Kommentar von Fatima Saidi
Es klingt absurd, ist aber wahr: CDU und SPD wollen die gesetzliche Grenze für Arbeitszeit von täglich acht Stunden auf eine Wochenarbeitszeit von 48 Stunden hochsetzen. Doch schon heute leisten in Deutschland Millionen Menschen unbezahlte Überstunden, arbeiten über ihre Grenzen und ignorieren gesetzliche Pausen. Hinter dem Vorstoß steckt kein Versuch zur Rettung „unseres Wohlstands“, sondern ein Angriff auf unsere Gesundheit, unsere Zeit und hart erkämpften Rechte.
Wessen „Fleiß und Anstand“?
Wenn man CDU, FDP und den großen bürgerlichen Medien glaubt, wird Deutschland gerade zum Urlaubsland. Es wird anscheinend nicht mehr gearbeitet, von einer „Life-Life-Balance“ ist die Rede. „Rentner arbeiten zu wenig“, verkündet CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann, es fehle an „Leistungsbereitschaft, Fleiß, Anstand“. Belegt wird das Ganze natürlich mit Zahlen – denn Zahlen kann man alles sagen lassen, wenn man sie nur lang genug dreht. So arbeiten Menschen in Griechenland gemäß einer Auswertung des Instituts der deutschen Wirtschaft 135 Stunden mehr im Jahr als Deutsche.[1] Die Wochenarbeitszeit lag laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2024 mit 34,8 Stunden unter dem EU-Durchschnitt von 37,1 Stunden.[2]
Die Schlussfolgerung präsentiert uns der neue Bundeskanzler, Multimillionär und Privatflugzeugbesitzer Merz: „Wir“ müssen wieder mehr arbeiten – und damit raus aus der Wirtschaftskrise. Die Lösung? Das Rad um mehr als 100 Jahre zurückdrehen und den im Zuge der Novemberrevolution 1918 eingeführten 8-Stunden-Tag wieder abschaffen. Die bisherige tägliche Begrenzung der Arbeitszeit soll abgeschafft und durch eine wöchentliche Höchstgrenze von 48 Stunden ersetzt werden. Das fordert auch schon der Koalitionsvertrag zwischen SPD und CDU.
Schauen wir uns die Situation mal etwas genauer an: Wenn Merz und Co. recht hätten, müsste es in Deutschland ja nur so vor Leuten wimmeln, die gar nicht mehr wissen, wohin mit ihrer Freizeit und fröhlich ihr faules Dasein genießen. Aber wen kennt man tatsächlich – im Freundeskreis, in der Familie –, bei dem das so ist? Ist das die Realität der arbeitenden Menschen, der Kassierer, der Bauarbeiter, der Pflegerinnen oder Lehrerinnen in diesem Land?
Fakten-Check
Tatsächlich liegt die gesetzliche Obergrenze für tägliche Arbeitszeit gar nicht bei acht, sondern bei zehn Stunden – sofern die Mehrarbeit innerhalb von sechs Monaten ausgeglichen wird. Viele Beschäftigte, etwa Monteure für Gas und Strom, Krankenpfleger, Schichtarbeiterinnen oder Lokführerinnen, dürfen schon heute bis zu zwölf Stunden – teils sogar darüber hinaus – arbeiten. Das betrifft rund ein Drittel aller Beschäftigten.[3]
Letztes Jahr wurden rund 1,2 Milliarden Überstunden geleistet, davon die Hälfte unbezahlt. Das entspricht etwa 750.000 Vollzeitstellen.[4] Fast die Hälfte der Beschäftigten macht bereits regelmäßig Überstunden. Schon jetzt ignoriert ein Drittel oft gesetzliche Pausen und Arbeitszeitregelungen, weil sie sonst ihre Arbeit nicht schaffen – in der Gesundheitsbranche sind es sogar 48 Prozent. Viele berichten von Druck durch ihre Vorgesetzten, mehr zu arbeiten.[5]
Wie passt das aber zu dem Bild, mit dem uns Unternehmer, einige Politiker und Medien dazu bringen wollen, auch noch unsere letzten Kraftreserven auspressen zu lassen? Es stimmt zwar, dass im Durchschnitt in Deutschland weniger Stunden pro Woche gearbeitet werden als in anderen Ländern. Doch mit 55 Milliarden Stunden wurde im vergangenen Jahr so viel gearbeitet wie seit 30 Jahren nicht mehr.[6] Die Erklärung liegt im hohen Anteil von Menschen mit Teilzeitbeschäftigung in Deutschland. Nur in den Niederlanden und Österreich arbeiten anteilig noch mehr Menschen in Teilzeit.[7] Dabei arbeiten Frauen viermal so häufig in Teilzeit wie Männer: Familien können hierzulande nicht mehr mit nur einem Gehalt ernährt werden. Auch heute noch wirken die historischen Geschlechterrollen und Erwartungen an Frauen: Den Haushalt zu machen, sich um Kinder und kranke Eltern kümmern, den Familienalltag planen. So bleibt eben oft für Frauen nur Teilzeitarbeit, und das mit schlechterer Bezahlung.[8] Eine besonders arbeitsscheue Einstellung der deutschen Arbeiterklasse steckt also nicht hinter den präsentierten Zahlen.
