Kapitel 5: Der bürgerlich-kapitalistische Staat

Kapitel 5

Der bürgerliche Staat spielt in der Politik und im Klassenkampf eine zentrale Rolle. Wir begegnen ihm als Urheber der Gesetze, die unser Leben betreffen; in Form des Schulsystems, das uns und unsere Kinder ausbildet und dabei versucht, ihnen die Ideologie der Herrschenden in den Kopf zu pflanzen; als Arbeitsamt, mit dem man gezwungenermaßen zu tun hat, wenn man auf dem kapitalistischen Arbeitsmarkt keine Anstellung findet; in Form des Militärs, das die Söhne (und zunehmend auch Töchter) der Arbeiterklasse zum Töten und Sterben in andere Länder schickt; oder als Polizei, die Demonstrationen zusammenknüppelt. Wer den Kapitalismus überwinden will, muss sich grundsätzlich mit der Frage des Staates beschäftigen. Welchen Charakter hat der existierende Staat und was folgt daraus für die revolutionäre Strategie und Taktik?

Zunächst einmal, was ist ein Staat im Allgemeinen und wie sind Staaten entstanden? Staaten existieren nicht schon immer. Im Gegenteil, die längste Zeit hat der Mensch in kleinen, verstreuten Gemeinschaften gelebt, die sich nicht als Staaten organisierten. Mit der Herausbildung der Spaltung der Gesellschaft in Klassen, also in Ausbeuter und Ausgebeutete, bildeten sich aber auch Mechanismen zur Aufrechterhaltung des Verhältnisses zwischen den Klassen heraus. Insbesondere stellte sich dabei die Frage der Gewalt, denn ein Ausbeutungsverhältnis ist ein gewaltsames Verhältnis – es beruht darauf, dass einige Menschen den Großteil des gesellschaftlichen Wohlstands bei sich konzentrieren, während die Mehrheit ihn produziert, aber keinen Zugriff darauf hat. Dieser Ausschluss der Mehrheit von den Früchten ihrer Arbeit, die Verdammung dieser Mehrheit zu Armut und Not lässt sich ohne Gewalt nicht aufrechterhalten. „Eine solche Gesellschaft konnte nur bestehn entweder im fortwährenden offnen Kampf dieser Klassen gegeneinander oder aber unter der Herrschaft einer dritten Macht, die, scheinbar (!) über den widerstreitenden Klassen stehend, ihren offnen Konflikt niederdrückte und den Klassenkampf höchstens auf ökonomischem Gebiet, in sogenannter gesetzlicher Form, sich ausfechten ließ“, schreibt Engels zur historischen Entstehung des Staates (Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, MEW 21, S. 164). Damit war die Notwendigkeit einer Einrichtung gegeben, „die nicht nur die aufkommende Spaltung der Gesellschaft in Klassen verewigte, sondern auch das Recht der besitzenden Klasse auf Ausbeutung der nichtbesitzenden und die Herrschaft jener über diese. Und diese Einrichtung kam. Der Staat wurde erfunden“ (ebenda, S. 105f). Engels schreibt hier erst einmal nur über den Staat in den Klassengesellschaften, in denen es Ausbeuter und Ausgebeutete gibt, und nicht über den sozialistischen Staat. Wichtig ist an dieser Stelle auch die Anmerkung, dass laut Engels der Staat nur scheinbar über den Klassen steht: Die herrschende Ausbeuterklasse ist immer bemüht, die Illusion aufrechtzuerhalten, dass der Staat ein neutraler Mechanismus sei, der nur für das Allgemeinwohl sorgt. Sie versucht zu verschleiern, dass der Staat selbst einen Klassencharakter hat, dass er die Herrschaft einer bestimmten Klasse durchsetzt.

Das gilt natürlich auch für den bürgerlich-kapitalistischen Staat. So wie die europäischen Staaten im Zeitalter des Feudalismus Staaten des Feudaladels waren, ist der bürgerliche Staat ein Staat des Kapitals. Während es in vergangenen Jahrhunderten auch Staaten gab, in denen sich mehrere Klassen die Herrschaft teilten, hat sich mit der Entwicklung des Kapitalismus die Bourgeoisie zunehmend als allein herrschende Klasse durchgesetzt und andere Ausbeuterklassen wie die Großgrundbesitzer in sich aufgenommen oder an den Rand gedrängt.

