Kommentar von Tristan Roth
Die geschrien haben
„Die Juden sind unser Unglück“
sind das Unglück der Juden
und der Palästinenser geworden
Die geschrien haben
„Die Juden sind schuld“
sind schuld daran
dass die Zionisten schuldig werden konnten
– Erich Fried
Nach jahrelanger Sanierung wurde die Synagoge Reichenbachstraße in München am 15. September feierlich wiedereröffnet. Friedrich Merz, sonst als nüchtern, sachlich und teils kühl bekannt, hielt eine vielbeachtete, emotionale Rede. Der Bayerische Rundfunk schrieb: „Beim Festakt kämpfte Kanzler Merz mit den Tränen.“ Der Bundeskanzler sprach „mit brüchiger Stimme“, berichtete der Spiegel.
Merz erinnerte an die Verbrechen des deutschen Faschismus – natürlich verwendete er dessen demagogische Eigenbezeichnung „Nationalsozialismus“ – und erklärte „jeder Form des alten und des neuen Antisemitismus in Deutschland namens der gesamten Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland den Kampf“ – politisch, aber auch „strafrechtlich“ und „in jedweder gesetzgeberischen Form, die uns möglich ist“. Was das bedeutet, durften wir in den letzten Monaten beobachten und vielfach auch am eigenen Leib erfahren: Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf wird zunehmend pauschal als antisemitisch diffamiert, die palästinasolidarische Linke wird mit Repression überzogen und kriminalisiert.
Heuchelei
Die Inszenierung des Bundeskanzlers ist politische Heuchelei in Reinform: Wir sahen einen Kanzler, der Tränen vergießt über die Verbrechen von gestern, während er sich gleichzeitig aktiv an den Verbrechen von heute beteiligt. Krokodilstränen über den Völkermord zu vergießen, den der deutsche Imperialismus vor 80 Jahren begangen hat, während man gleichzeitig den laufenden Genozid an den Palästinensern deckt und unterstützt, ist zynisch. Die Merz-Regierung liefert weiterhin Waffen, verhindert Sanktionen gegen Israel, blockiert jede ernsthafte internationale Initiative gegen Netanjahus Kriegsverbrechen – und macht sich damit zum Komplizen und Mittäter. Während in Gaza Tausende Zivilisten unter Bomben sterben, versucht der Kanzler, die deutsche Geschichte zur Rechtfertigung des heutigen Völkermords umzudeuten.
Besonders perfide: Merz vergleicht in seiner Rede den 7. Oktober 2023 mit dem Holocaust, als „eine gleichfalls monströse, eine barbarische Tat“. Wer das, was am 7. Oktober in Israel geschah, mit dem systematischen, industriellen Mord an Millionen Menschen gleichsetzt, betreibt Geschichtsrevisionismus. Außerdem lagert Merz den Antisemitismus aus, indem er letztlich Palästinenser und Migranten aus muslimisch geprägten Ländern zu den neuen Nazis erklärt. Auf diese Weise wird deutsche Verantwortung nicht kritisch aufgearbeitet, sondern nach außen projiziert.
Instrumentalisierung
Am 7. Oktober sei folgendes „endgültig unübersehbar geworden“, so Merz: „Wir haben in Politik und Gesellschaft zu lange die Augen davor verschlossen, dass von den Menschen, die in den letzten Jahrzehnten nach Deutschland gekommen sind, ein beachtlicher Teil – ein Teil, aber ein beachtlicher Teil – in Herkunftsländern sozialisiert wurde, in denen Antisemitismus geradezu Staatsdoktrin ist, Israelhass schon den Kindern in den Schulen vermittelt wird.“ Plötzlich erscheint Antisemitismus nicht mehr als Produkt deutscher Gesellschaft, sondern als importiert von Einwanderern aus Ländern, in denen er „Staatsdoktrin“ sei. So wäscht sich die deutsche Bourgeoisie rein – während sie gleichzeitig Rassismus schürt und eine ganze Bevölkerungsgruppe unter Generalverdacht stellt.
Während die Palästinenser einem laufenden Genozid ausgesetzt sind, spielt sich Merz als moralische Instanz auf. Das ist nicht nur zynisch, es ist widerwärtig. Seine Tränen sollen die eigene Mittäterschaft am Völkermord in Gaza verschleiern. Auf perfide Art und Weise wälzt er die deutsche Schuld auf andere ab und treibt die gesellschaftliche Spaltung voran, indem er innenpolitisch Rassismus mobilisiert. Das ist kein Kampf gegen Antisemitismus, sondern die übelste Form seiner Instrumentalisierung. Wer über Auschwitz Krokodilstränen vergießt, während er den Bombenkrieg gegen Gaza unterstützt, hat jedes moralische Recht verwirkt.
Im Februar lud Merz Netanjahu ein, Deutschland zu besuchen – trotz eines Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs. Man werde Israel „weiter helfen, sich zu verteidigen“, so Merz im August. Der Kanzler spricht von einer „Freundschaft“ Deutschlands zu Israel. Doch um den vielbeschworenen Schutz „jüdischen Lebens“ geht es den Herrschenden nicht. Merz geht es um die Legitimierung der deutschen Staatsräson. In die „Richtung aller Bürgerinnen und Bürger dieses Landes“ sagte Merz in seiner Rede, es liege an uns allen, das „Nie wieder“ als „unser aller historische Pflicht mit Leben zu füllen“. Dass „Nie wieder“ für alle gelten muss – auch für Palästinenser –, davon will er, davon will die herrschende Klasse in Deutschland nichts wissen.