von Patrick Honer
Übersicht
- Vorbemerkungen
- Pyramide als Bild
- Zur Beschreibung der Rolle und des Charakters eines Landes
- Aufklärer statt Schiedsrichter – Die Agitation und Propaganda der Kommunisten
- Literaturverzeichnis
Vorbemerkungen
Die Frage nach dem Charakter des Imperialismus ist neben der – äußerst eng damit verbundenen – Frage nach Strategie und Taktik entscheidend für den revolutionären Charakter einer Organisation oder Partei. Wir handeln dementsprechend richtig, wenn wir unsere Dissense, Zweifel, Fragen nicht länger ignorieren, sondern sie bewusst angehen wollen. Ich würde ergänzend hinzufügen: Es ist nicht nur jetzt richtig, so zu handeln, es war auch in den letzten Monaten, ggf. seit der Diskussion um Afghanistan, spätestens seit der Diskussion um den Einsatz der OVKS Truppen in Kasachstan ein Versäumnis, nicht intensiver in die Diskussion einzusteigen und hierbei auch unsere bisherigen Beschlüsse, vor allem die Programmatischen Thesen in die Diskussion miteinzubeziehen.
Es wurden jetzt schon einige Diskussionsbeiträge veröffentlicht – ich will nicht alles, was ich teile wiederholen, ich will an dieser Stelle auch nicht alles, was ich falsch finde kritisieren. Ich versuche hier vielmehr drei mehr oder weniger zusammenhängende Einwürfe: Beginnend mit Überlegungen zum Unterschied von Bild, Theorie und Modell– was bezogen auf das Bild der Pyramide meiner Ansicht nach für Verwirrung gesorgt – werde ich daraufhin meine Gedanken zur Frage, wie die Rolle eines Landes, wie sein Charakter bestimmt werden kann vorstellen und abschließen möchte ich mit einem Versuch, die allgemeinen Aufgaben der Kommunisten – vor allem bezogen auf die Agitation und Propaganda – am konkreten Beispiel darzustellen.
Pyramide als Bild
Die „imperialistische Pyramide“ ist ein Bild, das von einigen Vertretern der KKE bemüht wurde, um einzelne Aspekte ihres Verständnisses des Imperialismus als Weltsystem zu erklären. (Vgl. Papariga: On Imperialism, 2013 und Papodopoulos: Aktualität) Ich behaupte, dass es lohnenswert ist, sich einmal kurz die Unterscheidung der Werkzeuge Bild, Modell und Theorie zu vergegenwärtigen, ich behaupte nämlich dass erstens das Bild der imperialistischen Pyramide und die Theorie des imperialistischen Weltsystems nicht dasselbe sind und dass Kritiken am Bild der Pyramide die Diskussion nicht voran bringen, wenn eigentlich die genannte Theorie kritisiert werden soll.
Beginnend nun mit den Gemeinsamkeiten: Bild, Modell und Theorie sind (potentiell/ ihrer Zielstellung nach) Widerspiegelungen der wirklichen Welt. Im Kontext (ansatzweise) wissenschaftlicher Bestrebungen sind sie alle bewusste Konstrukte, die Phänomene in der Welt – Teile von ihnen, einzelne Seiten von ihnen – mental abbilden. Im Fall des Modells und des Bilds kann aus der mentalen Abbildung auch wieder eine stoffliche Abbildung geschaffen werden, z.B. eine Graphik oder ein gebautes Modell eines Flugzeugs.
Bild, Modell und Theorie unterscheiden sich aber bezüglich der Art und Weise der jeweiligen Widerspiegelung, bezüglich dessen, wie sie selbst konstituiert sind. Während Theorie eine Sammlung und logische Verbindung von Aussagen, hauptsächlich Gesetzesaussagen ist, ist das Modell „immer ein konkretes Gebilde, das in einer bestimmten Form oder in einem bestimmten Grade anschaulich, endlich und der Betrachtung oder der praktischen Tätigkeit zugänglich ist.“ (Štoff: Modellierung, 1969). Dass die Zugänglichkeit für die praktische Tätigkeit kein stofflich-materielles Modell voraussetzt, zeigen z.B. mathematische Modellierungen, bei denen die Entwicklung komplexer Phänomene (z.B. Preisentwicklung) durch relativ einfache Formeln oder Algorithmen angenähert werden. Ein Bild kann wesentliche Aspekte (ähnlich dem Modell) abbilden, allerdings ohne, dass es der „praktischen Tätigkeit zugänglich“ ist, man könnte sagen, ohne dass es eine interaktiv gestaltet ist. Man kann es sich anschauen, es mental ausmalen, aber es hat kein „Verhalten“ dass das Verhalten eines Tatsächlichen Phänomens repräsentiert.