5.1.1 Der Klassencharakter des bürgerlichen Staates

Dieser Klassencharakter des bürgerlichen Staates besteht erstens darin, dass der Staat in einer Klassengesellschaft eine „Maschine zur Niederhaltung der unterdrückten, ausgebeuteten Klasse“ ist (ebenda, S. 170f). Der Staat hat eine Vielzahl von Mechanismen entwickelt, um die Arbeiterklasse davon abzuhalten, dass sie sich ihrer Lage bewusst wird, sich organisiert und selbst die Macht übernimmt. Dazu gehören sowohl die Repressionsapparate wie Polizei, Geheimdienste und Armee, als auch Mittel der Manipulation und Beeinflussung des Bewusstseins wie Schulen, Medien usw. Doch dazu später mehr.

Zweitens ist der bürgerliche Staat dadurch als Staat des Kapitals bestimmt, dass er als der „ideelle Gesamtkapitalist“ (Engels: Anti-Dühring, MEW 20, S. 260) über den konkurrierenden Interessen der einzelnen Kapitalisten steht und das Gesamtinteresse der Kapitalistenklasse in seinem nationalen Herrschaftsgebiet vertritt. Die Kapitalisten vertreten, wie schon gezeigt wurde, unterschiedliche, teils gegensätzliche Interessen, anhand derer man sie in verschiedene Fraktionen unterteilen kann. Der kapitalistische Staat kann nun aber nicht nur die Interessen einer einzigen Fraktion oder eines einzelnen Kapitalisten vertreten. Würde er das tun, könnte er nicht mehr seine Funktion erfüllen, die Reproduktion des Kapitals insgesamt abzusichern. Denn dann wäre seine ganze Tätigkeit, von der Gesetzgebung, über den Aufbau von Infrastruktur und die Außenhandelspolitik bis hin zur Bekämpfung der revolutionären Arbeiterbewegung nur noch den Interessen eines bestimmten Teils des Kapitals unterworfen, während die Erfordernisse aller anderen Gruppen des Kapitals außer Acht gelassen würden. Das ist aber nicht möglich. Denn der bürgerliche Staat ist in seiner ganzen Existenz auf den Erfolg der Kapitalakkumulation angewiesen. Denn um die „öffentliche Macht aufrechtzuerhalten, sind Beiträge der Staatsbürger nötig – die Steuern. (…) Mit der fortschreitenden Zivilisation reichen auch sie nicht mehr; der Staat zieht Wechsel auf die Zukunft, macht Anleihen, Staatsschulden“ (Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, MEW 21, S. 166). Beides, die Steuereinnahmen und damit letzten Endes auch die Kreditwürdigkeit des Staates hängen von der Kapitalakkumulation ab. Daher gehört es zum Wesen des bürgerlichen Staates, dass er die Akkumulation seines nationalen Kapitals mit allen Mitteln unterstützt: Er erlässt notwendige Gesetze, Regeln und Normen, die den Rahmen des kapitalistischen Geschäfts definieren. Er schützt das Privateigentum durch Gesetze und Polizei. Er stellt Infrastruktur für die kapitalistischen Unternehmen bereit, wie z.B. Straßen, Schienen, Elektrizität, Wasser usw. Er übernimmt selbst langfristige Großinvestitionen oder fördert diese, wo einzelne Kapitalisten nicht das notwendige Kapital aufbringen können oder wollen. Er organisiert die Ausbildung in Schulen und Hochschulen, und er bringt dabei gut ausgebildete, ebenso wie unausgebildete Arbeitskräfte hervor, die für das Kapital beide notwendig sind. Er garantiert in Krisensituationen die Zahlungsfähigkeit von Banken und Unternehmen, notfalls indem er die Verluste privater Kapitalisten übernimmt und auf die Arbeiterklasse abwälzt. Der produzierte gesellschaftliche Reichtum wird über den Staatshaushalt umverteilt, indem alle Klassen in unterschiedlicher Weise besteuert werden und auf ebenfalls sehr unterschiedliche Weise von den Staatsausgaben profitieren. So wird der Arbeiterklasse ein Teil ihres Lohnes durch Steuern weggenommen, um damit Ausgaben im Interesse der herrschenden Klasse zu finanzieren. Umgekehrt werden Ausgaben für soziale Absicherung oder Gesundheit der Arbeiter aber in der Regel nicht aus den Einkommen der Kapitalisten, sondern aus denen der Arbeiterklasse selbst finanziert, sodass der sogenannte „Sozialstaat“ im Kapitalismus im Wesentlichen eine Umverteilung von Einkommen innerhalb der Arbeiterklasse darstellt.