Was steckt dahinter?
Aber wird im Streit um die geleisteten Arbeitszeiten überhaupt die richtige Frage diskutiert? Worum geht es eigentlich, wenn von „faulen Deutschen“ gesprochen wird? Warum diskutieren wir darüber, wie wir den Aktionären von Siemens, Mercedes, BMW oder BASF die nächste Luxusvilla finanzieren können, wie das reichste Prozent der Bevölkerung noch mehr als ein Drittel des Vermögens an sich reißen könnte?
Offensichtlich ist: Es sollen Ängste geschürt werden. Angst vor Arbeitsplatzverlust angesichts der aktuellen Kündigungswellen, Angst, die Kredite für Auto oder Wohnung nicht mehr abzahlen zu können, die eigenen Kinder nicht mehr ernähren zu können. Angst vor einem „schwachen Deutschland“, das in der internationalen Konkurrenz zurückfällt. Da hilft wohl nur noch eins: Im Vertrauen auf Politik und Medien die Zähne zusammenzubeißen – Butter soll es ja sowieso schon nicht mehr geben. Der Präsident des Weltwirtschaftsinstituts ist „sofort dafür, gleich zwei Feiertage abzuschaffen, damit wir das, was wir in der Verteidigungspolitik leisten müssen, auf alle Schultern verteilen“.[9]
Auf den ersten Blick scheint es paradox, dass mehr gearbeitet werden soll in Zeiten von Kündigungswellen. Tatsächlich nutzen Unternehmer und Politik aber mit diesem Vorstoß die aktuellen Kräfteverhältnisse und die Krisenstimmung gezielt aus. Damit wird fortgesetzt, was Anfang der 2000er Jahre schon die rot-grüne Regierung begonnen hat: Die Einführung von Zeitarbeit und Leiharbeit hatte schon damals das Ziel, die Produktionsbedingungen möglichst genau an die Interessen der Unternehmen und Kapitalbesitzer anzupassen. Gleichzeitig wurde durch unterschiedliche Bezahlung von Stammbelegschaft und Befristeten Druck gemacht auf die noch Unbefristeten, noch nicht Outgesourcten. Jeder wurde so immer mehr zum Einzelkämpfer, mit eigenen Arbeitszeiten, einem Zweitjob – oder gehörte eben eigentlich gar nicht zur Belegschaft. Gemeinsam für die eigenen Rechte und gegen die Interessen der Aktionäre oder Unternehmerinnen einzustehen, wird so immer schwieriger.
In diesem Zeichen steht es, wenn die Grenze der Arbeitszeit von acht auf 48 Stunden hochgesetzt werden soll. Das muss nicht unbedingt Mehrarbeit heißen. In Zeiten geringer Auftragslage kann das auch einen 3-Stunden-Tag bedeuten – nur um dann in anderen Monaten Arbeitstage mit zwölf oder noch mehr Stunden durchsetzen zu können. So sparen sich Unternehmen eine vernünftige Personalplanung, die Krankheitsausfälle oder Auftragsspitzen berücksichtigt – alles auf dem Rücken der Beschäftigten. So sollen Stück für Stück die erkämpften Vereinbarungen der Beschäftigten, der Arbeiterklasse in diesem Land, wieder rückgängig gemacht werden.
Das ist umso lächerlicher, als eigentlich die Produktivität seit der industriellen Revolution tendenziell ansteigt – wie Vertreter des Kapitalismus selbst stolz verkünden. Die Maschinen werden effizienter und die Menschen am Fließband bei Porsche oder Daimler werden jedes Jahr zu noch höheren Leistungen in derselben Zeit gedrängt. Zwar bremsen Erscheinungen des heutigen Kapitalismus wie Patentrecht, Monopole, Kartelle und Profitgier diese fortschrittliche Entwicklung. Trotzdem ist in Deutschland die Produktivität pro Arbeitsstunde seit 1991 gestiegen.[10]
Seit einigen Jahren fordern IG Metall und Verdi eine 34-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. Doch worauf müssen wir uns einstellen, wenn jetzt stattdessen (theoretisch) bis zu 48 Stunden pro Woche gearbeitet werden kann? Klar ist: Diese Regelung wird von den Kapitalisten genutzt werden, um uns länger als zehn Stunden am Tag arbeiten zu lassen, denn sonst würden ihre Vertreter, wie der Arbeitgeberverband oder verschiedene Institute, diese Änderung nicht fordern. Dabei sprechen wir nicht von einer festen 48-Stunden-Woche, diese muss nur im Zeitraum von sechs Monaten im Durchschnitt erreicht werden. Damit wäre mit Ruhezeiten von elf Stunden sogar eine 73,5-Stunden-Woche möglich![11]
Bereits jetzt geben 40 Prozent der Beschäftigten gegenüber dem DGB an, oft nach der Arbeit zu erschöpft zu sein, um sich um private oder familiäre Angelegenheiten zu kümmern. Es ist nachgewiesen, dass lange Arbeitszeiten Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Burnout, und im Extremfall Schlaganfälle verursachen können. Bei zwölf Stunden Arbeitszeit sind Unfälle dreimal so wahrscheinlich wie bei acht Stunden.[12]
Nach wie vor: Kürzere Wochen bei vollem Lohnausgleich!