Bild, Modell und Theorie hängen auch eng zusammen. Um ein Phänomen modellieren zu können, muss ich es gut verstanden haben, ich muss eine Theorie dieses Phänomens entwickelt haben, muss wesentliche von unwesentlichen Faktoren unterscheiden können. Dann kann ich einzelne Aspekte des Phänomens herausgreifen, schauen, welche wesentlichen Einflüsse es gibt und wo Zufälligkeiten ins Spiel kommen und diese ganzen Faktoren in mein Modell einfließen lassen. Das Modell ist damit immer reduziert, keine Kopie des Phänomens, sondern beschränkt auf einen Aspekt – mit einem Computermodell, dass das Verhalten von Wasser unter bestimmten Einwirkungen modelliert, kann ich mich zum Beispiel nicht waschen. Da Modelle die zufälligen Umweltfaktoren ausschließen bzw. kontrollierbar machen, kann die Arbeit mit einem Modell die Thesenbildung und damit die Weiterentwicklung der Theorie unterstützen. Ein Bild spielt im Gegensatz zu Modell und Theorie eher in der Vermittlung, als in der Forschung eine Rolle. Dafür werden Metaphern oder starke Vereinfachungen genutzt, die an der Erfahrung und dem Wissensstand der Rezipienten anknüpfen, um Aspekte der eigenen Theorie zu vermitteln.
Die imperialistische Pyramide ist nun weder eine Sammlung von Aussagen über die Welt, ebenso wenig ist sie allerdings ein Modell. Sie ist ein anschauliches und recht konkretes, endliches Gebilde, allerdings ist sie nicht der praktischen Tätigkeit zugänglich: Mithilfe der Vorstellung der Pyramide können keine Aussagen über aktuelle und kommende Entwicklungen getroffen werden. Man kann keine Zahlen eingeben und erhält ein Ergebnis, man kann auch nicht an der einen Seite ziehen und schauen was passiert. Das liegt wohlgemerkt nicht daran, dass die Pyramide nicht aus Holz nachgebaut vorliegt. Wenn ich mir überlege, wie es meinem Gegenüber geht, kann ich meinen eigenen Erkenntnis- und Emotionsapparat nutzen, um mich in ihn hinzuversetzen und „nachzufühlen“ wie es mir dann ginge. Ich kann also meine eigenen Empfindungen als Modell für die Empfindungen meines Gegenüber nutzen, ganz ohne meine Empfindungen aus meinem Kopf herauszuholen und nachzubasteln, ich kann dieses mentale Modell nutzen, obwohl es nur ein mentales Modell ist. Ein weiteres Beispiel: Wenn ich einen Hebel benötige und wissen muss, wie lang er sein muss, muss ich nicht erst ein kleines skaliertes Modell der Situation bauen, ich kann auch auf den Hebelsatz zurückgreifen und dieses rein mentale mathematische Modell nutzen. Mit der Pyramide kann ich solche Überlegungen über „wenns“ und „danns“ nicht in sinnvollem Maß anstellen.
Deshalb empfehle ich das Verständnis der Pyramide lediglich als Bild, als Veranschaulichung. Dabei wird nicht die gesamte Theorie (!) des Imperialismus als Weltsystems veranschaulicht, sondern nur einzelne wenige Aspekte:
- Die Pyramide hat per Definition eine sehr „kleine Spitze“, es gibt nur eine Handvoll Länder, die über (fast) allen anderen stehen.
- Die Einheit des Weltsystems: Kein kapitalistisches Land befindet sich außerhalb der Pyramide, alle kapitalistischen Länder haben den Handlungsrahmen des imperialistischen Weltsystems und keinen anderen, sie sind den Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus, wie sie sich in der Epoche des Imperialismus ausdrücken, ausgeliefert.