Der Staat bekämpft auch klassenkämpferische Kräfte in der Arbeiterbewegung und versucht, die Arbeiterbewegung als solche entweder zu zerschlagen oder als harmlose Stütze in das kapitalistische System zu integrieren, sodass die Produktionsabläufe nicht durch Streiks unterbrochen werden. All dies tut er, um in der Konkurrenz gegen das Kapital anderer Länder den eigenen Kapitalisten möglichst gute Bedingungen zu schaffen.

Drittens ist der bürgerliche Staat auch der Ort, an dem die Bourgeoisie sich politisch organisiert. Durch die Konkurrenz und die Interessengegensätze zwischen den verschiedenen Gruppen der Bourgeoisie sind die Kapitalisten kein einheitlicher Block mit einer einheitlichen Politik. Um ihre Herrschaft trotzdem aufrecht zu erhalten und abzusichern, dass der bürgerliche Staat in ihrem Interesse handelt, müssen sie sich politisch als Klasse organisieren. Im Grunde so ähnlich wie die Arbeiterklasse sich organisieren muss, um ihre Interessen gemeinsam durchzusetzen. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass den Kapitalisten dabei der Staat mit all seinen Apparaten zur Verfügung steht. Die Bourgeoisie organisiert sich in Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden, in Lobbyorganisationen, in politischen Parteien, in „wirtschaftsnahen“ Instituten und Think Tanks, aber auch in den unmittelbaren Staatsapparaten: Im Parlament, der Regierung, den Ministerien und ihren „Berater“-Gruppen, der Zentralbank usw.

Diese Apparate haben für die Bourgeoisie unterschiedliche wesentliche Funktionen: Sie fungieren als Plattformen für die einzelnen Fraktionen des Kapitals, um ihrer jeweiligen Sichtweise Ausdruck zu verleihen und zur Durchsetzung zu verhelfen; Sie dienen der Bourgeoisie dazu, trotz ihrer inneren Differenzen eine Strategie herauszubilden, die der Staat durchsetzen kann; Sie dienen dazu, die Interessen der Bourgeoisie in möglichst unmittelbarer Form als „Allgemeinwohl“ zu propagieren; Und sie ermöglichen es den verschiedenen Kapitalfraktionen und einzelnen Kapitalen, zu versuchen, ihre Sonderinteressen bevorzugt durchzusetzen. Denn auch wenn es zum Wesen des kapitalistischen Staates gehört, dass er sich an den Interessen des Gesamtkapitals orientiert, bestehen für die einzelnen Kapitalisten gleichzeitig unzählige Möglichkeiten, ihre speziellen Interessen auch gegen andere Kapitalisten durchzusetzen. Dies geschieht über die legale Beeinflussung einzelner Politiker, das Entsenden von Vertretern in „Expertenausschüsse“ der Parlamente, aber auch durch Bestechung und ähnliche Vorgänge. Die Bourgeoisie ist über vielfältige Formen, über persönliche und institutionelle Verbindungen, mit dem Staatsapparat verknüpft, in ihn eingebunden und es besteht eine wechselseitige Abhängigkeit. Durch diese Verbindungen wird das Staatspersonal ausgewählt und die Interessen des Kapitals werden in ein politisches Programm und schließlich in konkrete politische Maßnahmen übersetzt.

Der bürgerliche Staat ist also alles andere als eine neutrale Agentur, die nur das System reguliert und erhält, sondern er ist das Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie. Seine Apparate dienen den Kapitalisten zur Durchsetzung ihrer Interessen gegen ausländische Konkurrenten sowie gegen die Kräfte der Arbeiterklasse. Sie werden von den Vertretern der Bourgeoisie mit diesem Zweck angewandt und diesem Zweck angepasst. Dass der Staat ein Herrschaftsinstrument der Kapitalistenklasse ist, darf aber nicht falsch interpretiert werden: Oft wurde das so verstanden, dass der Staat an sich ein neutrales Werkzeug wäre, das nur von den Kapitalisten übernommen wurde. Das würde bedeuten, dass auch die Arbeiterklasse oder andere Kräfte den Staat übernehmen könnten. Eine Revolution und Zerschlagung des bürgerlichen Staates wären dann nicht mehr notwendig, stattdessen könnte die Arbeiterklasse innerhalb der staatlichen Institutionen Veränderungen erkämpfen, in ihnen Machtpositionen und Schlüsselstellen erringen und so letztendlich schrittweise den Sozialismus einführen.

