Der Kensington-Vertrag: Deutsch-britischer Schulterschluss gegen die Arbeiterklasse

Aktuelles von Pavel Wierroth

Jahre wachsender Widersprüche zwischen den verschiedenen Fraktionen des Kapitals in Deutschland und Großbritannien fanden 2020 mit dem Austritt Großbritanniens aus dem gemeinsamen imperialistischen Bündnis EU ihren vorläufigen Höhepunkt. Vor dem Hintergrund sich zuspitzender Krisen, des Aufstiegs Chinas als imperialistischer Weltmacht, des protektionistischen Rückzugs der USA aus dem andauernden Ukrainekrieg und der stetig sinkenden Wachstumsperspektiven, traf sich nun die politische Führung beider Staaten, vertreten durch Friedrich Merz und Keir Starmer, in London, um mit einem „britisch-deutschen Freundschaftsvertrag“ Strategien für eine Neuausrichtung zu entwickeln.

Militärische Kooperation gegen Russland

Hauptinhalt der nach dem Unterzeichnungsort auch „Kensington-Vertrag“ genannten Übereinkunft ist zweifellos eine engere militärische Kooperation im Kontext des Krieges mit Russland. Eine halbe Million britischer Arbeiter soll in die Rüstungsproduktion eingegliedert werden und den weiteren Ausbau der Kriegswirtschaft vorantreiben. Wenig verwunderlich ist also, dass die auf der Website der Bundesregierung zu findende anschließende Pressekonferenz im Werk Stevenage des Monopolkonzerns Airbus abgehalten wurde, dessen Produktion von Weltraum-Infrastruktur für die deutsch-britischen Kriegsvorhaben Merz ein besonderes Lob wert war.

Starmer betonte zudem, auch die rechtsradikale Clique in Kiew als treuen Verbündeten im Krieg mit dem Rivalen Russland nicht im Stich zu lassen, weswegen „so schnell wie möglich das beste Gerät“ in die Ukraine geliefert werden müsse, um den Krieg und damit das Sterben hunderttausender russischer und ukrainischer Arbeiter aufrechtzuerhalten. „Frieden durch Stärke“ nennt er diese größte Aufrüstungskampagne seit dem Zweiten Weltkrieg, mit der er den Rivalen Russland zu Waffenstillstandsverhandlungen ohne Bedingungen zwingen will. Dabei zeigen Merz und Starmer sich unbeeindruckt davon, dass erklärtes Ziel Kiews die Rückeroberung der Krim und Bestrafung dort angesiedelter russischer Familien und ukrainischer Kollaborateure ist – ein Vorhaben, das gegenüber einer Nuklearmacht durchgesetzt werden soll.

Belastung der Arbeiterklasse

Dieses Unterfangen, sich als Vorreiter des allgemeinen Kriegskurses gegen Russland an die Spitze der NATO und „Europas“ zu setzen, ist zwangsläufig mit hohen Kosten verbunden. Dafür sollen die „Volkswirtschaften angespornt“, die Verteidigungsausgaben erhöht und ihre Effizienz gesteigert werden. Finanzieren ließe sich das auch durch Erhöhen der eben erst weiter gesenkten Unternehmenssteuer, wie ein Journalist in der anschließenden Pressekonferenz einwandte, was Merz als Vertreter des deutschen Kapitals natürlich scharf zurückweisen musste mit der Beteuerung, ein nicht näher genannter Teil der Aufrüstung müsste durch weitere Verschuldung ermöglicht werden.

Was es mit dem klaffenden Loch in ihren Finanzierungsplänen auf sich hat, ließen er und Starmer offen; zwangsläufig müssen auch diese Ausgaben also durch Einsparungen im Sozialstaat, Kürzungen bei öffentlichen Leistungen und weitere Belastungen der Arbeiterklasse gegenfinanziert werden.

