbewegung bezeichnet und politisch unterstützt wird. Doch die wiederholte Kritik Erdoğans an israelischen Verbrechen sollte niemanden täuschen: Offensichtlich geht es dem türkischen Staat, der in seinem eigenen Südosten, in Nordsyrien, Armenien/Aserbaidschan und gegenüber Griechenland seine eigene Kriegspolitik verfolgt, keineswegs darum, unschuldige Leben zu retten, sondern darum, mithilfe des Themas Palästina eigene Interessen voranzubringen.
China hat seit 1992 diplomatische Beziehungen mit Israel, die seitdem immer weiter ausgebaut wurden. Dahinter stehen vor allem Profitinteressen der chinesischen Bourgeoisie: Zwischen 2015 und 2018 war Israel größter Empfänger chinesischer Kapitalexporte in der Region. Seit der Verkündung der „Belt and Road Initiative“ wurden viele Milliarden US-Dollar in israelische Infrastrukturprojekte investiert (obwohl Israel als Verbündeter der USA nicht einmal die BRI unterschrieben hat)30. Zweitens investiert China im großen Stil in den israelischen Hochtechnologiesektor, beispielsweise elektronische Ausrüstung, medizinische Instrumente und Telekommunikation. Dass die chinesische Regierung Israels genozidalen Krieg in Worten zumindest verhalten kritisiert (und sich damit sicherlich von Ländern wie den USA oder Deutschland unterscheidet), tut den florierenden Geschäften keinen Abbruch31. Diese Position Chinas bedient dabei also sowohl das Interesse an fortgesetzten Geschäften mit Israel als auch die Orientierung auf enge Beziehungen zum Iran und einigen arabischen Ländern. Dazu profitiert China noch von den Angriffen der Hamas, ohne dabei eindeutig auf ihrer Seite stehen zu müssen: China kann nun in der Region Einfluss gewinnen, jetzt wo Israels Normalisierungspolitik und somit die geplante US-Handelsroute (als Konkurrentin der neuen Seidenstraße) zwischen Saudi-Arabien und Israel erstmal gestoppt sind. So sind die von chinesischen Monopolen dominierten Häfen von Aschdod32 und Haifa33 weiter in Betrieb, dagegen die Operationen im Hafen von Aschkelon34 und Israels zweitgrößtem Gasfeld Tamar35, die größtenteils von amerikanischen Konzernen dominiert werden, eingestellt. Die Handelsrouten auf dem Wasser, über den Suezkanal und auch über das Rote Meer wird zunehmend mehr durch die BRICS kontrolliert36, wo China eine Hauptrolle spielt. Auch auf dem Land werden die Pläne der chinesischen Regierung so weiter vorangebracht: Der Bau einer Öl- und Gaspipeline37 vom Süden Irans bis zum Mittelmeer durch das Territorium des Irak, Syriens und Libyens hat jetzt größere Chancen, realisiert zu werden.
Warum gehen wir überhaupt so ausführlich auf China ein, wo doch viel eher die westlichen Staaten hinter Israel stehen? Der Grund ist, dass in letzter Zeit von einigen Kommunisten die These aufgestellt wird, der Krieg in Palästina sei letzten Endes Ausdruck des globalen Konflikts zwischen dem USA/NATO-Bündnis einerseits und dem Block um Russland und China andererseits.