Das ist aber natürlich nicht möglich. Denn der bürgerliche Staat und all seine Apparate haben einen Klassencharakter, sie tragen gewissermaßen die „DNA der Bourgeoisie“ in sich. Sie wurden von der Bourgeoisie geschaffen (so sind die bürgerlichen Staaten auch historisch entstanden), um ihre Herrschaft durchzusetzen. Die Gesetze und das Rechtssystem sind nicht neutral, sondern in jeder Hinsicht darauf ausgelegt, das kapitalistische Privateigentum und das Funktionieren der kapitalistischen Gesellschaft zu garantieren. Das Parlament fungiert keineswegs als Organ des „Volkswillens“ und kann es auch nicht. Seine ganze Arbeitsweise beruht auf der Einbeziehung von Kapitalvertretern in die Gesetzgebung und die Parteien selbst dienen nicht den Volksmassen als Selbstorganisierung, sondern als Mechanismen zur Rekrutierung von neuem Personal für die Verwaltung des kapitalistischen Staates. Die Geheimdienste, die Gerichte, die Polizei dienen immer auch der Bekämpfung der politischen Organisationen der Arbeiterklasse. Eine Vielzahl von Instrumenten verhindern damit, dass die Arbeiterklasse und ihre Partei auf legalem, verfassungsmäßigem Weg die Regierung übernehmen können.

Der bürgerliche Staat kann seinen Charakter als Staat der Bourgeoisie, als Staat einer Minderheit nicht offen eingestehen, da sich dann die große Mehrheit der Menschen von ihm abwenden würden. Der Kapitalismus kann nur weiter bestehen, wenn die Mehrheit der Menschen seine Funktionsweise und den Charakter des Staates nicht verstehen. Bei einem sozialistischen Staat aber ist es genau umgekehrt: Er stützt sich auf die breite Beteiligung der Massen und propagiert offen seinen Charakter als Staat der Arbeiterklasse. Lenin schreibt, „daß der bürgerliche Staat, der die Diktatur der Bourgeoisie vermittels der demokratischen Republik ausübt, vor dem Volke nicht zugeben kann, daß er der Bourgeoisie dient, er kann die Wahrheit nicht sagen, er ist zu heucheln gezwungen. Ein Staat vom Typus der Kommune aber, der Sowjetstaat, sagt dem Volke offen und unumwunden die Wahrheit und erklärt ihm, daß er die Diktatur des Proletariats und der armen Bauernschaft ist“ (Lenin: Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, LW 28, S. 303).

Es ist darum kein Zufall, dass die Frage des Klassencharakters des bürgerlichen Staates in der Arbeiterbewegung oft umstritten war und dazu auch immer wieder verschiedene falsche Auffassungen entstanden. Lenin führte darüber eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem deutschen Sozialdemokraten Karl Kautsky. Dieser verwendete vor allem die Begriffe „Demokratie“ und „Diktatur“ klassenneutral, so als wäre die bürgerliche Demokratie nicht auch eine Diktatur der Bourgeoisie. Lenin hielt dem entgegen, dass wenn von Demokratie die Rede sei, ein Marxist immer fragen würde „Für welche Klasse?“ (ebenda, S. 233). Denn so wie die bürgerliche Demokratie eine Diktatur über die Werktätigen ist, ist die proletarische Demokratie eine Diktatur über die Bourgeoisie. Kautsky zog aus seiner Analyse des Staates auch die Schlussfolgerung, dass eine Revolution, eine Zerschlagung des Staates und der Aufbau eines Staates der Arbeiterklasse überflüssig seien. Diese historische Auseinandersetzung ist bis heute aktuell – denn sie zeigt, wie sehr die Strategie der Arbeiterbewegung von einer korrekten Analyse des Staates abhängig ist.

