Generalstreik in Frankreich: Eindrücke eines Augenzeugen vom 10. September

Aktuelles von Hans Christoph Stoodt

Die Frankfurter Rundschau jammert: „Landesweiter Streik – beliebteste Reiseziele unerreichbar“. Die FAZ sieht eine neue Eurokrise am Horizont. Die Experten für linksliberale Aufstandsbekämpfung Claus Leggewie und Daniel Cohn-Bendit wissen schon, bevor es losgegangen ist, dass alles falsch ist, und attestieren den Aktivisten, eine Mischung aus Nationalisten, Links- und Rechtsextremisten zu sein: „Die Zusammenrottung einer orientierungslosen Masse zeugt von einem selbst­schädlichen Nihilismus“. Etwas gelassener sieht es Le Monde: Trotz aller Wut im Volk, ob aus dem Generalstreik etwas werde, wisse man noch nicht – aber l‘Humanité, die Zeitung der sozialdemokratischen PCF, interviewt Streikbereite, die erklären, warum sie am 10. September die Arbeit niederlegen wollen.

Beispiel vor Ort: Montpellier

Als Augenzeuge der Ereignisse kann man natürlich nur von einem Ort berichten, nicht vom ganzen Land – in meinem Fall aus Montpellier, nicht weit von der Mittelmeerküste. Agrar- und Lebensmittelindustrie, insbesondere im Bereich der Agro-Wissenschaft und der Biodiversität, Medizintechnik, Metallverarbeitung, Druck- und Chemie-Industrie und Weinproduktion stellen hier die Arbeitsplätze. In der Stadt mit der ältesten medizinischen Fakultät Europas dominiert eine relativ junge Bevölkerung mit hohem Migrationsanteil. Montpellier ist quirlig, lebendig und politisch, verglichen mit der Region, eher links – eine Ausnahme im ansonsten mehrheitlich an der faschistischen Le Pen-Bewegung orientierten französischen Süden.

Was will die Bewegung?

10. September, Place de la Comédie, 11 Uhr – hier geht es los, so verkünden es Plakate und Sticker überall. Was genau? „Bloquons tout“, also: „Lasst uns alles blockieren“, ist eine erst Mitte August im Internet auf diversen Social-Media-Kanälen entstandene Bewegung, kein Bündnis. Es ist die wütende Reaktion auf die jüngsten Sparpläne des inzwischen gestürzten Ministerpräsidenten Francois Bayrou: ein Jahr Nullrunde im öffentlichen Dienst, Sozialabbau, Kahlschlag im Kulturbereich, Aufrüstung.

„Bloquons tout“ stellt begrenzte Reform-Forderungen wie die Reichensteuer ohne Schlupflöcher, keine Nullrunde im öffentlichen Dienst, Sanierung von Krankenhäusern, Schulen und der maroden öffentlichen Infrastruktur, vollständige Übernahme aller Behandlungskosten durch die Krankenversicherungen. Aber auch: Schluss mit der Aufrüstung. Aus der Erfahrung mit der „Gelbwesten“-Bewegung 2018/19 wird bereits vor rechter Unterwanderung gewarnt (die es seinerzeit und an einigen Orten wirklich gab, an den meisten aber nicht). Der Slogan „Bloque / bloquons tout“ wurde also schon früher benutzt. Man kann vermuten, dass es noch immer auch Netzwerke aus dieser Zeit sind, die nun erneut aufrufen. „Bloquons tout“ ist bekannt dafür, Straßen, Autobahnen und andere Infrastrukturen zu blockieren, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.

Die Bewegung hat keine klar formulierte ideologische Ausrichtung, sondern reagiert auf spezifische politische und soziale Themen. Sie wurde beispielsweise bekannt, indem sie sich gegen die Erhöhung der Kraftstoffsteuern wandte, die Teil der Gelbwesten-Proteste im Jahr 2019 waren. Da die „Bloquons Tout“-Bewegung eine lose organisierte Form des Protests darstellt, gibt es keine verlässlichen Daten oder Umfragen, die eine genaue Einschätzung der Sympathisantenzahl ermöglichen. Ausdrücklich wird aufgerufen: keine Fahnen, keine Repräsentanten von Parteien oder Gewerkschaften – die Angst vor Vereinnahmung, der Wunsch nach Autonomie ist groß.

Eher Demonstration als Streik

Die Stimmung beim Auftakt wird schnell laut und ist klar antikapitalistisch und „bunt“. Viele Palästina-Fahnen sind zu sehen, viele tragen Kufiya. Es überwiegen junge Teilnehmerinnen und Teilnehmer – es ist stimmungsmäßig vergleichbar mit einer Demo von Fridays for Future, als diese Bewegung noch wuchs.

Es gibt zum Auftakt keine Kundgebung mit Reden – irgendwann gehen alle los. Es sind zwischen anfangs 5000 und 10.000 Menschen dabei, die sich auf den Weg auf die etwa sieben Kilometer lange Demostrecke rund um die Innenstadt von Montpellier machen – auf dem Weg werden es immer mehr, und am Schluss vermutlich weit über zehntausend. Menschen klatschen aus den Fenstern, vom Straßenrand, schließen sich an. Der am häufigsten wiederholte Sprechchor wird auf Italienisch gerufen: „Siamo tutti antifascisti“ – vielleicht um dem Gerücht der Rechtsoffenheit laut entgegenzutreten. Hier in Montpellier wäre es keinem Faschisten anzuraten, sich der Demo anzuschließen.