In besonders extremer Form wird diese These beispielsweise von der aus Russland stammenden Organisation „Politsturm“ vertreten, die schreibt: „Auf beiden Seiten sind reaktionäre Kräfte in den Konflikt verwickelt, die die arbeitenden Bürger Israels und Palästinas gegeneinander ausspielen und das Ziel verfolgen, ihre eigene Vorherrschaft in der Region zu errichten. Hinter jeder der rivalisierenden Parteien stehen imperialistische Mächte mit Interessen in dieser Region. Israel wird vom amerikanischen und europäischen Kapital unterstützt; es ist ein Pfeiler der NATO in der Region. Die Hamas und Palästina werden vom iranischen, türkischen und chinesischen Kapital unterstützt, das seine eigene Position durch die Schwächung Israels stärken will. Auch die Russische Föderation ist an einer Schwächung der Positionen Israels und des westlichen Kapitals interessiert.“ Deshalb gelte: „Keine der beiden Seiten kann von den Arbeitern und Kommunisten unterstützt werden.“38. Die verheerende Schlussfolgerung ist also: Der palästinensische Befreiungskampf ist nicht unsere Sache oder er ist es höchstens abstrakt im Sinne allgemeiner Deklarationen.
Nun ist es eine Sache, festzustellen, dass die hauptsächlichen imperialistischen Konflikte sich auch in jedem einzelnen Konflikt niederschlagen. Eine ganz andere ist es, zu behaupten, dass diese globalen Konfliktlinien das Wesen eines lokalen Krieges oder Konfliktes ausmachen würden (wie es beispielsweise in der Ukraine oder Taiwan zweifellos der Fall ist) oder gar die Kriegsparteien zu bloßen Marionetten der großen imperialistischen Zentren zu degradieren. Eine solche Interpretation ist schlicht absurd: Israel ist keine Marionette der USA, sondern ein eigenständiger kapitalistischer Staat mit einer eigenen Bourgeoisie, trotz enger Abhängigkeitsverhältnisse. Und die palästinensischen Widerstandsgruppen sind erst recht keine Marionetten Chinas oder Russlands in ihrem Konflikt mit der NATO und den USA.
Der palästinensische Widerstand – und zwar nicht nur die islamischen, sondern zum Teil auch säkulare Kräfte – wird in erster Linie vom Iran, Qatar und teilweise auch der Türkei unterstützt. Natürlich agiert keiner dieser Staaten aus altruistischen Motiven oder aus Mitgefühl mit den Palästinensern. Wie alle drei dieser Staaten ihre eigene Arbeiterklasse unterdrücken, ist bekannt.
Kann ein Kampf, der von kapitalistischen Ländern unterstützt wird, trotzdem ein gerechter Kampf sein, der der Sache des Sozialismus nützt? Wenn das nicht möglich wäre, dann wäre die Sache freilich erledigt: Es wird immer irgendein kapitalistisches Land geben (eigentlich immer weniger), das die palästinensische Sache und die bürgerlichen Kräfte, die sie anführen, aus eigenen Interessen unterstützen wird. Andererseits ist dies bei jeder nationalen Befreiungsbewegung der Fall, bei der es für eine bürgerliche Führung selbstverständlich ist, Verbündete und sogar potenzielle künftige Wirtschaftspartner zu suchen. Selbst eine kommunistische Führung des Befreiungskampfes könnte kaum auf die Unterstützung bürgerlicher Staaten verzichten, wenn sie ihr angeboten würde – nur dass es deutlich unwahrscheinlicher wäre, dass es dazu überhaupt kommt. Wäre es in jedem Fall falsch, die Hilfe von Kapitalisten anzunehmen, dann müssten wir auch die Bolschewiki dafür verurteilen, dass Lenin sich 1917 mit deutscher Unterstützung in den Zug nach Petrograd gesetzt hat. Mit einer solchen Herangehensweise könnten wir dann zwar auf unsere unbefleckte moralische und politische Reinheit stolz sein, würden aber in Wirklichkeit darauf verzichten, die Welt zu verändern.
Wenn ein nationaler Befreiungskampf eine gerechte Sache ist, dann kann und muss er auch in die internationale Politik eingreifen und versuchen, zwischenimperialistische Widersprüche auszunutzen, und das auch noch vor der Machtübernahme. Das Problem besteht eher darin, die Grenzen zu verstehen, innerhalb derer dies geschehen kann. Denn natürlich ist die Abhängigkeit des Widerstands von Unterstützung aus dem Iran oder Qatar auch ein Problem, wenn auch ein unvermeidliches.