- Die Asymmetrie der wechselseitigen Beziehungen: Wenn wir die vertikale Achse im Bild der Pyramide als Darstellung der Hierarchien verstehen, lassen sich die asymmetrischen wechselseitigen Beziehungen sehr gut aus dem Bild herauslesen. Die Beziehungen sind „wechselseitig“, aber eben nicht symmetrisch, was im Bild bedeutet, dass jeweils höher stehende Länder ökonomisch, militärisch, politisch Abhängigkeiten bei den jeweils darunter oder daneben liegenden Ländern schaffen, diese ausbeuten und ihnen Maßnahmen diktieren, die Pyramide aber zusammenbrechen würde, gäbe es die unteren Länder gar nicht. Unter ungefähr gleichstarken Ländern kann es Vereinbarung und Beziehungen im Interesse beider Bourgeoisien geben, in der Regen sind die Beziehungen und damit die Abhängigkeiten aber asymmetrisch, das heißt, dass ein Land ein anderes übervorteilt und direkt abhängig macht, während es selbst aber auch abhängig davon ist, irgendwo Extraprofite generieren zu können, irgendwo Anteile von Märkten übernehmen zu können etc.
Einige Eigenschaften der Theorie des Imperialismus als Weltsystem werden allerdings nicht oder nur äußerst mangelhaft im Bild der Pyramide dargestellt:
- Qualitative Sprünge werden nicht abgebildet: Die Asymmetrie der Beziehungen wird zwar dargestellt, die qualitativen Sprünge finden aber keinen Niederschlag im Bild der Pyramide, sie hat keinen Sockel, keine abgesetzten, getrennten Elemente. Allein die Häufigkeit, in der Teilmetaphern („Spitze“, „Zwischenschichten“) bemüht werden, zeigt an, dass das Bild hier unzureichend ist und der Fokus auf andere Aspekte gesetzt wird.
- Die Steine liegen, wie sie liegen: Die Dynamik im imperialistischen System, z.B. die aktuelle Entwicklung weg von einer unipolaren, hin zur multipolaren Weltordnung (Vgl. Medina: Unipolare Welt?, 2022) passt nicht zum Bild einer Pyramide, ein Bauwerk, dass bekannt dafür ist, so wie es ist die Jahrtausende zu überdauern. Man könnte dafür argumentieren, dass die Tendenzen des Aufstrebens und Absteigens dadurch in der Pyramide abgebildet sind, dass sie (wie oben erwähnt) die qualitativen Sprünge nicht abbildet, aber eine explizite Entsprechung haben diese Tendenzen im Bild der Pyramide nicht.
Tatsächlich sind die wesentlichen Kernaussagen der KKE zum Imperialismus im Bild der Pyramide überhaupt nicht abgebildet. In ihrem Programm eröffnet die KKE das Kapitel zum Imperialismus mit dem zentralen Punkt: Der Imperialismus ist die Epoche „der Notwendigkeit des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, weil die materiellen Bedingungen für die sozialistische Organisation der Produktion und der Gesellschaft reif sind“ (KKE: Programm, 2013, S. 3) er wird verstanden als „reactionary era of capitalism which is decaying and dying, with unified features for all the states of the international imperialist system, whether they are weaker or stronger at any given moment“ („reaktionäre Ära des Kapitalismus, welcher zerfällt und stirbt, mit einheitlichen Merkmale, die für alle Staaten des internationalen imperialistischen Systems gelten, ob sie nun zu einem bestimmten Zeitpunkt schwächer oder stärker sind“, Papadopoulos: Imperialist Unions).
Das Bild der Pyramide darf also nicht mit der Theorie des Imperialismus als Weltsystem verwechselt oder gleichgesetzt werden. Lenin benutzte das Bild der Kette, um anschaulich zu erklären, warum er die Revolution in Russland und nicht z.B. in Deutschland als erstes erwartet. So falsch es wäre ihm vorzuwerfen, dass eine Kette in der Regel aber zwei Enden hätte und diese Enden im imperialistischen System nicht auszumachen wären, so absurd wäre es, Vertretern der Theorie des Imperialismus als Weltsystem vorzuwerfen, im Bild der Pyramide wäre nicht jedes Element der tatsächlichen Entwicklung enthalten.