5.1.2 Die bürgerliche Demokratie

Die bürgerliche Demokratie betont das Prinzip der „Gewaltenteilung“. Sie behauptet, dass dadurch die gegenseitige Kontrolle von gesetzgebender, rechtsprechender und ausführender Gewalt garantiert sei und Machtmissbrauch verhindert würde. In Wirklichkeit kann es eine strenge Gewaltenteilung auch im Kapitalismus gar nicht geben. Denn der Staat ist trotz seiner vielen inneren Widersprüche ein einheitlicher Staat und er ist der Staat der Bourgeoisie. Seine verschiedenen Abteilungen sind nicht unabhängig voneinander, sondern Teil desselben zusammenhängenden Mechanismus. Die verschiedenen Apparate werden durch ihre gemeinsame Wesenseigenschaft vereint, dass sie alle die politische Herrschaft der Bourgeoisie zum Ausdruck bringen und durchsetzen. Alle Gewalten dienen also dem Kapital und in der Praxis wird auch die formelle Trennung zwischen ihnen oft genug überschritten oder ganz aufgehoben (im Übergang zur offenen Diktatur), wenn der Klassenkampf es für die herrschende Klasse erforderlich macht. Eine wirkliche Demokratie, also Beteiligung der Massen an der Herrschaft, wird durch die „Gewaltenteilung“ nicht gewährleistet. Das, was im Kapitalismus als Gewaltenteilung bezeichnet wird, ist dennoch nicht irrelevant. Denn tatsächlich gibt es in gewisser Weise eine gegenseitige Kontrolle der Staatsapparate in dem Sinne, dass streng darauf geachtet wird, dass der Rahmen des kapitalistischen Systems nicht verlassen wird. Selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass die Kommunistische Partei durch Wahlen eine Mehrheit im Parlament gewinnen könnte, gäbe es also immer noch die Gerichte, die fortschrittliche Reformen als „verfassungswidrig“ erklären könnten und die Armee und andere Unterdrückungsapparate, die kurzerhand das Parlament auflösen und eine Regierung der Arbeiterklasse beseitigen könnten. Damit dient die „Gewaltenteilung“ einerseits der ideologischen Verschleierung der Diktatur des Kapitals, andrerseits aber auch der besseren Verteidigung dieser Diktatur, der Stärkung ihrer Abwehrkräfte gegen die Arbeiterklasse.

Die bürgerliche Demokratie beruht auf dem Prinzip des Parteienpluralismus, also auf der Existenz mehrerer Parteien, die miteinander konkurrieren und sich bei der Verwaltung der Regierungsgeschäfte abwechseln. Im Kapitalismus ist dieses Prinzip nützlich für die Bourgeoisie. Zum einen, weil es die Illusion verstärkt, dass das Volk bei den Wahlen wirklich etwas zu entscheiden hätte, dass es zwischen verschiedenen Alternativen wählen könnte. Zum anderen aber auch, weil durch die verschiedenen Parteien mit ihren verschiedenen Programmen auch verschiedene politische Strategien für das Kapital entwickelt werden, die je nach Situation nützlich sind und flexibel angewandt, kombiniert und gegeneinander ausgetauscht werden können. Oft, aber nicht immer, drücken sich darin auch die Interessen unterschiedlicher Gruppen der herrschenden Klasse aus, die damit einen geregelten institutionellen Mechanismus haben, um ihre Widersprüche untereinander auszutragen. Daher haben sich solche bürgerlichen Mehrparteiensystemen in der einen oder anderen Form in den meisten kapitalistischen Ländern durchgesetzt.

Die grundlegenden Merkmale des bürgerlichen Staates, die seinen Klassencharakter ausmachen, gelten ohne Einschränkung auch in der bürgerlichen „Demokratie“. Auch wenn „Demokratie“ eigentlich Volksherrschaft bedeutet, ist der bürgerlich-demokratische Staat alles andere als eine Herrschaft der Volksmassen. Im Gegenteil ist er eine Variante der Herrschaft einer kleinen Minderheit, nämlich der Bourgeoisie. Lenin schrieb über die bürgerliche Demokratie in Deutschland: „Die jetzige ‚Versammlungs- und Pressefreiheit‘ in der ‚demokratischen‘ (bürgerlich-demokratischen) deutschen Republik ist Lug und Trug, denn in Wirklichkeit bedeutet sie die Freiheit für die Reichen, die Presse zu kaufen und zu korrumpieren, die Freiheit für die Reichen, das Volk mit dem Fusel der bürgerlichen Zeitungslügen betrunken zu machen, die Freiheit, für die Reichen, die Herrensitze, die besten Gebäude usw. als ihr ‚Eigentum‘ fest in der Hand zu halten.“ (Lenin: Über Demokratie und Diktatur, LW 28, S. 377). Denn: „Sieht man sich den Mechanismus der kapitalistischen Demokratie genauer an, so findet man überall, sowohl in den ‚geringfügigen‘, angeblich geringfügigen, Einzelheiten des Wahlrechts (…) als auch in der Technik der Vertretungskörperschaften, in den tatsächlichen Behinderungen des Versammlungsrechts (…) oder in der rein kapitalistischen Organisation der Tagespresse und so weiter und so fort – überall, wo man hinblickt, Beschränkungen auf Beschränkungen des Demokratismus. Diese Beschränkungen, Ausnahmen, Ausschließungen und Behinderungen für die Armen erscheinen gering, besonders demjenigen, der selbst nie Not gekannt hat und mit dem Leben der unterdrückten Klassen in ihrer Masse nicht in Berührung gekommen ist (…) – aber zusammengenommen bewirken diese Beschränkungen, daß die arme Bevölkerung von der Politik, von der aktiven Teilnahme an der Demokratie ausgeschlossen, verdrängt wird.“ (Lenin: Staat und Revolution, LW 25, S. 474).