Natürlich ist unser Ziel ein lebensfähiges und letztlich sozialistisches Palästina, das nicht am Tropf anderer Staaten hängt. Trotzdem wäre selbst ein palästinensischer Staat, der von anderen Ländern abhängt, ein historischer Fortschritt für die Palästinenser – so wie die Dekolonisierung in Afrika auch trotz der fortbestehenden Abhängigkeiten der dortigen Länder ein Fortschritt war. Das palästinensische Volk kämpft seit 75 Jahren für seine Unabhängigkeit. Es entwertet nicht nur den opferreichen palästinensischen Befreiungskampf, sondern entspricht auch nicht der Realität, wenn seine Opfer zu bloßen Schachfiguren in den Plänen anderer Mächte gemacht werden.
War es denn in diesem konkreten Fall, bei der „Operation Al-Aqsa-Flut“ so, dass die Hamas im Auftrag oder als objektiver Agent fremder Mächte gehandelt hat?
Wie oben bereits erwähnt, halten wir es für falsch die Hamas nicht als eigenständigen Akteur zu sehen. Weder die USA noch die Bundesrepublik, die sicherlich ein großes Interesse hätten, den Angriff als eine vom Iran inszenierte Aktion darzustellen, haben solche Behauptungen aufgestellt, sondern mussten zugestehen, dass es dafür keine Beweise gibt.
Und auch die Fakten sprechen dagegen: Wäre der Iran der heimliche Drahtzieher der Aktion, wäre es dann nicht wahrscheinlich, dass die Hisbollah gleichzeitig und in Koordination mit der Hamas aus dem Libanon von Norden her angegriffen hätte? Bisher hat die Hisbollah sich allerdings fast nur rhetorisch (und durch ein paar eher symbolische Raketenabschüsse) in den Krieg eingemischt. Die ebenfalls vom Iran unterstützte Ansarollah im Jemen hat zudem eine Blockade gegen israelische Schiffe verhängt, auch das belegt aber keine von Anfang an gemeinsam vorbereitete Aktion. Dennoch profitiert der Iran vom Krieg, so wie er läuft, ohne sich die Hände schmutzig machen zu müssen. Das palästinensische Volk muss bluten, während die iranische Regierung nur Waffen an die Hamas und Milizen in der Region liefert. So müssen die Herrschenden des Irans nicht Soldaten ins Schlachtfeld schicken und geht nicht die Gefahr ein, in einem offenen Krieg mit Israel zu eskalieren. Auch die Normalisierungsabkommen liegen auf Eis, ohne dass der Iran dafür große Risiken eingehen musste.
Das taktische Problem der Hamas und anderer bewaffneter Gruppen besteht also gerade darin, dass sie international kaum mächtige Verbündete haben. Ihr Problem in den letzten Jahren war, dass einige Elemente der internationalen Lage sich eher zu ihren Ungunsten verschoben haben, wobei insbesondere die Annäherung Saudi-Arabiens und anderer arabischer Staaten an Israel zu nennen ist. Und genau hier lag ein wesentliches Motiv der Hamas für die „Operation Al-Aqsa-Flut“. Paola Caridi, eine internationale Expertin für die Hamas, schreibt: „Die zweite Botschaft (der Hamas) richtet sich an die Länder in der Region, die zu den Akteuren gehören, die versuchen, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Dazu gehört auch der Iran. In der Tat hat niemand in der Region die Wiederaufnahme der Beziehungen zwischen den beiden großen Feinden, Iran und Saudi-Arabien, vergessen, die vor einigen Monaten von China abgesegnet wurde. Und die Hamas hat sich vielleicht von einer regionalen Politik, die dazu neigen könnte, den Gazastreifen zu opfern, erdrückt gefühlt.“39
Eine Bewertung dieser Aktion aus taktischer Sicht für den Befreiungskampf, inwiefern er diesem genutzt hat oder nicht, wollen wir hier nicht vornehmen. Es ist im Interesse des palästinensischen Volkes und seines Befreiungskampfes, nicht noch weiter isoliert zu werden und an den Plänen anderer (wie den Abraham Accords40) zu ersticken. Die Bourgeoisien fast aller arabischen Länder haben den palästinensischen Befreiungskampf schon lange verraten, doch sie stehen vor dem Problem, dass die Volksmassen in ausnahmslos allen arabischen Ländern (und auch allgemein in der muslimischen Welt) stark mit dem Kampf der Palästinenser sympathisieren – und das bietet einen Ansatzpunkt für die palästinensische nationale Befreiungsbewegung, die Pläne der arabischen Bourgeoisien zu durchkreuzen und sie zu einer, wie auch immer inkonsequenten, Unterstützung der Palästinenser zu zwingen.