Zur Beschreibung der Rolle und des Charakters eines Landes
Ob die Bezeichnung „imperialistisch“ für ein Land nun sinnvoll ist, ob damit „fast alle Länder imperialistisch sind“ (Oswald: Wissenschaftliche Analyse, 2022) oder ob mit dem Adjektiv nur ausgedrückt wird, dass ein Vorgehen eines Landes, ein Bündnis oder Konflikt wesentlich dem Charakter der Epoche entspricht, ist mit der Beschreibung des Imperialismus als Weltsystem noch nicht gesagt. Die KKE und einige der ihr nahe stehenden Parteien scheinen die Bezeichnung für Länder eher zu vermeiden (vgl. „capitalist Russia“ z.B. in Koutsoumbas: We do not choose, 2022 oder Communist and Worker’s Parties: Joint Statement, 2022) und betonen die Beschreibung der epochalen Charakteristika.
Doch auch ohne die adjektivische Verwendung des Imperialismus-Begriffs für einzelne Länder kann von einer Gleichmacherei nicht die Rede sein. Dies drückt sich sowohl in der politischen Praxis der KKE aus, die klar und eindeutig die stärkeren und gefährlicheren Akteure, sowie „das eigene Lager“ ins Visier rückt, als auch in der Beschreibung der Weltsituation, worauf z.B. die Genossin Saidi (Imperialismus, 2022) und andere ausreichend eingegangen sind.
Die wesentlichen Charakteristiken, die nach Lenin den Übergang vom Kapitalismus der „freien“ Konkurrenz zum Imperialismus ausmachen beschreiben die Tendenzen des imperialistischen Systems und machen keine Checklist für die Einteilung in „imperialistische Länder“ und „unterdrückte Länder“ aus. Die Entwicklungen im System sind dynamisch und so dürfen auch die Rollen im imperialistischen System nicht als feststehende Wahrheiten schablonenhaft festgesetzt werden, sondern die Länder müssen in ihrem Aufstieg und Abstieg verstanden werden.
Das alles verunmöglicht keineswegs die Analyse qualitativer Unterschiede zwischen unterschiedlichen Ländern und Blöcken. Die Lage und Rolle im imperialistischen Weltsystem ist wesentlich von den häufig betrachteten Faktoren (Grad der Monopolisierung, Verhältnis von Kapital- und Warenexport, militärische Stärke) bestimmt. Die Entwicklungen und Entwicklungstendenzen, das Auf- und Absteigen von Ländern im Weltsystem drücken sich in diesen quantitativ bestimmbaren Eigenschaften aus. Allerdings zeigen sich die qualitative Sprünge in der Entwicklung der kapitalistischen Länder nicht unmittelbar in Metriken, sie lassen sich nicht einfach anhand von Zahlen auslesen. Würde man versuchen, die qualitativen Unterschiede an quantitativen Unterschieden festzumachen, bleibt es eine Frage des Ermessens, der Definition, welche Rolle man einem Land nun zuschreibt. Das ist nicht vollkommen unmaterialistisch, vermittelt über die Quantitäten drückt es tatsächlich etwas über die Welt aus, aber ich halte es für gewinnbringender hier eine Unterscheidung zu machen. Die Tendenzen und allmählichen Entwicklungen kann und muss man anhand solcher Statistiken analysieren.
Das Adjektiv imperialistisch kann man aber bedeutend produktiver einsetzen, indem man es daran knüpft, wie stark sein tatsächlicher ökonomischer, politischer (inkl. kultureller und ideologischer) und militärischer Einfluss auf andere Länder entwickelt ist (vgl: TKP: Thesen, 2017, These 7). Bemerkenswert finde ich hier die Anmerkung der TKP, dass auch Länder, „die nicht an der Spitze der Hierarchie [des imperialistischen Weltsystems] stehen, regionale oder konjunkturelle imperialistische Rollen innerhalb des Systems“ (ebd., These 17) einnehmen können.
Bei der Einschätzung der Rolle und des Charakters der jeweiligen Länder dürfen wir also nicht in starre oder schematische Denkmuster verfallen. Jedes Land nimmt immer wieder eine in sich widersprüchliche Rolle ein: zum einen, weil jede Entwicklung immer im Widerspruch von sein und vergehen, von Kontinuität und Veränderung stattfindet, aber auch konkret, indem (Des-)Industrialisierungsprozesse stattfinden, vor- oder nachteilhafte Verträge abgeschlossen werden und um jeden Milimeter Einfluss gerungen werden muss. Dies gilt verstärkt für Länder, die sich noch nicht an der Spitze des Weltsystems befinden, die aber der Tendenz nach aufsteigen. Sie sind in nachteiligen abhängigen Beziehungen, in die sie die führenden Mächte zwingen, können sich meistens nur in deren Schatten bewegen, vermehren aber gleichzeitig ihre Beziehungen zu anderen Ländern, die klar ihnen zum Vorteil gereichen und ihren Einfluss in der Welt steigern.