Das bedeutet: Auch wenn es formell demokratische Institutionen gibt (Wahlen finden statt, offiziell besteht Meinungs- und Versammlungsfreiheit usw.), stellen diese die Herrschaft des Kapitals nicht infrage. Zudem ist es auch eine gefährliche Illusion, dass die bürgerliche Demokratie keine Gewaltherrschaft wäre. Denn was für jeden Staat gilt, dass er eine Gewaltapparat von Menschen zur Herrschaft über andere Menschen ist, gilt natürlich auch für die bürgerliche Demokratie. Auch hier gehen Polizei und Geheimdienste gegen Gegner des Systems vor, auch hier sind Zensur und Parteiverbote immer eine Möglichkeit. In Westdeutschland zeigte sich das z.B. im Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands im Jahr 1956, bei dem Regierung und Gericht in vielfacher Weise die eigenen Gesetze brachen und auch die „Gewaltenteilung“ problemlos aushebelten, um die KPD zu verbieten und viele Kommunisten ein weiteres Mal (nach den bitteren Erfahrungen des Faschismus) ins Gefängnis zu werfen.

Bedeutet das also, dass es zwischen der bürgerlichen Demokratie und Formen der offenen Diktatur der Bourgeoisie keinen Unterschied gibt? Nein. Auch Lenin betonte: „ihr müßt die bürgerliche Demokratie ausnutzen, denn sie ist gemessen am Feudalismus ein gewaltiger historischer Fortschritt, vergeßt aber dabei keinen Augenblick lang den bürgerlichen Charakter dieser ‚Demokratie‘, (…) daß der Staat auch in der demokratischsten Republik, nicht minder als in der Monarchie, nichts als eine Maschine ist zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andere“ (Lenin: Über Demokratie und Diktatur, LW 28, S. 376f). Es macht eben einen Unterschied, ob die Arbeiterklasse sich bis zu einem gewissen Maß in Parteien und unabhängigen Gewerkschaften organisieren darf und legale Zeitungen herausgeben kann, oder ob jede Arbeiterorganisation sofort verboten und zerschlagen wird. Es macht einen Unterschied, ob Kommunisten für ihre Ansichten in der Regel „nur“ ihre Arbeitsstelle verlieren können, oder ob sie in Konzentrationslager geworfen und auf offener Straße ermordet werden, wie es unter dem Faschismus geschehen ist. Die bürgerlich-demokratischen Rechte sind zwar in vieler Hinsicht begrenzt und können von der herrschenden Klasse auch ganz aufgehoben werden. Trotzdem sind sie Errungenschaften, für die die Arbeiterklasse hart gekämpft hat und die sie auch gegen alle Angriffe verteidigen muss. Das bedeutet umgekehrt aber keineswegs, dass die Arbeiterklasse die bürgerliche Demokratie selbst, also den kapitalistischen Staat verteidigen sollte. Dieser Fehler wurde von Kommunisten in der Vergangenheit oft gemacht. Die Aufgabe der Arbeiterklasse bleibt aber weiterhin der Kampf gegen diesen Staat und der Sturz der kapitalistischen Herrschaft.