Dass die palästinensische Bewegung sich an die kapitalistischen Staaten der Region wendet und versucht, ihre Außenpolitik im palästinensischen Interesse zu beeinflussen, können wir als Kommunisten nicht verurteilen. Es zu verurteilen und damit den nationalen Befreiungskampf zu sabotieren, während wir selbst in einem Land leben, dessen nationale Frage vor langer Zeit gelöst wurde, wäre in der Tat Ausdruck einer chauvinistischen Haltung.
Es ist klar, dass solche Kalküle immer auch ein gefährliches Spiel sind, bei dem der Eintritt anderer Akteure den lokalen Konflikt in einen regionalen Konflikt verwandeln und sogar zu einem Weltkrieg führen könnte. Doch können wir als Kommunisten nicht ausgerechnet an die Palästinenser, das am brutalsten unterdrückte Volk der ganzen Region, appellieren, ihren Befreiungskampf einzustellen. Denn für sie gab und gibt es keinen Frieden. Jeder Waffenstillstand ist höchstens eine Atempause und eigentlich nicht einmal das, da der Siedlungsbau, die Vertreibung, die Razzien und die gezielten Ermordungen durch Israel weitergehen. Die Forderung an die Palästinenser, den bewaffneten Kampf einzustellen, ist nicht nur chauvinistisch und politisch falsch, sie ist auch völlig unrealistisch, eben weil den Palästinensern nur die Wahl bleibt, zu kämpfen oder unterzugehen.
5 Fazit
Was ist die entscheidende Schlussfolgerung aus all dem?
Zunächst einmal: Der Kampf der Palästinenser um Befreiung ist legitim. Punkt. Zweitens: Die Arbeiterklasse der ganzen Welt und folglich natürlich auch die Kommunisten aller Länder haben nicht nur das Interesse, sondern auch die Verpflichtung, diesen Kampf zu unterstützen – ihn nicht nur abstrakt zu unterstützen, sondern auch konkret, indem das Recht der Palästinenser auf diesen Kampf verteidigt und die Komplizenschaft der Bourgeoisien der meisten Länder mit Israel angegriffen wird. Drittens: Das grundsätzliche Verhältnis der Kommunisten zu diesem Kampf hängt nicht davon ab, ob darin momentan bürgerliche oder proletarische Kräfte die Führung ausüben. Viertens: Die Position der Kommunisten zu diesem Befreiungskampf kann dennoch nicht die gleiche sein wie die der bürgerlichen Kräfte. Sie müssen diesen Befreiungskampf als integralen Teil des Kampfes um die Befreiung der Arbeiterklasse begreifen, die nationale mit der sozialen Frage verbinden und die nationale Befreiung mit dem Sozialismus.