Ebenso, wie die Rolle selbst widersprüchlich sein kann, ist aber auch das Handeln im Weltsystem überhaupt von ineinander übergehenden Widersprüchen geprägt. Politische und militärische Mittel erscheinen wie starke Gegensätze, der Übergang von einem zum anderen, also der Beginn oder das Ende eines Krieges sind wichtige gesellschaftliche Ereignisse, aber dennoch können die beiden Mittel nicht absolut gegeneinander gestellt werden. Sie gehen immer wieder auseinander hervor, bedingen sich immer wieder gegenseitig, Elemente des einen sind immer im anderen enthalten. Das Militär und eine Drohkulisse werden verwendet, um eine spezielle Politik im Land durchzusetzen, während politische Bündnisse genutzt werden, um sich geostrategische Vorteile zu verschaffen. In Deutschland kennen wir das aus eigener Erfahrung, nach dem militärischen Sieg der Alliierten im 2. Weltkrieg folgte die Besatzung. Doch auch nach der Phase der militärischen Einmischung wurde eine Phase von politischer „Unterstützung“ und „Zusammenarbeit“ (Stichwort Marshallplan) genutzt, um die Bundesrepublik zur (ideologischen, politischen, aber vor allem auch) militärischen Frontstellung gegen die sozialistische Welt aufzubauen.
Auch Offensive und Defensive schließen sich nicht vollkommen gegenseitig aus, wenn der offensive Charakter einiger Aktionen der Russischen Föderation (z.B. aktuelle Militäroperation) benannt wird, heißt das noch nicht, dass das Verhältnis von NATO und Russland wesentlich von der russischen Aggressivität geprägt wäre. Ob die Arbeiterklasse und die Volksschichten (kurzzeitig) von der politischen, ökonomischen, ja vielleicht sogar militärischen Einflussnahmen profitieren, sagt nichts über deren Charakter als „besonders aggressiv“ oder „besonders wenig aggressiv“ aus, der Marshallplan ging eben auch mit der Stationierung von Truppen, später mit der Unterstützung der Wiederaufrüstung Deutschlands einher.
Das Verhältnis von Ursache und Wirkung ist ein weiteres, das sich in ständigem Wechsel befindet: Pole, die „sowie wir den einzelnen Fall in seinem allgemeinen Zusammenhang mit dem Weltganzen betrachten, zusammengehen, sich auflösen in der Anschauung der universellen Wechselwirkung“ (Engels: Anti-Dührung, 1978, S. 21 f.). Natürlich ist es zentral für die Analyse konkreter Prozesse, für die Agitation und für die Verallgemeinerung, welche Partei aus welchen Gründen, mit welchen Motiven und Zielen einen Krieg beginnt, aber die Antwort auf die tatsächliche Ursache lässt sich nicht einfach in den jeweils einzelnen Abläufen und Fakten finden. Eine materialistische Untersuchung der Ursachen des ersten Weltkriegs darf sich nicht mit einer Geschichte über Franz Ferdinand zufrieden geben – die Ursachen liegen tiefer: abstrakt allgemein in der Zuspitzung der zwischenimperialistischen Widersprüche bei der Neuaufteilung der Welt, konkret allgemein im Drang nach Kolonien durch das deutsche und österreichische Kapital.
Die Bezeichnung als „imperialistischer Krieg“ halte ich deshalb nicht nur für Kriege angemessen, die zwischen imperialistischen Ländern (oder gar führenden imperialistischen Ländern) geführt werden, nicht einmal nur Kriege, die von einer imperialistischen Macht begonnen werden, sondern alle Kriege, die aus der Logik des Imperialismus heraus entstehen, aus den Konflikten bei der Neuaufteilung der Welt, aus dem Drang nach Einflussgebieten, respektive dem Schutz der eignen Einflussgebiete und übervorteilten politischen und ökonomischen Beziehungen. Ein solches Verständnis erlaubt wohlgemerkt immer noch die Abgrenzung von gerechten Kriegen wie dem Befreiungskampf der Palästinenser oder einige der Versuche (und Erfolge) der lateinamerikanischen Guerillabewegungen.