5.1.3 Der Faschismus

Der Faschismus ist eine andere Variante der Herrschaft des Kapitals. Im Unterschied zur bürgerlichen Demokratie bedient er sich permanent offen terroristischer Methoden, um die Arbeiterbewegung zu vernichten. Bürgerliche Ideologen versuchen, den Charakter des Faschismus als einer kapitalistischen Herrschaftsform, die auch relativ fließend in die bürgerliche Demokratie übergehen und wieder aus ihr hervorgehen kann, zu verschleiern. Sie stellen z.B. Theorien auf, wonach der historische Faschismus (z.B. die Nazis in Deutschland, die Faschisten in Italien usw.) eine Bewegung der Massen oder sogar der Arbeiterklasse war. Dabei nutzen sie aus, dass die Faschisten aus Gründen der Massenmanipulation sich selbst oft einen arbeiterfreundlichen Anstrich gaben (z.B. die Namensgebung der NSDAP als „nationalsozialistisch“ und „Arbeiterpartei“). Mit der Wirklichkeit hat das jedoch rein gar nichts zu tun. Es ist eine Tatsache, dass die Nazipartei massiv vom Kapital unterstützt wurde und dass die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler hauptsächlich deshalb erfolgte, weil führende Kreise aus Industrie und Banken den Reichspräsidenten Hindenburg dazu drängten. Auch Mussolini in Italien wurde von einem Bündnis aus Großgrundbesitzern, Kapitalisten und Kirche an die Macht gebracht. Ähnlich spielte sich die Machtübertragung an den Faschismus auch in anderen Ländern ab. Insgesamt kann man sagen, dass die Macht immer dann an faschistische Kräfte übergeben wurde, wenn die herrschende Klasse die Methoden und Wege der bürgerlichen Demokratie nicht mehr als ausreichend zur Verwirklichung ihrer Ziele einschätzte. So gab es im deutschen Monopolkapital immer stärkere Kräfte, die sich für ein noch brutaleres Vorgehen gegen die Arbeiterbewegung, für ein Aufrüstungsprogramm und imperialistische Eroberungskriege aussprachen. All das konnte nur Hitler mit seiner faschistischen Bewegung für sie erreichen.

Wenn wir die bürgerliche Demokratie und offene Diktaturen wie den Faschismus miteinander vergleichen, stellen wir also fest, dass sie sich vor allem anhand ihrer Herrschaftsmethoden unterscheiden. Eine offen terroristische Diktatur des Kapitals stützt sich in hohem Maße auf die blutige Unterdrückung ihrer Gegner, also der revolutionären Arbeiterbewegung, aber auch anderer Gegner (z.B. bürgerliche Liberale und Sozialdemokraten, ethnische oder religiöse Minderheiten usw.). Damit spielen die Repressionsapparate wie Armee, Geheimdienste, politische Polizei, Gefängnisse und Konzentrationslager usw. eine größere Rolle. In bürgerlich-demokratischen Staaten wird die Arbeiterklasse eher durch Zugeständnisse oder Scheinzugeständnisse und ideologische Beeinflussung dazu gebracht, der kapitalistischen Herrschaft zuzustimmen oder sie zumindest hinzunehmen. Nach Lenin „bildet die Bourgeoisie in allen Ländern unvermeidlich zwei Systeme des Regierens heraus, zwei Methoden des Kampfes für ihre Interessen und für die Verteidigung ihrer Herrschaft, wobei diese zwei Methoden bald einander ablösen, bald sich miteinander in verschiedenartigen Kombinationen verflechten. Die erste Methode ist die Methode der Gewalt, die Methode der Verweigerung jeglicher Zugeständnisse an die Arbeiterbewegung, die Methode der Aufrechterhaltung aller alten und überlebten Institutionen, die Methode der unnachgiebigen Ablehnung von Reformen. (…) Die zweite Methode ist die Methode des „Liberalismus”, der Schritte in der Richtung auf die Entfaltung politischer Rechte, in der Richtung auf Reformen, Zugeständnisse usw.“ (Lenin: Die Differenzen in der europäischen Arbeiterbewegung, LW 16, S. 356). Dennoch gibt es in den „demokratischen“ Staaten genauso auch direkte Unterdrückung, ebenso wie es in offenen Diktaturen auch nicht-gewaltsame Methoden der Herrschaft gibt, z.B. die staatliche Propaganda, das Erziehungswesen usw. Der Übergang zwischen den verschiedenen Herrschaftsformen hängt, wie Lenin betont, aber nicht einfach nur vom Willen der Herrschenden ab, sondern wird auch von der Entwicklung des Kapitalismus und seinen Widersprüchen beeinflusst. Meistens waren es z.B. tiefe Krisen des kapitalistischen Systems, in denen die Bourgeoisie sich dazu entschloss, zum Faschismus überzugehen.