Der Zionismus und der verlogene Antisemitismusvorwurf, der gegen jeden erhoben wird, der Israel kritisiert, sind vor allem in Deutschland eine mächtige Waffe der Kapitalisten und der Reaktion (einschließlich der „Linkspartei“) gegen die Arbeiterklasse, ein Instrument, um demokratische Rechte abzuschaffen und Revolutionäre zu verleumden, einzuschüchtern, zu unterdrücken und zu verbieten. Der Zionismus und die Instrumentalisierung des Antisemitismusvorwurfs gehören zusammen – ohne das wäre es dem Zionismus unmöglich, das Ausmaß an internationaler Unterstützung zu generieren, das ihn bisher am Leben gehalten hat. Diejenigen, die den Vorwurf des Antisemitismus in Deutschland missbrauchen, sind dabei Angehörige derselben herrschenden Klasse, die nicht nur während des Naziregimes, sondern schon lange davor die Massen gegen die Juden aufgehetzt, die Juden den Pogromen zum Fraß vorgeworfen und den Antisemitismus als Waffe gegen den angeblich „jüdischen“ Marxismus verwendet haben. So abstoßend es ist, es bleibt eine Tatsache: Die Anprangerung des größten Verbrechens des letzten Jahrhunderts, an dem die gesamte imperialistische Bourgeoisie mitschuldig ist (weil sie ähnliche Verbrechen in ihren eigenen Kolonien begingen, weil sie Hitlers Aufstieg als antikommunistische Funktion unterstützt hat, weil sie immer und ständig den Antisemitismus geschürt hat, usw.), ist zum Werkzeug der westlichen imperialistischen Bourgeoisie geworden, um eines der größten Verbrechen dieses Jahrhunderts zu rechtfertigen. Dieses Verbrechen begehen die Herrschenden zuerst an den Palästinensern, deren Unterdrückung und Ermordung damit gerechtfertigt wird; aber sie begehen es auch an den Juden – an den ermordeten Juden, deren Andenken sie beschmutzen und an den lebenden Juden, deren Sicherheit sie dadurch gefährden, dass sie das Judentum mit dem Zionismus, also mit Unterdrückung und Rassismus gleichsetzen und damit den Antisemitismus in der Gesellschaft weiter schüren. Denn für die Juden auf der ganzen Welt und ihr gerechtfertigtes Bedürfnis nach einem Leben in Sicherheit und ohne Diskriminierung stellen die ständigen Gleichsetzungen des Judentums mit den Verbrechen Israels ein großes Problem dar. Indem die herrschende Propaganda in Deutschland und anderswo die Juden mit dem Staat Israel in Verbindung bringt, obwohl es Millionen Juden gibt, die keine Israelis und oft auch keine Zionisten sind, trägt sie dazu bei, dass die Ablehnung Israels und seiner Politik sich tatsächlich gegen das Judentum wenden kann.
Der Kampf für die Einheit der Arbeiterklasse in unserem Land, gegen die Spaltung durch Rassismus in all seinen Formen (ob anti-palästinensisch oder anti-jüdisch), gegen die Kriegspolitik der Herrschenden verpflichtet uns deshalb dazu, in unserem eigenen Interesse, ohne Angst vor der Diffamierung durch die herrschende Propaganda oder die Repression des Staates, die Solidarität mit dem palästinensischen Volk auf die politische Tagesordnung zu setzen.
1 Aus dem Englischen übersetzt: “The international proletarian revolution represents a combination of processes which vary in time and character; purely proletarian revolutions; revolutions of a bourgeois-democratic type which grow into proletarian revolutions; wars for national liberation; colonial revolutions. The world dictatorship of the proletariat comes only as the final result of the revolutionary process”; “national wars and colonial rebellions which, although not in themselves revolutionary proletarian socialist movements, are nevertheless, objectively, in so far as they undermine the domination of imperialism, constituent parts of the world proletarian revolution”; Programme of the Communist International, 1929, online: https://www.marxists.org/history/international/comintern/6th-congress/index.htm
2Eine Nation ist das Judentum nicht, weil ihm fast alle Kennzeichen einer Nation fehlen: Eine gemeinsame Sprache, ein gemeinsamer historischer Siedlungsraum usw. Das moderne Hebräisch wurde deshalb als eine aktualisierte Form des alten Hebräisch, das bis dahin nur noch als Liturgiesprache verwendet wurde, in Israel wieder eingeführt. Bis dahin sprachen die Juden verschiedene spezifisch jüdische Sprachen (Jiddisch, Ladino) oder eben die Sprachen ihrer Heimatländer.