Aufklärer statt Schiedsrichter – Die Agitation und Propaganda der Kommunisten
Wie müssen sich die Kommunisten denn nun zum Krieg in der Ukraine verhalten? Wer in den letzten Wochen politische Gespräche mit eigentlich egal wem geführt hat wird festgestellt haben: Die Kriegshetze zeigt ihre Wirkung auf ganzer Linie. Jede Infragestellung der absoluten Boshaftigkeit und/oder des hellen Wahnsinns Russlands und speziell Putins liegt außerhalb des akzeptablen Diskussionsrahmens, während gleichzeitig im öffentlich-rechtlichen Fernsehen in Top-Formaten darüber gesprochen wird, dass der Russe doch einfach ganz anders drauf ist als wir.
Dieser Stimmung müssen die Kommunisten etwas entgegensetzen, sie müssen aufzeigen, dass das deutsche Kapital in diesem Krieg eigene Interessen hat und einen großen Teil zur Eskalation des Konflikts beigetragen hat. Die Kriegsstimmung ist hier mit Sicherheit kein guter Krisenberater, damit wird sich keine Orientierung für die Arbeiterklasse finden lassen. Die unbestritten größte Gefahr für die deutsche Arbeiterklasse ist eine Einbindung die herrschende Politik, ein Sammeln hinter den Plänen des deutschen Kapitals. Die Hauptstoßrichtung muss also klar gegen die NATO und die deutsche Bourgeoisie gerichtet sein.
Allerdings geht es nicht nur darum, der Propaganda etwas entgegenzusetzen und eine sachliche Grundlage für die Diskussion zu schaffen, sondern auch darum, Einschätzungen zu den kommenden Entwicklungen treffen zu können und Entwicklungstendenzen zu verstehen. Dazu gehört neben den Plänen Deutschlands und der USA in Europa und den Plänen der USA für Asien auf der einen Seite auch das Aufsteigen Russlands und die damit einhergehenden Anforderungen und Ansprüche auf der anderen Seite.
Aufgabe der Kommunisten ist es aber nicht, Schiedsrichter in Konflikten zwischen Polen im imperialistischen Weltsystem zu spielen – und für diese Aufgabenbestimmung ist es unerheblich, ob man Russland grundsätzlich als imperialistisch oder nur mit einer regionalen und/oder konjunkturellen imperialistischen Rolle versteht. Während es in der Agitation darauf ankommt, die himmelschreienden Doppelstandards und die Kriegshetze des deutschen Kapitals aufzudecken und die Gefährlichkeit des Burgfriedens für die Arbeiterklassen Osteuropas und Eurasiens, aber auch für die Arbeiterklasse in Deutschland aufzuzeigen und man hier nicht in jedem Flugblatt Russlands Rolle ergründen muss, muss es in der Propaganda darum gehen, ein Verständnis der Welt und unserer Lage in ihr zu vermitteln. Wenn wir diese Aufgabe erfüllen wollen, müssen wir uns doch sehr wohl um die Rolle Russlands und den Charakter des Imperialismus streiten. Wenn wir Propaganda betreiben, sollen die Leute nicht nur (aber selbstverständlich auch) erfahren, warum dieser Krieg abzulehnen ist, sondern warum der nächste und übernächste auch abzulehnen sein werden, warum die Kriege trotzdem kommen werden (Gesetzmäßigkeit des Imperialismus) und was wir dagegen tun müssen (Klassenkampf, Revolution, Sozialismus). Lediglich die Hauptaggressoren zu benennen taugt ggf. zu einer akzeptablen Orientierung für die Friedensbewegung, eine kommunistische Position muss aber darüber hinaus gehen und die Entwicklung im Kontext des imperialistischen Weltsystems erklären.