Repression der Migration

Ein weiterer zentraler Punkt des Kensington-Vertrags ist die Bekämpfung von „Schleuserbanden“ und „illegaler Zuwanderung“ nach Deutschland und Großbritannien. Das sei aber nur unter besonderer Rücksicht auf den Schengen-Raum als Binnenmarkt der europäischen Kapitalfraktionen möglich. Wer unter diesen „illegalen Zuwanderern“ zu verstehen ist, ist im Kontext dieser Priorisierung von Kapitalinteressen in der Migrationspolitik logisch: Menschen, denen die Flucht nach Zentraleuropa und insbesondere in seine Kernstaaten wie Deutschland und Großbritannien wegen ihres Alters, ihrer physischen und psychischen Gesundheit – kurz, wegen mangelnder Verwertbarkeit als Lohnarbeiter im Dienst europäischer Kapitalisten – präventiv verwehrt wird.

Die Betonung, „in jeder Phase der Reise von Flüchtlingen anzusetzen“, schließt dabei auch das Entern von Booten, Wegsperren von Familien in Internierungslagern oder das Aussetzen in der Wüste ein, wie es seitens der EU schon seit Jahren gängige Praxis ist. Mit diesem Vertrag wird also die Rationalisierung der durch eigene imperialistische Kriege, Erpressung und Klimazerstörung überhaupt erst ausgelösten massenhaften globalen Fluchtbewegungen weiter fortgeführt – zu Lasten zuwandernder und, durch deren Marginalisierung auf dem Arbeitsmarkt, überhaupt aller Arbeiter.

Kapitalinteressen

Letzter wichtiger Punkt des Vertrags der Achse London-Berlin ist eine allgemeine Stärkung „der Wirtschaft“, also des nationalen Kapitals. So soll neben weiteren Kooperationen zur Stärkung des beiderorts stagnierenden Industriekapitals ein „neues deutsch-britisches Wirtschaftsforum für mehr Investitionen“ geschaffen werden, das mit 200 Millionen Pfund üppig ausgestattet werden soll.

Um die angestrebten Ziele baldmöglichst umzusetzen, sollen deutsche und britische Arbeiterkinder in Zukunft noch schneller und effektiver zwischen den beiden Arbeitsmärkten an bedürftige Kapitalisten vermittelt werden. Konkret bedeutet das vereinfachtes Reisen für Jugendliche, wovon Merz sich einen Zuwachs der Ausbildungszahlen in deutschen und britischen Betrieben erhofft. Dass im Vordergrund Kapitalinteressen stehen und nicht etwa das Streben nach höherer Lebensqualität für junge Arbeiter, gab er in der Pressekonferenz zu wie eine Selbstverständlichkeit.

Angriff auf die Arbeiterklasse

Der Kensington-Vertrag steht im Kontext der anhaltenden Krise des deutschen und britischen Monopolkapitals. Die Herrschenden in Berlin und London stehen unter Zugzwang, ihre Stellung auf dem Weltmarkt zu behaupten. Konkret bedeutet das: Erkämpfen neuer Märkte im Ausland, Aufbau einer Kriegswirtschaft zur Niederschlagung der Konkurrenz und zur Sicherung des eigenen Profits durch die weltweite Aufrüstung, Rationalisierung der daraus folgenden Fluchtbewegungen nach Verwertbarkeit sowie die Beschaffung weiterer Gelder für das Bestehen nationaler Konzerne und Banken.

Den Preis dieser reaktionären Vorhaben, in die sich der Kensington-Vertrag einreiht, soll in seiner Gänze die Arbeiterklasse tragen – durch Sozialabbau und Schwächung ihrer Position gegenüber dem Kapital bis hin zum massenhaften Sterben im bevorstehenden großen Krieg gegen Russland. Damit ist der „deutsch-britische Freundschaftsvertrag“ keiner zwischen den Arbeiterklassen beider Staaten, sondern ein Schulterschluss zwischen ihren Ausbeutern, und stellt als solches einen Frontalangriff auf die Werktätigen Deutschlands, Großbritanniens und überhaupt aller Länder dar.

Die Haltung von Kommunisten kann also nur sein, den Charakter dieses Vertrags offenzulegen und die Arbeiterklasse zum gemeinsamen Widerstand gegen den imperialistischen Kurs, der auf Krieg, Repression und Verelendung hinausläuft, zu mobilisieren.

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