3 Aus dem Englischen übersetzt: “The Jewish element of the population numbers 76,000. Almost all have entered Palestine during the last 40 years. Prior to 1850 there were in the country only a handful of Jews”, Mandate for Palestine – Interim report of the Mandatory to the League of Nations/Balfour Declaration text (30 July 1921), online: https://www.un.org/unispal/document/auto-insert-204267/, abgerufen 5.12.2023.
4 Jewish Virtual Library, online: https://www.jewishvirtuallibrary.org/jewish-and-non-jewish-population-of-israel-palestine-1517-present?utm_content=cmp-true , abgerufen 5.12.2023.
5 Vgl. Ilan Pappé 2007: The ethnic cleansing of Palestine, Oneworld Publications, London.
6 Ebd.
7 Grundgesetz: Israel – Nationalstaat des jüdischen Volkes, online: https://www.swp-berlin.org/publications/products/sonstiges/2018A50_Anhang_IsraelNationalstaatsgesetz.pdf, abgerufen 19.12.2023.
8 Norman Paech: „Schwerter aus Eisen“ – ein Völkermord in Gaza, online: https://www.nachdenkseiten.de/?p=106148, abgerufen 5.12.2023.
9 Tagesschau: Israels Ultrarechte im Krieg, 21.11.2023, online: https://www.tagesschau.de/ausland/rechtsextreme-krieg-nahost-israel-gaza-hamas-100.html, abgerufen 5.12.2023.
10 New York Times: “Erase Gaza”: War Unleashes Incendiary Rhetoric in Israel, 15.11.2023, online: https://www.nytimes.com/2023/11/15/world/middleeast/israel-gaza-war-rhetoric.html, abgerufen 5.12.2023.
11 https://www.investing.com/equities/pal-telecomms-company-profile , online abgerufen 7.12.2023.
12 https://bankofpalestine.com/en/investor-relations/factsheet/facts, online abgerufen 7.12.2023.
13 https://www.padico.com/en/padico-holdings-profits-12-8-million-for-the-first-half-of-2021 ; https://www.padico.com/en/home/ , online abgerufen 7.12.2023.
14 Gaza Palestine General Federation of Trade Unions
15 https://web.archive.org/web/20230530134752/http://ithadpal.ps/wp/?p=3487, abgerufen 05.02.2024.
16https://www.aa.com.tr/en/gaza/gaza-civil-servants-stage-general-strike/104871, online abgerufen 05.02.2024.
17https://english.aawsat.com/home/article/3414056/8-hamas-islamic-jihad-leaders-leave-gaza-live-abroad, online abgerufen 05.02.2024.
18https://apnews.com/article/hamas-gaza-israel-persian-gulf-istanbul-317bba74211a70a4d09db127992bd847, online abgerufen 05.02.2024.
19https://www.capital.de/wirtschaft-politik/die-hamas-fuehrer-leben-im-luxus—woher-stammt-das-geld–34173120.html, online abgerufen 05.02.2024 sowie
https://www.spiegel.de/ausland/israel-tastete-finanzierungsnetzwerk-der-hamas-laut-medienbericht-jahrelang-nicht-an-a-57a30074-be6a-4950-9658-cb1f4c6a6d23, online abgerufen 05.02.2024.