Die Wut auf Macron und die ganze „Macronie“ ist groß: „Macron, bois ta pisse!“, also: „Macron, trink deine Pisse!“, ist ebenso häufiger Sprechchor wie eine rhythmische Version von „ACAB“ oder das bekannte „Tout le monde déteste la police!“ – übersetzt: „Die ganze Welt hasst die Polizei!“. Bei genauem Hinschauen erkennt man Angehörige der PCF, der JC (PCF-Jugendorganisation) und der reformistischen Basisgewerkschaft „Solidaires“ sowie diverser trotzkistischer Gruppen an Aufklebern auf der Kleidung. Bis auf kleine Ausnahmen unsichtbar bleiben große Gewerkschaften wie die CGT oder die Parteien des 2024 gegründeten sozialdemokratisch-grünen Wahlbündnis „Nouveau Front Populaire“ (Sozialisten, Mélenchon-Partei „La France Insoumise“ („Unbeugsames Frankreich“), Grüne und PCF) – wohl, weil sie sich an die Vereinbarung halten, nicht sichtbar in Erscheinung zu treten.

Die kommunistische Perspektive

Dieses Verhalten problematisiert die PCRF (Revolutionäre Kommunistische Partei Frankreichs). In einer Stellungnahme zum Streik erklärte sie vor wenigen Tagen, sie anerkenne die Notwendigkeit unabhängiger, nicht von bürgerlichen Kräften angeführten Bewegungen der Arbeiterklasse und der Volksschichten, aber sie werde laut gegen jede „rechte“ oder „linke“ Kraft auftreten, deren Vorschläge zur Krisenlösung im Rahmen des Kapitalismus bleiben. Abschließend erklärt die Partei: „Es ist von entscheidender Bedeutung, dass neben alternativen Organisationsformen … auch die Formen des Kampfes Perspektiven auf einen Sieg bieten, in erster Linie durch Streiks und Blockaden. Wir können keinen Sieg wie die Rücknahme des Bayrou-Plans erwarten, wenn wir uns auf kontrollierte Demonstrationen und einen Streiktag beschränken. Die politische Herausforderung am 10. September wird daher darin bestehen, eine langfristige Streikbewegung aufzubauen, sowohl finanziell als auch organisatorisch, die in der Lage ist, strategische Sektoren der kapitalistischen Wirtschaft in Frankreich zu blockieren.“

Weil die PCRF genau das fordere, sei sie keine bürgerliche Wahlpartei wie alle anderen.
Von solchen Einsichten und Möglichkeiten ist die Bewegung derzeit noch weit entfernt – in Montpellier ist die PCRF auch in dieser Demo für mich nicht sichtbar präsent.

Die Begrenztheit der Bewegung kommt schon darin zum Ausdruck, dass von einem wirklichen Generalstreik nicht die Rede sein kann – dass davon berichtet wird ist erst der Fall, nachdem Luc Mélenchon, der Vorsitzende der „linksnationalistischen“ Bewegung „La France Insoumise“ („Unbeugsames Frankreich“), Teil des Wahlbündnis „Nouveau Front Populaire“ („Neue Volksfront“) für den 10. September einen solchen Generalstreik gefordert hat (ohne dazu in der Lage zu sein, ihn auch zu organisieren).

In Montpellier stand der ÖPNV vier Stunden lang still, die meisten Geschäfte abseits der Demoroute blieben geöffnet, von Arbeitsunterbrechungen in der Produktion wird, jedenfalls bisher, nirgends berichtet. Allerdings wurde in Deutschland vorsorglich vom Stillstand in Häfen, Zügen und Flughäfen gewarnt. Es gab in Montpellier keine sichtbare, gemeinsam erhobene politische Forderung: Es blieb bei einer Demonstration mit einer Stimmungsexplosion gegen den Bayrou-Plan und der allgemeinen Forderung nach dem Rücktritt von Staatspräsident Macron. Dennoch ist es ermutigend, mitzuerleben, wie viele Menschen sich wenigstens einer solchen Aktion anschließen.

Ausblick: 18. September

In welche Richtung Frankreich unter Macron gehen wird, ist erkennbar: Mit Sébastien Lecornu wird der bisherige Verteidigungsminister Nachfolger von Bayrou. Die Zeichen stehen auf Aufrüstung und Krieg – bewährtes Mittel der Bourgeoisie und ihres Staats, wenn sie der ökonomischen Krise nicht Herr wird.

Die PCRF lässt keinen Zweifel daran: Zu verhindern ist ein solches Desaster letztlich nur durch den Sturz des Kapitalismus. Die Voraussetzung dafür ist die Existenz einer kommunistischen Partei, die in der Arbeiterklasse wirklich verankert ist und ein revolutionäres Programm verfolgt. Dieser Aufgabe stellt sich die PCRF, die im Juni 2025 ihren zweiten Parteitag organisierte.

Wie es in Frankreich unmittelbar weitergeht, wird sich bereits in einer Woche zeigen: Am 18. September ist der nächste landesweite Streik – diesmal rufen die großen Gewerkschaftsverbände mit auf. Ein heißer Herbst wäre dem Land und seinen liebenswerten Menschen sehr zu wünschen.

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