Für viele Beschäftigte ist es schon jetzt undenkbar, das aktuelle Arbeitstempo bis zur Rente (wann auch immer diese sein wird) durchzuhalten: Sei es bei Gerüstbauern, Dachdeckern, Erziehern, Krankenpflegern oder Bandarbeitern – viele von ihnen weisen bereits mit Mitte 30 teilweise schwere körperliche oder psychische Schäden auf. All das geschieht für noch höhere Profite und um die Interessen deutscher Unternehmen in der internationalen Konkurrenz noch härter durchsetzen zu können.
Lassen wir uns nicht für die Interessen der Reichen und Mächtigen gegeneinander aufhetzen. Lasst uns nicht in einen Wettlauf mit spanischen, griechischen oder indischen Arbeitern und Arbeiterinnen treten, wer am gehorsamsten und aufopferungsvollsten ist. Leider hat die Propaganda schon gewirkt, wenn etwa im öffentlichen Dienst bereits eine „freiwillige“ Ausweitung der Wochenarbeitszeit auf 42 Stunden beschlossen wurde.
Und jetzt? Wir müssen in den Betrieben Druck machen auf gewerkschaftliche Gremien, im besten Fall unsere Forderungen in die Öffentlichkeit tragen als Teil von Betriebskämpfen und Streikkundgebungen. Dabei müssen wir aber breite Diskussionen mit unseren Kollegen und Kolleginnen führen und auch verstehen, was sie bewegt. Denn ein Teil der Belegschaften, etwa schlecht verdienende Monteure, ist angewiesen auf die höheren Grundlöhne, die mit längeren Wochenarbeitszeiten einhergehen. Deshalb muss der Kampf um bessere Arbeitsbedingungen mit der Forderung nach höheren Löhnen verknüpft sein – nur so können wir die Erzählungen der Regierung über „Kanonen statt Butter“ entlarven.
[1]www.iwkoeln.de/presse/iw-nachrichten/holger-schaefer-griechen-arbeiten-135-stunden-im-jahr-mehr-als-deutsche.html.
[2] https://www.destatis.de/Europa/DE/Thema/Bevoelkerung-Arbeit-Soziales/Arbeitsmarkt/Wochenarbeitszeiten.html.
[3] https://iab-forum.de/mehr-anreize-mehr-flexibilitaet-mehr-arbeit-wie-beschaeftigte-auf-die-plaene-der-neuen-bundesregierung-reagieren-wuerden.
[4] https://www.igmetall.de/im-betrieb/gesundheit-und-arbeitsschutz/dgb-index-gute-arbeit-ueberstunden-weniger-ist-mehr.
[5] https://www.onpulson.de/30103/verstoesse-gegen-arbeitszeitgesetz-bei-etwa-jeder-zweiten-kontrolle.
[6] https://www.spiegel.de/wirtschaft/in-deutschland-wird-so-viel-gearbeitet-wie-noch-nie-diw-auswertung-a-01fb269f-3ed5-4e67-88ec-ecfe5bfb049f.
[7] https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2025/06/PD25_N033_13.html.
[8] Hier hat sich die KP ausführlicher mit diesen Fragen beschäftigt, die Zusammenfassung stellt den Zusammenhang auch auf wenigen Seiten dar: https://kommunistischepartei.de/diskussion/zur-frauen-und-geschlechterfrage.
[9] https://www.spiegel.de/wirtschaft/gleich-zwei-feiertage-abschaffen-a-b7955130-fd83-4844-8b96-7a4c60bec514.
[10] Dabei muss allerdings der Begriff von Produktivität genauer geprüft werden, weil es in bürgerlichen Statistiken vor allem um den Profit von Reichen und Unternehmern geht und nicht um gesellschaftlich sinnvolle Kenngrößen: https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61711/arbeitszeit-und-arbeitsvolumen.
[11] https://www.boeckler.de/de/auf-einen-blick-17945-69628.htm.
[12] https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Fokus/Arbeitszeit-und-gesundheitliche-Auswirkungen.