Selbst wenn es sich also um einen „defensiven Präventivschlag“ (Kiknadze: Defensivschlag, 2022) handeln würde (was ich für eine verfehlte Beschreibung halte), dürften wir uns doch nicht zum Anwalt der Defensivschläger machen, sondern müssten aufzeigen, wie dieses System immer wieder den Krieg hervorbringt und diesen Umstand verurteilen. Wenn die USA zu einem aggressiveren Vorgehen gezwungen sind, weil sie den Völkern der Erde nichts zu bieten haben und sie sich auf dem absteigenden Ast befinden, relativiert der Faktor, dass sie keine andere Wahl hätten, doch nicht den imperialistischen Charakter ihrer Politik.
Literaturverzeichnis
Communist and Worker’s Parties: Joint Statement – No to the imperialist war in Ukraine! Gemeinsame Stellungnahme einiger Parteien und Organisationen, 2022. Abrufbar unter: http://solidnet.org/article/Urgent-Joint-Statement-of-Communist-and-Workers-Parties-No-to-the-imperialist-war-in-Ukraine/.
Engels, Friedrich: Anti-Dührung. In: MEW, Band 20, Dietz, Berlin 1978.
Kiknadze, Alexander: Zum Defensivschlag Russlands gegen die NATO. Diskussionsbeitrag zur Imperialismusdiskussion der KO, 2022. Abrufbar unter https://kommunistischepartei.de/diskussion-imperialismus/zum-defensivschlag-russlands-gegen-die-nato/.
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Koutsoumbas, Dimitris: We do not choose a camp between thieves, we choose the camp of the peoples. Rede auf einer Demo der KKE gegen den imperialistischen Krieg, 2022. Abrufbar unter: https://inter.kke.gr/en/articles/D-Koutsoumbas-We-do-not-choose-a-camp-between-thieves-we-choose-the-camp-of-the-peoples/.
Medina, Pablo: Unipolare Welt? Diskussionsbeitrag zur Imperialismusdiskussion der KO, 2022. Abrufbar unter https://kommunistischepartei.de/diskussion-imperialismus/unipolare-welt/.
Oswald, Paul: Die wissenschaftliche Analyse nicht über Bord werfen! Diskussionsbeitrag zur Imperialismusdiskussion der KO, 2022. Abrufbar unter: https://kommunistischepartei.de/diskussion-imperialismus/die-wissenschaftliche-analyse-nicht-ueber-bord-werfen/.
Papadopoulos, Makis: The imperialist unions, the inter-imperialist contradictions and the stance of the communists. In: International Communist Review, Ausgabe 6, 2015. Abrufbar unter https://www.iccr.gr/en/news/The-imperialist-unions-the-inter-imperialist-contradictions-and-the-stance-of-the-communists/.
Papadopoulos, Makis: Η ΕΠΙΚΑΙΡΟΤΗΤΑ ΤΗΣ ΛΕΝΙΝΙΣΤΙΚΗΣ ΘΕΩΡΙΑΣ ΤΟΥ ΙΜΠΕΡΙΑΛΙΣΜΟΥ (Die Aktualität der leninistischen Theorie des Imperialismus). In: ΚΟΜΕΠ (Komep), Ausgabe 4, 2016. Automatisiert übersetzt abrufbar unter: https://www-komep-gr.translate.goog/m-article/I-EPIKAIROTITA-TIS-LENINISTIKIS-TIEORIAS-TOY-IMPERIALISMOY/?_x_tr_sl=el&_x_tr_tl=de&_x_tr_hl=de.
Papariga, Aleka: On Imperialism – The imperialist Pyramid. Artikel für „El Machete“ der PCM, 2013. Nachveröffentlicht und abrufbar unter: https://inter.kke.gr/de/articles/On-Imperialism-The-Imperialist-Pyramid/.
Saidi, Fatima: Imperialismus, Lenins Vorgehensweise, Befreiungskriege – zum Beitrag Klara Binas. Diskussionsbeitrag zur Imperialismusdiskussion der KO, 2022. Abrufbar unter: https://kommunistischepartei.de/diskussion-imperialismus/imperialismus-lenins-vorgehensweise-befreiungskriege-zum-beitrag-klara-binas/.
Štoff, V.A.: Modellierung und Philosophie. Akademie Verlag, Berlin 1969.
TKP: Thesen zum Imperialismus entlang der Achse von Russland und China. Resolution des Parteitags, 2017. Übersetzt abrufbar unter: https://kommunistischepartei.de/diskussion/tkp-thesen-zum-imperialismus-entlang-der-achse-von-russland-und-china-2017/.