5.1.4 Der Staat im imperialistischen Zeitalter

Der Staat ist Teil des Überbaus einer Gesellschaft. Seine Entwicklung ist damit immer von den ökonomischen Gesetzmäßigkeiten der vorherrschenden Produktionsweise bestimmt. Ändert sich die Produktionsweise, muss über kurz oder lang auch der Staat seine Form ändern und an die neuen gesellschaftlichen Bedingungen anpassen – wenn nicht sogar die Veränderung der Staatsform die Voraussetzung für eine gesellschaftliche Umwälzung ist, wie es bei der sozialistischen Revolution der Fall ist. Auch innerhalb einer Produktionsweise verändert sich der Staat mit der Weiterentwicklung der gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen. Im Kapitalismus ist das besonders bedeutsam für den Übergang vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Monopolkapitalismus.

Im Monopolkapitalismus wird der Staat zum imperialistischen Staat. Er behält dabei alle oben aufgezählten Merkmale. Er ist also weiterhin der Staat der Bourgeoisie. Und dennoch kommt es zu grundsätzlichen Veränderungen. Denn die Monopole entwickeln ein enges Verhältnis zum imperialistischen Staat. Dieses enge Verhältnis wird im Monopolkapitalismus unverzichtbar, um die Verwertung des Kapitals weiterhin zu garantieren. Der Produktionsprozess im modernen Kapitalismus erfordert, wie bereits gezeigt wurde, immer gigantischere Mengen an konstantem und vor allem fixem Kapital (also vor allem Maschinen und Technologie). Viele Produktionszweige sind nur im großen Maßstab, mit Zehntausenden Arbeitern profitabel organisierbar. Dieser riesige Maßstab der Produktion erfordert die Regulierung und oftmals direkten Intervention durch den Staat, der durch verschiedenste Maßnahmen wie staatliche Investitionen, Subventionen, Technologiepolitik, Exportförderung usw. die Akkumulation seiner Monopole fördert. Auch die zunehmenden Krisen und dadurch geschürten sozialen Widersprüche im Monopolkapitalismus machen ein enges Verhältnis von Staat und Monopolen erforderlich. Auch wenn der Staat weiterhin ideeller Gesamtkapitalist ist, also die Verwertung des Gesamtkapitals durchsetzt, spielen die Monopole dabei eine besondere Rolle. Sie sind viel stärker als das nicht-monopolistische Kapital mit den entscheidenden Staatsapparaten vernetzt und versuchen, ihre Sichtweise über verschiedenen Kanäle (Massenmedien, Stiftungen usw.) in der Gesellschaft zu propagieren. Gerade in Krisen zeigt sich zudem, dass das Schicksal der Großbanken und Industriemonopole für die Kapitalakkumulation in einem Land von herausgehobener Bedeutung ist und daher der Staat in der Regel große finanzielle Mittel mobilisieren wird, um gerade diese Monopole vor dem Bankrott zu bewahren. Auch in der Außenpolitik verändert sich die Rolle des Staates: Weil sich beim Monopolkapital der Drang zur internationalen Expansion und zum Kapitalexport verstärkt, gewinnt auch die Rolle des imperialistischen Staates als internationale Interessenvertretung seines Monopolkapitals an Bedeutung. Auch wenn diese Methoden keineswegs neu sind, geht der imperialistische Staat verstärkt mit Methoden der Erpressung, Sanktionen und Embargos, Interventionen und Kriegen vor, um überall möglichst günstige Bedingungen für sein eigenes Kapital durchzusetzen.

Arbeitsfragen:

  • Warum gibt es in allen Klassengesellschaften Staaten?
  • Was bedeutet die Aussage, dass der bürgerliche Staat „ideeller Gesamtkapitalist“ sei?
  • Worin bestehen die Unterschiede zwischen bürgerlicher Demokratie und Faschismus?

Diskussionsfragen:

  • Nach Auffassung des Marxismus ist der bürgerliche Staat ein Instrument des Kapitals. Ist das vielleicht eine übertriebene Ansicht? Stimmt es, dass auch die bürgerliche Demokratie ein Staat des Kapitals und eine gewaltsame Herrschaft ist?
  • Sollten Kommunisten angesichts der Gefahr des Faschismus die bürgerliche Demokratie verteidigen?
  • Ist der imperialistische Staat wirklich noch „ideeller Gesamtkapitalist“ oder wird er zum reinen Instrument des Monopolkapitals?