20https://www.handelsblatt.com/meinung/kolumnen/eu-kolumne-wie-die-eu-und-die-usa-die-geldstroeme-der-hamas-kappen-wollen/29472032.html, online abgerufen 05.02.2024.
21 Adva Center 2021: Social Report 2021 – Corona: Epidemic of Inequality, https://adva.org/en/socialreport2021/, abgerufen 5.12.2023.
22 Karl Marx: An Siegfried Meyer und August Vogt, 9. April 1870, online: https://www.marxists.org/deutsch/archiv//marx-engels/1870/04/marx-an-meyer-vogt-9.4.70.html, abgerufen 5.12.2023.
23 Ishaan Tharoor 2014: How Israel helped create Hamas, The Washington Post, 30.7.2014, online: https://www.washingtonpost.com/news/worldviews/wp/2014/07/30/how-israel-helped-create-hamas/, abgerufen 5.12.2023.
24 Charters of Hamas, in: Contemporary Review of the Middle East 4(4), S. 393-418.
25 Conal Urquhart 2007: Hamas official accepts Israel but stops short of recognition, The Guardian, 11.1.2007, online: https://www.theguardian.com/world/2007/jan/11/israel, abgerufen 19.12.2023.
26 Vgl. 2008: ‚Nicht ernst gemeint‘, Deutsche Welle, 25.04.2008, online: https://www.dw.com/de/israel-weist-angebot-der-hamas-zur%C3%BCck/a-3292510, abgerufen 05.02.2024. 2013: Hanija bietet Waffenstillstand für Anerkennung, Focus, 12.11.2013: online: https://www.focus.de/politik/ausland/hanija-bietet-waffenstillstand-nahost_id_1736890.html, abgerufen 05.02.2024
27 Vgl. 20min.ch, Schläge, Gurken und Käse – so erging es Yocheved als Geisel der Hamas, 24.10.2024 online: https://www.20min.ch/story/so-erging-es-geisel-yocheved-in-hamas-gefangenschaft-287465952904, abgerufen 05.02.2024
28 Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEW 1, S. 379.
29 D.h. eines „Reservats”, in dem die Kolonialherren den Kolonisierten eine Existenz im Elend weiterhin gestatten.
30 https://thediplomat.com/2023/10/how-china-israel-economic-ties-factor-into-beijings-approach-to-the-gaza-war/
31 Bai Peng: How China-Israel Economic Ties Factor Into Beijing’s Approach to the Gaza War, The Diplomat, 24.10.2023, online: https://thediplomat.com/2023/10/how-china-israel-economic-ties-factor-into-beijings-approach-to-the-gaza-war/ , abgerufen 5.12.2023.
32https://maritimeindia.org/chinas-belt-and-road-initiatives-contours-implications-and-alternatives/
33https://www.tandfonline.com/doi/pdf/10.1080/19370679.2016.12023285
34https://www.reuters.com/markets/commodities/israels-port-ashkelon-oil-terminal-shut-wake-conflict-sources-2023-10-09/
35https://www.timesofisrael.com/amid-heavy-rocket-fire-israel-shuts-down-tamar-offshore-natural-gas-field/
36https://www.silkroadbriefing.com/news/2023/10/11/sudans-iranian-rapprochement-gives-control-of-the-red-sea-to-brics/
37https://www.china-briefing.com/news/the-china-iran-25-year-cooperation-agreement-what-is-it-and-should-regional-investors-traders-pay-attention/
38 Politsturm 2023: The War in the Middle East, online: https://us.politsturm.com/the-war-in-the-middle-east , abgerufen 19.12.2023.
39 Paola Caridi: Attacco di Hamas a Israele: è solo l’inizio di qualcosa di inedito che va al di là della dimensione interna israeliana e palestinese, 8.10.2023, online: https://www.valigiablu.it/attacco-hamas-israele-palestina-conflitto/, abgerufen 6.12.2023.
40 Einem Vertrag zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel einerseits und den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain andrerseits.